Das Kaiserreich - modern oder autoritär?

Zum Rest später, hierzu vorab:

Die folgende Anmerkung (#77) – es wäre auch ohne die SPD gegangen – hat man der Ausgangsfrage nichts zu tun.
Die Verdrehung ist Dir etwas durchsichtig geraten, ich rufe gerne nochmal zur Erinnerung und zum Verständnis Deine These von der Macht des Reichstags auf:

Zitat @Admiral: "Faktisch bedeutete dies, dass gegen den Reichstag keine Politik mehr gemacht werden konnte."

Hier ist interessant, dass die Kriegserklärung ohne den Reichstag ausgesprochen wurde.

Zitat @Admiral: "Der Reichstag war verfassungsrechtlich nicht in die Kriegserklärung involviert. Gerade bei dieser Frage wird die offensichtlich von niemand mehr bestrittene Macht des Reichstags bzw. der Parteien deutlich."

Abgesehen von der mangelnden Logik in diesem Satz (Darlegung der Macht anhand einer Frage - Kriegserklärung -, in der nicht mitentschieden wurde) wird die These von der Macht des Reichstags iVm der Kriegserklärung durch Deine Hinweise/Verknüpfung auf die Kriegskredite begründet. Diese Schlußfolgerung ist Unsinn und steht konträr zu den Fakten. Zwei Bemerkungen dazu:

1. Das Problem der Kriegsfinanzierung ist in den Planungen ein "Problem" von wenigen Monaten (-> Schlieffenplan). Zu diesem Zweck ist ist Hilfe der Reichsbank der sogenannte "Silberschatz" kreiert worden, um die geschätzten 2-3 Milliarden für Mobilisierung und "kurzen Krieg" aufbringen zu können. Die Fondsdotierung wurde aufgrund der notorisch knappen Reichskasse bis Juli 1914 auf etwas über 200 Millionen gebracht. Hinzu kamen die Reichsbankreserven (die durch den Bankenansturm im Juli 1914 um 15- 20% gerupft wurden, aber für die ersten Monaten noch ausreichten). Dieses ist der finanzielle Aspekt der Aushebelung der politischen Opposition, auch soweit sie im Reichstag saß.

2. Zur militärisch-polizeilichen Variante habe ich mich oben geäußert. Bevor hier weiter (@admiral: "Notstandspläne") im Nebel gestochert oder munter bei Helfferich & Co. abgeschrieben wird, wären ein paar Darstellungen zm Thema empfehlenswert. Es geht hier um militärische Erlasse und Verfügungen zur Polizeigewalt.


Das ist reine Theorie und ist schlicht nicht der historische Geschehensablauf (was auch zugegeben wird). Der Kaiser hätte sicherlich das Kriegsrecht nach Art. 68 Reichsverfassung erklären können.

Das ist eine mittlerweile typische Ungenauigkeit.

1. Es geht hier nicht um "hätte können". Zunächst einmal wurde der "Kriegszustand" erklärt, zB Verfügung 31.7.1914 des Oberbefehlshabers in den Marken für Berlin und der Provinz Brandenburg. Zitat: "Durch Allerhöchste Verordnung ist für Berlin ... der Kriegszustand erklärt. ..."

2. Weiterhin ging Art. 68 der Reichsverfassung mangels eines Gesetzes zur Verkündung und Wirkung ins Leere. Auf das Fehlen einer Verkündung nach Art. 68 hinzuweisen, ist daher eine recht merkwürdige Argumentationsweise (oder soll hier wieder Rechtstaatlichkeit suggeriert werden?). Der Artikel hatte deshalb auch keine Gültigkeit für das Königreich Bayern (was spätere Unterschiede dort zur übrigen Pressezensur begründet hat).

3. Trotzdem gab es den "Kriegszustand", und zwar nach Maßgabe des Preußischen Belagerungszustandsgesetz aus 1851, diese wiederum auf Basis der Verfassung von 1850. Verkündigung des Kriegszustandes im Reichsgesetzblatt 1914, S. 263.


