Appeaser und Anti-Appeaser: Zum aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion

thanepower

Aktives Mitglied
. Bei Interesse könnte man gern Gilbert/Gott als Aufhänger für ein eigenes Thema nehmen: "britische Appeasement-Kontroverse/revisionism-Streit".

Ein gutes hat ja der kleine Diskurs: Es ist auch inzwischen reichlich neuere wissenschaftliche Literatur genannt worden, die den Zugang zum Thema wirklich anregen kann.

Appeasement-Politik ? Wikipedia

Dieses Thema ist vermutlich eines der am emotionalsten und kontroversesten diskutieren historischen Themen im angloamerikanischen Raum für den Zeitraum der neueren Geschichte.

Die Fronten sind nicht zuletzt deswegen so verhärtet, da die Argumentation der "Anti-Appeaser" darauf hinausläuft, dass der WW2 hätte verhindert werden können, sofern der Westen im Jahr 1938 hart geblieben wäre, so beispielsweise Churchill in seinem harten Urteil, der sich auf Keitel beruft.

Die Last der "historischen Schuld", aufgrund der Fehleinschätzung Hitlers durch Chamberlain, stellt die Befürworter des Appeasements vor eine schwierige Aufgabe, die durchaus vorhandene Rationalität der Politik des Appeasements zu argumentieren.

Vor diesem Hintergrund wäre es sicherlich spannend, der Anregung von Silesia zu folgen, und das Thema kontrovers zu diskutieren.
 
Vielen Dank!

Ich würde gern an den Anfang ungeordnet ein paar Fragen stellen:

1. was sind die Wurzeln der positiven Aufladung des Appeasement bis München? Wie und wann erfolgte die negative Aufladung des Begriffs?
2. Beginn des britischen Streits über die Rolle des Appeasement noch während des Krieges?
3. die Rolle der öffentlichen Meinung?
4. die Bedeutung des Aspekte Aufrüstung (insbes. Royal Navy und Royal Air Force), Ökonomie (dt.-brit. Wirtschaftsbeziehungen) und Politik (Streit um Alternativen, zB Vansittart) - ist der Begriff hier aufsplittbar bzw. wurde Appeasement in diesen Bereichen unterschiedlich bewertet?
5. Auswirkungen der appeasement-Debatte: vorgezogene Öffnung der britischen Archive durch Verkürzung der Verschlußfristen von 50 auf 30 Jahre?
6. Auswirkung der angelsächischen Appeasement-Debatte auf die deutsche Literatur?

stopp... =) Vielleicht noch dieses:

Sidney Aster: Appeasement - Before and After Revisionism
Diplomacy & Statecraft, Volume 19, Issue 3 September 2008 , pages 443 - 480
http://www.informaworld.com/smpp/ftinterface~content=a902387702~fulltext=713240930~frm=content
 
1. Wurzeln Aufladung des Appeasement
2. Beginn des britischen Streits

zu zwei Punkten ein thesenartiges Vorverständnis, ohne tiefer in die Literatur einzusteigen.

zu 1. Die Ermattung der Nationen als Ergebnis des WW1, wirtschaftlich und demographisch, hat im Rahmen eines rationalen Kalküls "Appeasement" als Realpolik attraktiv gemacht. Krieg war nicht mehr finanzierbar!

Und das DR war via VV abgerüstet und Frankreich passte auf. Wozu also noch teures Militär?

Diese Haltung wurde durch die wirtschafltiche Krise noch verstärkt und führte zu den Abrüstungsinitiativen der 20er und 30er Jahre.

Sehr wichtig ist es, den politischen Niedergang von GB als Weltmacht als Folge des WW1 als Ausgangspunkt zu betrachten. Mehr als die Probleme auf dem Kontinent, beschäftigten GB seine globalen Probleme und betrafen den erneuten Versuch, seine Rolle als Weltmacht zu stabilisieren.

Als stabilisierender Faktor wurd die Etablierung des "Two Power Standard" betrachtet. In den dreißiger Jahren wurde durch die Marine die entsprechenden Planungen initiert, um die RN wieder in die Lage zu versetzte, sowohl in Fernost, dem Mittelmeer und im Atlantik potentiellen Gegnern gewachsen zu sein.

Eine zentrale Rolle spielte der damalige 1. Seelord Chatfield bei der Formulierung der maritimen Strategie von GB und der Dominions.

Vor diesem Hintergrund ist auch das Flottenabkommen mit Deutschland zu interpretieren. GB wollte sich Zeit erkaufen, um seine globale Position zu stabilisieren.

Diese Sichtweise führte dazu, dass die Problem in Europa als nicht relevant für die globale Position von GB angesehen wurden.

Die führenden Militärs, Marine und Heer, sprachen sich dementsprechend auch gegen eine Parteinahme auf dem Kontinente aus, da das Projekt "Weltmacht" dadurch gefährdet wurde. Eine Haltung, die sich direkt gegen die Tschechei auswirkte.

zu 2. Der Konflikt über die richtige Strategie war bereits 1937 voll entbrannt und vor allem in der Person von Vansittart und teilweise auch von Eden und Churchill deutlich präsent.

Im Laufe dieser Diskussion ergaben sich jedoch auch Konvertierungen. So äußert Cardogan nach der Besetzung von Prag, dass "Van" (sittart) in seiner Einschätzung der hitlerschen Politik Recht behalten hat.
 
Zuletzt bearbeitet:
Großbritannien hat von Anfang an eine Gefahr darin gesehe, dass Deutschland im Versailler Vertrag zu hart behandelt wird. Vor allem durch die Wegnahme der Gebiete, wie es aus dem Memorandum von Lloyd George deutlich wir. Man hatte dadurch '38 zum Teil Verständnis für die deutschen Forderungen.

Ein hartes Vorgehen gegen Deutschland hätte den Krieg sicher nicht verhindert. Hitler wollte den Krieg und er war nun mal Diktator.
Japan war ja auch schon am Agieren. Die Sowjetunion versuchte unabhängig davon, Finnland zu okkupieren und '39 besetzte Deutschland (auch wenn von ihm die Aggression ausging) Polen nicht ganz allein.
 
Großbritannien hat von Anfang an eine Gefahr darin gesehe, dass Deutschland im Versailler Vertrag zu hart behandelt wird. .

Das ist sicher das Hintergrundrauschen für die jeweiligen Handlungsschritte.

Allerdings gibt es Stimmen in der Literatur, die - ohne Aspekte der Kontinuität zu verneinen - im Ansatz von Chamberlain 1937 eine neue Qualität sehen.

Vgl. dazu die Zusammenfassung und Meinung bei Henke: England in Hitlers politischem Kalkül.

Siehe oben auch den Hinweis von @thanepower zum britischen Streit und zur Gewichtung.
 
Der Ausgangspunkt für die Diskussion über die Ziele und die Instrumente des Appeasements war die Einschätzung Churchills, der WW2 hätte verhindert werde können, sofern die Besetzung des entmilitarisierten Rheinlandes durch Hitler von den Westallierten sanktioniert worden wäre.

Bei der Frage nach den Ursachen des Appeasements stößt man auf eine Fülle unterschiedlicher Erklärungssansätze, die entweder pro-oder contra-Argumente präsentieren. Der Beitrag von Aster (auf den Silesia per Link hingewiesen hat) gibt einen sehr guten Überblick über die historische Sichtweise und die Anwendung im Rahmen der Außenpolitik in der post WW2-Phase.

Als Erklärung für die Attraktivität der Politik des Appeasements werden eine Reihe von historischen Merkmalen des Empire im post WW1 Umfeld angeführt.

Neben der Person Chamberlains, die durchaus mit einem gewissen missionarischen Eifer und teilweise auch mit unfairen Mitteln im öffentlichen Streit der Meinungen (unterstützt durch eine pro-Appeasementfreundliche Presse bzw. veröffentliche Meinung), so einzelne Autoren, sind relevante Interessen der englischen Wirtschaft anzuführen.

Diese Interesen waren mit den strukturellen Umwälzungen als Folge des WW1 konfrontiert und mußten die strukturellen Veränderungen im wirtschaftlichen Gefüge Rechnung tragen. GB hätte vermutlich bereits Mitte der dreißiger Jahre eine erhöhte Rüstung finanzieren können, aber man übersieht dabei, dass die strategischen Konzepte duchaus unterschiedlich waren. Chamberlain präferierte eine starke strategische Bomberstreitmacht, die jedoch in der Finanzierung in einer gewissen Rivalität zur Flottenrüstung stand.

Ein Aspekt, auf den Aster in dem Review der einzelnen Beitrage nicht angemessen eingeht, ist die Rolle der Nationalkonservativen im 3. Reich, symbolisiert durch die Person von Schacht.