Aber so ging man nicht vor und mir ist nicht bekannt, dass einer der damals leitenden Politiker ernsthaft das Kriegsrecht ausrufen wollte.
Das ist mit obigen Ausführungen obsolet.



Das hat nichts damit zu tun, dass Notstandspläne bestanden (die dürften in jedem Land bestehen). Niemand weiß was passiert wäre, wenn plötzlich führende SPD Politiker verhaftet worden wäre. Niemand in der Reichsleitung wollte herausfinden, ob es wirklich „ohne gegangen“ wäre.

Der Krieg wurde ohne Reichstag erklärt.

Betr. Reichstag ging es um die Finanzierung-, und damit um die Machtfrage. Zur Relativierung siehe oben. Es geht hier auch nicht darum, ob jemand wissen konnte, was passiert wäre, wenn es hätte ohne gehen können. :devil:

Es geht um die Frage, ob die Befehle draußen waren. betr. der Ausführung der "Notstandspläne", nämlich zur innenpolitischen Durchsetzung des gerade erklärten Krieges, falls sich jemand querlegt. Dass hier das Militär 1912/1914 recht zahm wurde (wir reden ja über das Kaiserreich, und das beginnt bekanntlich nicht 1911), lag an Machbarkeitsstudien zur Bekämpfung innerer Unruhen im Kriegsfall, die über Jahrzehnte angelegt wurden - soviel zur "Macht" des Reichstages. Im übrigen kam es durch den nationalen Schwenk nicht zum Äußersten, aber das war - wie gesagt - nicht die Frage.
 
Der Reichstag hat den Krieg nicht erklärt und die SPD war über die Kriegskredite involviert. Das wissen wir doch alles.

Wo aber, vielleicht mal in einem klaren Satz, ist der Rechtsverstoß, der so gravierend ist, dass man nicht mehr vom Kaiserreich als einem Rechtsstaat sprechen kann?
 
Der Reichstag hat den Krieg nicht erklärt und die SPD war über die Kriegskredite involviert. Das wissen wir doch alles.
Ganz offensichtlich nicht:
Zu jschmidt #71
Gerade bei dieser Frage wird die offensichtlich von niemand mehr bestrittene Macht des Reichstags bzw. der Parteien deutlich.

Wo aber, vielleicht mal in einem klaren Satz, ist der Rechtsverstoß, der so gravierend ist, dass man nicht mehr vom Kaiserreich als einem Rechtsstaat sprechen kann?
War oben irgendetwas unklar oder wird nun argumentativ schleichend die Seite gewechselt? Vorher hieß das noch:
Das Kaiserreich war ein Rechtsstaat von hoher Qualität..

Was denn nun?

Ich zitiere aus dem Schreiben des Generalkommandos des VIII. Armeekorps an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz betr. Maßnahmen zur Verhaftung politisch unsicherer Personen bei Erklärung des Kriegszustandes vom 8.4.1914:

"Unter Bezugnahme ... Mob.37 I. ... die unterstellten Orts- und Polizeibehörden sehr gefälligst anweisen zu wollen, dass sie bei Erklärung des Kriegszustandes oder bei Ausspruch der der Mobilmachung unverzüglich und ohne besondere Erinnerung die in den Listen "Politisch Unsichere" unter a) und b) aufgeführten Persönlichkeiten unverzüglich festznehmen haben, also:

a) ...
b) ...