Wird die Politik von Chamberlain teilweise als Ablenken von Hitlers politischen Ambitionen nach Osten interpretiert und steht somit in einer direkten Beziehung zur antikommunistischen Haltung Chamberlains, dann bekommt diese Haltung ein besonders Gewicht, sofern man die Sympathie eines Teils des englischen politischen Establishments für Teile der politischen Elite des 3. Reichs übersicht (vgl. z.B. Kershaw: Making Friends with Hitler).

Insbesondere die Ausrichtung auf das ökonomische Appeasement muss als Ansatz gesehen werden, die wirtschaftlichen Verbindungen zwischen GB und dem 3. Reich so zu stabilisieren, dass aufgrund ökonomischer Armut Deutschland nicht zu einem Krieg gezwungen wäre (wie es ansatzweise auch bei @Rurik angedeutet wird).

Die englische Intention zielte auf eine mehr oder minder revisionistische Position ab, die in der Person von Schacht einen rationalen Adressaten gefunden hätte.

Der Fehler von Chamberlain war eine nicht angemessene Wahrnehmung der ideologischen außenpolitischen Dimensionen von Hitler. Möglichweise wurde Chamberlain bestärkt in der Fehlwahrnehmung durch Henderson, der als Botschafter in Berlin entsprechende Signale an Chamberlain offensichtlich gesendet hatte.

Vor diesem Hintergrund ist vermutlich Watt (zitiert nach Aster) zuzustimmen, dass Chamberlain der Architekt von München war, während Hitler seine Politik auf eine kriegerische Expansion ausrichtete.

Es wäre somit egal gewesen, ob Chamberlain ihn im Rahmen von München Appeased hätte oder hart geblieben wäre. Hitler hätte seine Kriegsziele in jedem Fall verfolgt. Ein Argument, das auch für die Beurteilung der Rheinlandbesetzung gilt.

Lediglich der Fahrplan von Hitler wäre vermutlich stärker an der ursprünglichen Zeitplanung orientiert gewesen, die den Konflikt mit den Westmächten eher auf 42/43 gelegt hatte, wäre er durch militärische Maßnahmen der Westalliierten blockiert worden.

Das zentrale Problem der Anti-Appeaser ist die mangelnde Glaubwürdigkeit alternativer Strategien. Von den britischen Liberalen wurde im wesentlichen eine außenpolitische Konzeption verfolgt, die am ehesten in Übereinstimmung mit den Vorstellungen einer kollektiven Sicherheitslösung von Litvinov standen.

Dass dieses Konzept der kollektiven Sicherheit nach 1937 , auch in der Gestalt der vierer Konferenz (1939), mit Polen nicht machbar war, hat die Ablehnung durch Beck deutlich gemacht.
 
Zuletzt bearbeitet:
In seinem Beitrag zum "Forschungsstand und Literatur zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs" in: Sommer 1939. Benz & Graml Hg, 1979, S. 344 referiert zustimmend Niedhart, der den aktuellen Stand dahingehend zusammenfaßt: "Zur Politik der Friedensstabilisierung, dem Ziel von "Appeasement", gab es für Großbritanien im Grunde "keine Alternative", "wollte es seinen Machtverlust im internationalen Vergleich nicht beschleunigen". (S. 344)

Die Appeasementstrategie erwies sich ab 37 zunehmend als keine tragfähige Basis, mit der Chamberlain Hitler, auch via Flottenabkommen, in das Korsett eines formalisierten Revisionsimus drängen konnte.

In der Folge erwies sich die internationale politische Situation nach 37 als zunehmend kompliziert und es drohte für GB ein Mehrfrontenkrieg in Zentraleuropa, im Mittelmeer und in Fernost.

Dieser veränderte Horizont ist die Grundlage für eine Doppelstrategy - dual policy -, die neben den Versuch einer Verhandlungslösung ebenfalls die Aufrüstung betrieb (vgl. z.B. Gibbs: Grand Strategy, 1976, S.275ff) .

Dass die Aufrüstung, trotz eines hohen Anteils an strategischen Bombern, kein Instrument der Abschreckung war und auch nicht geeignet war für eine präventive Kriegsführung, reduzierte ihr Abschreckungspotential für Hitler deutlich.

Dennoch wird deutlich, dass die "Guilty Man" Hypothese nicht haltbar ist, sofern man die Veränderung der Militärbudgets der Länder betrachtet.

...........3. Reich........ Great Britan
........in % zum GNP ...in % zum Natl. Inc.
1936..... 13.................... 5
1937..... 13.................... 7
1938..... 17.................... 8
1939..... 23................... 22
1940..... 38................... 53
Quelle: Carrol: Design for Total War1968, S. 184

Die Zahlen belegen, dass es durchaus einen gewissen Verzögerungseffekt in der Reaktion der GB-Aufrüstung, der jedoch auch zu erklären ist, dass Hitler erst ab ca. 1937 seine aggressiven außenpolitische Ziele deutlicher kommunizierte. Vor allem kommt in dem sprunghaften Anstieg die völlig veränderte Beurteilung von Hitler nach dem Bruch des Abkommens von München zum Ausdruck.

Ab 1939 erfolgte dann die deutliche Reaktion noch unter Chamberlain und GB zog in etwa gleich bei den Rüstungsausgaben mit dem 3. Reich.

Bei der Bewertung der damaligen Situation und der Formulierung der "Guilty Man" These und dem aktiven, polemischen Fortschreiben durch Churchill, der den WW2 als den "überflüssigsten Krieg" bezeichnet haben wollte, kann die Rolle der USA schwerlich ignoriert werden.

Wirft man unter anderen Vorzeichen erneut die Frage auf, ob die "Guilty Man" Hypothese überhaupt eine Berechtigung hat, dann trifft man sehr schnell auf die herausragende negative Rolle, die die "Isolationisten" im amerikanischen Congress gespielt haben.

Ein wichtiger Vertreter dieser Gruppierung war der damalige Botschafter Kennedy, der Vater von JFK.

Vor allem auch durch den Einfluss dieser Gruppierung bzw. ihr Verhalten im Rahmen der Gesetzgebung wurde Roosevelt durch die Briten als nicht handlungsfähig wahrgenommen. Die Anstrenungen von FDR zu einer kooperativen Partnerschaft mit GB zu kommen, wurden durch die Gesetzgebung des Congress, die auf eine nicht-intervenierende Neutralität hinauslaufen sollte, konterkariert (Harrison: The United States and Great Britain; in: Appeasement in Europe, Schmitz & Challener Eds., 1990, S. 103ff).

Daneben verhinderten persönliche Animositäten zwischen FDR und Chamberlain, die noch aus seiner Zeit als Schatzkanzler herrührten und das Thema Kriegschulden berührten, dass es zur Kooperation bzw. zur "Eindämmung" der totalitären Staaten kam.

Die Folge waren völlig verschiedene Strategien, die von FDR und Chamberlain im direkten Vorfeld des WW2 in Bezug vor allem auf das 3. Reich und Italien und weniger auf Japan formuliert wurden.

In der Konsequenz zeigte sich, dass durch diese gegenseitige Blockierung der beiden westlichen Führungsmächte, die totalitären Staaten im Sinne schneller und konsequenter Entscheidungen als besonders attraktiv wahrgenommen worden sind. Zu Unrecht wie spätere Analysen zum Rüstungschaos in den Jahren 1938 ff gezeigt haben (beispielsweise bei Tooze: Ökonomie der Zerstörung).
 
Zuletzt bearbeitet:
@thanepower:

In den letzten beiden Beiträgen hast Du die außenpolitischen Optionen und Motive, verbunden mit Hinweis auf die USA, mE hervorragend zusammengefaßt. Da kann ich nichts hinzufügen, auch nichts diskutieren, weswegen ich noch einen anderen Aspekt anführen möchte: die Wirtschafts- und Innenpolitik, beides miteinander verknüpft.

Wenn man sich die deutsch-britischen Wirtschaftsbeziehungen anschaut, dann wird deutlich: das durch die Weltwirtschaftskrise ebenfalls hart getroffene Großbritannien war gerade in den kriselnden Branchen durchgehend auf den Wirtschaftsaustausch mit dem Deutschen Reich angewiesen, und dahinter standen wiederum Wählergruppen. Das haben verschiedene Betrachtungen zum economic appeasement offengelegt. Gleiches betrifft Wirtschaftsinteressen der USA.

Hier lag in dem häufig nur politisch/militärisch betrachteten Komplex eine Achillesferse der Demokratien in der Konfrontation mit Hitler, deren Bedeutung wegen der innenpolitischen Konsequenzen nicht unter den Tisch fallen sollte. Man war auf einen Rest normaler Beziehungen in diesem Bereich angewiesen, bzw. es gab auch innenpolitische Skrupel bei der totalen Konfrontation. Bei der Bewertung dieser Skrupel kann man natürlich nicht von der weiteren Eskalation des Weltkrieges in nachträglicher Sicht ausgehen. Sie sind vielmehr nachvollziehbar.