Die in den bisherigen Listen unter c) genannten Personen: Anarchisten, Führer der Socialdemokratie pp., denen eine Störung unserer Mobilmachung durch Aufreizen der Bevölkerung zu Ungehorsam und Widersetzlichkeit gegen die Mobilmachungsanordnungen zuzutrauen ist, sind in der Hauptsache zunächst nur unter Beobachtung zu nehmen und erst dann zu verhaften, wenn sie agitatorisch tätig werden. [Anm. des Referenten des OPräs.: ... oder ihre Festnahme zur Aufrechterhaltung der Ordnung notwendig erscheint; ob dies der Fall ist, haben die Polizeibehörden unter eigener Verantwortung zu entscheiden ...] ... Das Generralkommando ..., dass es nicht zweckmäßig erscheint, schon jetzt die einzelnen Beamten z bestimmen, denen bei Erklärung des Kriegszustandes die Verhaftung obliegen sollten. ... die Betreffenden könnten vorzeitig gewarnt werden.
...
Mit obigem Antrag sind die Generalkommandos VII., XVI. und XXI. A.K. einverstanden."

Ergänzung im Entwurf des Generalkommandos: "In den Festungen Cöln, Coblenz und Wesel sind jedoch diese unter c) aufgeführten Persönlichkeiten [Anm: -> also sozialdemokratische Führer] sofort festzunehmen"

Die Umsetzung dieser Maßnahmen unterblieb später allein aus folgendem Grund:

Schreiben d. preuß. Kriegsministeriums vom 25.7.1914:
"Es ist nicht erwünscht, dass politische Parteien durch Unterdrückung ihrer Presse und Verhaftung ihrer Führer von vornherein in einen scharfen Gegensatz zur Regierung hineingetrieben werden. Deshalb ist zunächst ein abwartendes Verhalten, bei strenger Überwachung der socialdemokratischen ... Presse und Partei angezeigt. Scharfe Maßregeln sind jedoch sofort zu ergreifen, wenn ... Parteien durch ihr Verhalten sich dieser Rücksichtnahme unwürdig zeigen und sich damit selbst ins Unrecht setzen. ...

Eine Verhaftung von Abgeordneten zu den gesetzgebenden Körperschaften ist, sobald die betreffende Körperschaft einberufen ist, zu vermeiden ...
[bayerische Anordnung: "unzulässig" statt "zu vermeiden"]"


Weiter Schreiben des Reichsamts des Innern vom 5.8.1914 betr. die Aufrechterhaltung der Immunität der Abgeordneten während der Vertagung des Reichstages - nunmehr wird unter den neusten Nachrichten das "Vermeiden von Verhaftungen" weiter abgeschwächt:

"... beehre ich mich anheimzstellen, die Militärbefehlshaber ... davon verständigen zu lassen ..., daß, nachdem ... Seine Majestät der Kaiser die Vertagung des Reichstages bis zum 24. November 1914 ... angeordnet hat [Anm. zur Zeitfrage: siehe Schlieffen-Plan und Mobilmachungs-Finanzierung!], die Rechte der Immunität der Abgeordneten für die ganze Dauer der Vertagung fortbestehen, so dass Verhaftungen von Abgeordneten zur Vorbeugung von Verfehlungen verfassungswidrig sein würden. Nachdem heute die socialdemokratische Partei die Kredite einstimmig bewilligte, möchte ich annehmen, dass auch die Haltung der Parteiangehörigen sich in der Richtung der heutigen Beschlüsse bewegen wird."

Die Drohung wird damit wohl klar. Anzumerken ist, dass bereits am 31.7.1914, 21.00 Uhr unterrichtet wurde:
" das die socialdemokratische Partei die Absicht habe, sich so zu verhalten, wie es sich für jeden Deutschen unter den gegenwärtigen Verhältnissen geziemt." Die Militärbefehlshaber wurden aufgefordert, bei ihren Maßnahmen darauf "Rücksicht zu nehmen". Hintergrund ist die eilige Mitteilung von Dr. Südekum (SPD) vom 29.7.1914, dass von der "socialdemokratischen Partei keinerlei Aktion zu befürchten sei"


Dazu nun das Generalkommando VII. A.K. an das Reichsamt des Innern vom 19.8.194:

"Gegen socialdemokratische Abgeordnete ist bisher ein Einschreiten nicht erforderlich gewesen und wird auch voraussichtlich nicht erforderlich werden, da sie angesichts der Macht der Verhältnisse schon aus den einfachsten Gründen der Klugheit ihr Verhalten so einrichten werden, dass sie zu irgend einem Einschreiten nach keiner Richtung hin Veranlassung geben dürften. Sollten aber socialdemokratische Reichstagsabgeordnete Handlungen begehen, welche erkennen lassen, dass sie ... vereiteln und dadurch ... Maßregeln, die zur Aufrechterhaltung der Ruhe, Sicherheit und Ordnung der Provinz erforderlich sind, gefährden wollen, so glaube ich ... die gesetzten Grenzen nicht zu verletzen, wenn ich wenigstens in solchen Fällen gegen socialdemokratische Reichstagsabgeordnete einschreite.

Weitherzige Behandlung der Socialdemokratie halte ich auch im gegenwärtigen Zeitpunkt für durchaus erwünscht."

-> Und bist Du nicht willig, so gebrauche ich Gewalt. :winke:


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P.S. Was ist jetzt eigentlich hiermit:
Der Kaiser hätte sicherlich das Kriegsrecht nach Art. 68 Reichsverfassung erklären können. Aber so ging man nicht vor und mir ist nicht bekannt, dass einer der damals leitenden Politiker ernsthaft das Kriegsrecht ausrufen wollte. Das hat nichts damit zu tun, dass Notstandspläne bestanden (die dürften in jedem Land bestehen).
-> Siehe oben #83 und Reichsgesetzblatt 1914. Dort steht das Gegenteil.
Das wissen wir doch alles.
Aha. Haben Helfferich und Tirpitz das etwa übersehen?
 
Zuletzt bearbeitet:
... sondern mehr nach einem Versuch aus der Gegenseite mehr Argumente hervor zulocken.

Die Umkehrung der Beweislast für die Ausgangsthese ("Rechtsstaat von hoher Qualität") war ja dann wohl erfolgreich, wobei "nicht mehr Rechtsstaat" kaum das Gegenteil von "Rechtstaat von hoher Qualität" darstellt :devil:

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P.S.:
Bei Bedarf reiche ich übrigens gern die Liste der Sozialdemokraten nach, die gegen die jeweiligen Kriegskredite 1914 ff. innerhalb der Fraktion gestimmt haben.
 
Übrigens wurde die Kriegserklärung nicht nur ohne den Reichstag sondern auch ohne den Bundesrat vorgenommen. Die - verfassungsmäßig erforderliche - Zustimmung des Bundesrates wurde im nachhinein eingeholt. Wobei die Frage witzig ist, was die Reichsleitung wohl gemacht hätte, wenn der Bundesrat abgelehnt hätte. :)
Jedenfalls liegt hier ein Un-Rechtsstaatsmäßiger Rechtsbruch vor.
 
Nochmals, warum soll das Kaiserreich kein Rechtstaat sein. Wegen eines angeblichen Parlamentsfehlers, wie El Mercenario meint? Wird hier ernstlich die Auffassung vertreten, dass ein Rechtsstaat ein Staat ist, der immer fehlerfrei handelt? Dann gäbe es keinen Rechtsstaat.Warum, so meine Frage, haben wir in der Bundesrepublik Verwaltungsgerichte, Sozialgerichte, Finanzgerichte, das Verfassungsgericht?

In den von Silesia zitierten Schreiben berufen sich die Autoren sogar auf die Rechtsgrundlage ("Sicherheit, Ruhe und Ordnung", also Polizeirecht). Sollen diese behördeninterne Schreiben bzgl. Maßnahmen, die nie umgesetzt wurden, belegen, dass das Kaiserreich kein Rechtsstaat sein soll?

Zum Rechtsstaat Rechtsstaat ? Wikipedia
 
Nochmals, warum soll das Kaiserreich kein Rechtstaat sein. ...Wird hier ernstlich die Auffassung vertreten, dass ein Rechtsstaat ein Staat ist, der immer fehlerfrei handelt? .