Das wäre für mich ein weiterer Aspekt, die "guilty-men"-Anschuldigungen nicht gelten zu lassen. Den Zeitgewinn der militärischen Rüstung hast Du schon angesprochen.

Schröder, Hans-Jürgen: Economic Appeasement. Zur britischen und amerikanischen Deutschlandpolitik vor dem Zweiten
Weltkrieg, VfZ 1982, 82-97
Wendt, Bernd Jürgen: Economic Appeasement - Handel und Finanz in der britischen Deutschland-Politik 1933-1939

P.S. die Rüstung strategischer Bomber war ein gängiges Konzept. Tatsächlich war die Reihenfolge (finanziell, kapazitativ) bis 1939 in Großbritannien jedoch auf Jäger und mittlere Bomber ausgerichtet, der empfundenen Eigenbedrohung geschuldet. Es gab zwar Planungen zum Aufbau der strategischen Bomberflotte, die verschiedenen Luftrüstungspläne hatten jedoch hier zunächst kein Übergewicht, jedenfalls bis kurz vor den Kriegsausbruch, festgeschrieben. Aber das ist hier OT.
 
3. die Rolle der öffentlichen Meinung?

Die Stimmung gegenüber dem Appeasement im UK war differenziert. Es waren durchaus Sympathien vorhanden für das Konzept in der Bevölkerung und man begriff die politische Zielsetzung des Appeasements.

Allerdings kann man nicht von einer Mehrheit sprechen, die hinter dieser Politik stand. Sicherlich auch einer der Gründe, warum Chamberlain vorgehalten wird, sehr einseitig die Presse in seinem Sinne versucht haben zu manipulieren.

Public Opinion and Appeasement in 1938

Insgesamt ist auffallend wie vielfältig auf der anderen Seite die politische Diskussion auch auf der informellen Seite war. Sehr anschaulich wird es an der Bedeutung des informellen politischen Kreises der "All Souls", in dem sehr unterschiedlichen politische Sichtweisen aufeinanderprallten, aber auch sehr pragmatische Vorstellungen zur englischen Außenpolitik in Bezug auf das 3. Reich entwickelt worden sind

http://www.h-net.org/reviews/showpdf.php?id=12788

http://books.google.de/books?id=rYC2iXiTyn0C&pg=PT1&dq=aster,+all+souls&hl=de&ei=eajKTKjKFIv5sgbU2dSnAQ&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=1&ved=0CDEQ6AEwAA#v=onepage&q=aster%2C%20all%20souls&f=false
 
Zuletzt bearbeitet:
Zwei Aspekte erscheinen mir noch wichtig, um die Politik Chamberlains im Rahmen von München noch zu erklären.

Der erste Punkt der Vorspiels, der die Ergebnisse von München 1938 plausibler aus der Sicht von Chamberlain erscheinen läßt, geht auf ein Ereignis im Dezember 1936 zurück. Der tschechoslowakische Botschaften in Paris, Osusky, teilte dem fränzösichen Außenminister Delbos mit, das er und Präsident Benes durchaus die Probleme der Westmächte erkennen.

Sollte es hart auf hart kommen, wäre die "Tschechoslowakei" bereit, die notwendigen Opfer zu erbringen, auch wenn dieses gegen ihre eigenen Interessen verstoßen würden. (Weinberg: Hitler`s Foreign Policy. S. 348).

Dieser Punkt macht m.E. deutlich, dass Chamberlain durchaus ernsthaft davon ausgehen konnte, dass das Sudetenproblem erfolgreich am Verhandlungstisch gelöst werden konnte und somit seine Sichtweise durchaus realitätsbezogen war.

Der zweite Aspekt betrifft die unterschiedliche Sichtweise, die die britische Regierung im Sommer 1937 und der französische Botschafter in Prag Lacroix hatten. Vor allem die britische Regierung ermunterte die Regierung in Prag direkte Verhandlungen mit dem Führer der Sudetendeutschen Henlein aufzunehmen. Im Gegensatz dazu bestärkte Lacroix die Tschechen in ihrer harten Haltung, keine direkten Verhandlungen über eine stärkere politische Partizipation der Sudetendeutschen im Prager Parlament aufzunehmen.

Erst Ende 37 schwenkte die französische Linie auf die englischen Vorstellungen ein, aber zu diesem Zeitpunkt war das Fenster für erfolgreiche direkte Gespräche bereits geschlossen.

Auch in diesem Fall sieht Weinberg (ebd, S. 534ff) einen direkten Einfluss auf den Ablauf der Gespräche in München. Die Nichtgesprächsbereitschaft der tschechoslowakischen Regierung unter Benes wird aus britischer Sicht im Jahr 38 als ein Grund angesehen, warum das Sudetenproblem eskalierte und zu einem internationalen Problem wurde.

Vor diesem Hintergrund definierte sich Chamberlain, subjektiv zu Recht meines Erachtens, eher "als Retter in der Not", der die Probleme friedlich lösen wollte, die die anderen durch Vermeidung von Verhandlungen haben eskalieren lassen.
 
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Appeasement-Politik ? Wikipedia

Dieses Thema ist vermutlich eines der am emotionalsten und kontroversesten diskutieren historischen Themen im angloamerikanischen Raum für den Zeitraum der neueren Geschichte.

Die Fronten sind nicht zuletzt deswegen so verhärtet, da die Argumentation der "Anti-Appeaser" darauf hinausläuft, dass der WW2 hätte verhindert werden können, sofern der Westen im Jahr 1938 hart geblieben wäre, so beispielsweise Churchill in seinem harten Urteil, der sich auf Keitel beruft.

Die Last der "historischen Schuld", aufgrund der Fehleinschätzung Hitlers durch Chamberlain, stellt die Befürworter des Appeasements vor eine schwierige Aufgabe, die durchaus vorhandene Rationalität der Politik des Appeasements zu argumentieren.

Vor diesem Hintergrund wäre es sicherlich spannend, der Anregung von Silesia zu folgen, und das Thema kontrovers zu diskutieren.

Thanepower,
ich nehme an, das 'harte Urteil' enstammt Churchills Buch "Der Zweite Weltkrieg".

So wie ich es verstehe, war das Vorgehen Chamberlains (den Churchill im genannten Buch durchaus als harten und konsequenten Charakter beschreibt) rational, während sich die Einschätzungen der Rationalität des Gegenübers unterschieden. In seiner Rede Britain Must Arm, America Must Arm-1938 : Winston Churchill : Free Download & Streaming : Internet Archive die er als Oppositionspolitiker kurz nach der Münchner Konferenz hält, hebt er die grundsätzliche Irrationalität des Naziregimes hervor und verallgemeinert dessen Wesen auf menschenverachtende Diktaturen allgemein,
denen er abspricht, im europäischen Umfeld von Freiheit, ohne Aggression gegen die Nachbarn existieren zu können.

Chamberlain aber will darauf nicht das Empire wetten.
Denn er geht wohl, im Nachhinein zutreffend, davon aus, dass ein erneuter großer Krieg zum Zusammenbruch der Weltmachtstellung Britanniens führen muss.
Schließlich sind ja die Wunden der kurz vorher stattgefunden Katastrophe wirtschaftlich nicht verheilt.
Nur zwei Jahre nach dem WW2 verliert denn auch Britannien seine wichtigste Kolonie.

Man kann nun darüber spekulieren, welche Position Churchill in Entscheidungssituation bezogen hätte.
In jedem Falle aber war es wohl eine unterschiedliche Wette auf eine unsichere Zukunft.
Die Verhärtung der "Fronten" in der geschichtlichen Betrachtung des Vorgangs entspringen, so vermute ich, der gebliebenen Unsicherheit über den Umgang mit, und der Beurteilung von aktuellen Erscheinungen, die man als vergleichbar nehmen kann, oder auch nicht.
 
Hatten Großbritannien und Frankreich überhaupt eine Alternative oder hatten sie sich nicht vielmehr in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg selbst der Mittel für ein militärisches Eingreifen beraubt?

In Großbritannien hatte man sich mit der unglücklichen Zehn-Jahres-Regel, die Churchill im Jahr 1928 zu einer ständigen Einrichtung gemacht hatte, selber Fußfesseln angelegt.

Frankreich hatte Unsummen in Beton gegossen - Stichwort Maginotlinie. Die Vormarschgeschwindigkeit eines Bunkers ist aber eher gering.

Also konnte man doch nur noch verhandeln und hoffen - anstatt im März 1935 (Gründung der Luftwaffe) die Einhaltung der Versailler Vertrages durchzusetzen!
 
Mangelnde Möglichkeiten in der Richtung sind sicher ein Faktor gewesen.

Soziopolitisch versucht das offenbar Kent zu klären, in einer Studie "Aftershocks - Politics and Tauma in Britain 1918-1931". Ich habe das aber noch nicht gelesen.

Möglicherweise ist es ein weiterer Ansatz, das Phänomen "Appeasement" zu erklären.
 
Frankreich hatte Unsummen in Beton gegossen - Stichwort Maginotlinie. Die Vormarschgeschwindigkeit eines Bunkers ist aber eher gering.

In den 30er Jahren ist vor allem in Frankreich der Niedergang der Republik zu sehen. Die Volksfront war innenpolitisch auf Dauer einfach undenkbar. Immenses Geld wird für gesetzliche Festlegungen ausgegeben. Ein stetiger Rückschritt der eigenen Ziele ist zu sehen, was wiederum durch die Instabilität der Regierung(en) vorangetreiben wird. Hauptsächlich herrscht in Frankreich eine hohe Unzufriedenheit, da z.B. außenpolitisch zu defensiv vorgegangen wird und die französische Bevölkerung nicht kriegswillig war. Es herrschte eher Pazifismus.

Hier könnte man noch auf die Motive des Defensivverhaltens Frankreichs genauer eingehen.

Die Motive des Defensivverhaltens Frankreich wären, wie du schon genannt hattest, die

  • Maginotlinie
  • Die Unerfahrenheit - Man hatte kaum bis nie Erfolge mit der offensiven Kriegsausrichtung gemacht, sodass eher auf Verlustminimierung gesetzt wurde
  • Die Überbetonung der deutschen Stärke, was wiederum auch mit den unzureichenden Rüstungsanstrengungen zu tun hatte und dementsprechend der mangelnden Unterstützung des Westens
Die Wirkungen des Defensivverhaltens kann an den darauffolgenden Reaktionen und Geschehnisse gut verfolgt werden, diese waren

  • Die Kriegserklärung von Frankreich an Deutschland
  • Soldaten werden an der Maginotlinie stationiert
  • Weitere Probleme, die durch die Stationierung der Soldaten entstehen, wie z.B. das einige in den Kasernen bleiben statt auf dem Feld stationiert zu werden
  • Soldaten werden den Familien und der Volkswirtschaft entzogen
Die Frage des Defensivverhaltens Frankreichs ist - meiner Meinung nach - vielseitig zu beantworten. Es war besonders eine Frage der Mentalität.
 
Beim Thema Australien in anderem Zusammenhang stellte sich mir die Frage, welchen Einfluss eigentlich die Situation im Commonwealth auf die britische Positionierung zum Appeasement hatte.

Gab es hier Rücksichtnahmen, die wiederum in die britische Politik zu den territorialen Aggressionen des Dritten Reiches im Vorfeld des Kriegsausbruches einflossen?

Mir sind nur Abstimmungen und Rücksichtnahmen auf Australien bekannt, aber auch Kanada, die Situation in Indien etc. dürfte eine Rolle gespielt haben.
 
Meinst Du Rücksichtnahme auf Stimmen aus diesen Ländern oder aufgrund von Ressourcen, die lieber in die von Dir aufgezählten Länder statt in Opposition zu Hitler gesteckt werden sollten?
 
Durchaus umfassend war das gemeint, politische Stimmung ebenso wie Ressourcen.

These: Großbritannien war nicht in der Lage, einen Konfrontationskurs (alternativ zum Appeasement) allein - ohne Rücksicht auf die Situation im Commonwealth - zu bestimmen, durchzuhalten oder glaubwürdig zu vertreten. Nicht politisch, nicht nach den ökonomisch-finanziellen, personellen oder rohstoffbezogenen Ressourcen.

Die Frage nach der Lage in Commonwealth bezieht sich also auf die Voraussetzungen, überhaupt theoretisch eine andere Linie als Appeasement zu fahren. War Commonwealth also ein Faktor oder war er es nicht?
 
Die Appeasement-Politik beschränkte sich nicht nur auf Deutschland. Die Beschwichtigunspolitik hatte weltpolitischen Zuschnitt und bestimmte die gesamte britische Politik zwischen den Weltkriegen. Es herrschte aber in der britischen Führung selbst an vielen Differenzen über die britischen Interessen und speziell über die Frage, wann diese in Gefahr gewesen wäre.

Daher wäre eine spannende Frage: Wann hätte die britische Regierung - im Hinblick auf die Commonwealth - ihre eigene Sicherheit bedroht gesehen?

Würde in diesem Fall gerne wieder auf die Literatur von Gottfried Niedhart zurückgreifen, der die Beziehung zwischen der britischen Regierung und der Dominions des Commonwealth - in Bezug auf die Appeasement-Politik - so beschreibt:

Gottfried Niedhart schrieb:
Die britische Politik hatte krisenhafte Veränderungen im Weltreich und Commonwealth in Rechnung zu stellen, die sich in den außenpolitischen Entscheidungsprozessen des Londoner Regierungsapparates - oft unausgesprochen - niederschlugen. Der Zusammenhalt des Weltreichs durfte nicht durch außenpolitische Schritte gefährdet werden, die auf den Widerstand seiner Mitglieder stießen.

Grundsätzlich kann also deine These bestätigt werden!

Gottfried Niedhart schrieb:
Wollte Großbritannien als Wirtschaftsmacht und damit als Faktor der Weltpolitik weiter seine Rolle als Weltmacht spielen, war es gleichermaßen auf die Ressourcen des Empires und seine Absatzmärkte angewiesen. [...] Wenn die wirtschaftliche Verflechtung zwischen Mutterland und Commonwealth auch wechselseitig angelegt war, so engte doch der Standpunkt der Dominionregierungen im außenpolitischen Entscheidungsfall den Handlungsspielraum Whitehalls notwendigerweise ein. Die souveräne Führungsrolle Londons gegenüber den Dominions gehörte der Vergangenheit an. Seit dem ersten Weltkrieg war man zu außenpolitischen Rückversicherung verpflichtet, wenn auch die Dominions den Kurs der britischen Außenpolitik nicht durch direkte Intervention zu beeinflussen oder gar zu steuern versuchten.

Zusammengefasst: Die Dominions bestärkten letztendlich die Politik der britischen Regierungen in der Zwischenkriegszeit. Differenzen gab es nur, wenn die Interessenslage Großbritanniens mit denen der Dominions nicht übereinstimmte.

Gottfried Niedhart schrieb:
Als die Empire-Konferenz im Mai 1937 zu vermehrten Anstrengungen für ein "international appeasement" aufrief, bedeutete dies insbesondere, dass in Europa die Kriegsschwelle nicht bereits bei Revision der territorialen Bestimmungen des Versailler Vertrags erreicht sein durfte. Während der Sudetenkrise wollten die Dominions einen "höheren Preis für den Frieden" zahlen als die britische Regierung. Eine militärische Aktion hätte 1938 das Commonwealth einer Zerreißprobe unterworfen - ein Grund, warum Großbritannien den Ausgleich mit Deutschland auch auf Kosten der kleineren Staaten in Ostmitteleuropa suchte.
 
Was hätten die Briten anders machen können?

a) politisches Auftreten
b) militärische Präsenz
c) ?

Bei a) wäre eine glaubhafte Politik nötig gewesen. Aussagen der Regierung hätten also im Zweifelsfall mit Beschlüssen im Unterhaus, Absprachen mit dem Commonwealth, Vorgaben an die Streitkräfte usw. kompatibel sein müssen. Ich möchte eine solche Politik nicht ausschließen, aber es wäre schwer gewesen. Die Opposition hätte da auch leicht dazwischen grätschen können.

Bei b) ist der Aufwand deutlich größer. Die Stationierung auch nur einzelner Bataillone im Rheinland 1919 und in den Jahren danach war für die britische Regierung aus Kostengründen und wegen der Kriegsmüdigkeit ein großes Problem. Und welcher Umfang hätte in Böhmen oder Polen stationiert werden müssen um Hitler glaubhaft Entschlossenheit zu demonstrieren? Oder auch in der Heimat als "BEK in being"?

Die Garantieerklärung für Polen kam zu spät um den Krieg zu vermeiden, aber wäre eine für die Tschechen glaubhaft gewesen? Dabei darf nicht vergessen werde, das eine Stationierung vor Ort Provokationen ermöglicht hätte, also auch kein Selbstläufer gewesen wäre - trotz des Aufwands.

c) Vielleicht gibt es noch andere Möglichkeiten, aber die Wirtschaft wäre wohl z.B. nicht greifbar gewesen. Die Autarkiebemühungen Deutschlands und die britische Lage kurz nach der Weltwirtschaftskrise hätten Sanktionen erschwert.
 
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