Wen sprichst Du hier an? Die Fragen finde ich nur in Deinen Post. Allerdings finde ich dort auch das genaue Gegenteil. Also zurück zum Thema: zwischen schwarz und weiss gibt es grau.


Das vorgebrachte Beispiel (Kriegserklärung/Reichstag) zeigt, dass das Kaiserreich in dieser Frage durchaus "modern" war, nimmt man nämlich das britische Beispiel zur Hand. Auch hier wurde mW (müßte ich aber bei Bedarf nachschlagen) nicht das Parlament gefragt, sondern stimmte nur Tage später den Kriegskrediten zu (Frage wäre aber, ob die Vertragsverletzung Belgien - Garantie - das überdeckt - ist mir aber jetzt zu kompliziert).


Unangebracht ist es mE auch, eine Schwarz-Weiss-Frage zum Thema Rechtsstaat am Zivilrecht (!) aufzuhängen und zB das BGB ins Feld zu führen. Selbstverständlich kann ich in der schlimmsten Diktatur Fälle konstruieren, bei denen das Zivilrecht cum grano salis im guten Licht darsteht. Des weiteren ist die Rechtswirklichkeit von den Rechtsvorschriften zu unterscheiden. Sodann ist besonderes Augenmerk auf das Öffentliche Recht zu legen (und hier könnte man weitere Schwerpunkte bilden), also auf das Verhältnis Staat-Bürger und die tatsächliche Einhaltung gewisser Prinzipien.

Was also eine BGB-Diskussion zum Generalthema beitragen soll, erschließt sich mir nicht in der Tragweite. Auch beim Öffentlichen Recht ist genauer hinzuschauen: von Montesquieu stammt die Beobachtung, dass sich die Belastungen des Steuerrechts umgekehrt proportional zum Freiheitsgrad der Bürger eines Staates verhalten sollen (natürlich gibt es auch bei M. Ausnahmen: die Schweiz). Will fragen: was hat die Sektsteuer mit Rechtsstaatdiskussionen zu tun?


Nächstes Thema: Polizei- und Ordnungsrecht.
Vielen Dank, dass die Beispiele Anklang finden. Ich nehme mal nach den vorherigen Ausführungen an, dass dieses Material unbekannt war, der schnelle Einschuss und die Adaption an einen feststehenden Standpunkt ist daher doch überraschend. Wie wäre es mit einer Kontextualiserung? :winke:


Schließlich eine Bitte; das hier ist nämlich trotz beharrlicher Nachfrage unbeantwortet geblieben:
Der Kaiser hätte sicherlich das Kriegsrecht nach Art. 68 Reichsverfassung erklären können. Aber so ging man nicht vor und mir ist nicht bekannt, dass einer der damals leitenden Politiker ernsthaft das Kriegsrecht ausrufen wollte.
-> Siehe oben #83 und Reichsgesetzblatt 1914. Dort steht das Gegenteil.

Was nun?

Zudem hat die Frage der Kriegserklärung - wie der Ablauf zeigt - nichts mit der Zustimmung z den Kriegskrediten z tun. Auf einem anderen Blatt steht, dass diese Zustimmung erwartet wurde (->Rußland). Auf einem weiteren Blatt steht, dass repressive Maßnahmen bei Widerspruch bereits angeordnet waren (->siehe zitierte Beispiele).
 
Nochmals, warum soll das Kaiserreich kein Rechtstaat sein.
Ich erinnere höflich daran, dass die Diskussion der letzten Tage über die These (#70) "Das Kaiserreich war ein Rechtsstaat von hoher Qualität" (Herv.v.m.) geführt wurde. Diese These hast Du mit Argumenten stützen wollen, die sich bei näherem Hinsehen als problematisch bzw. mindestens zwiespältig erwiesen haben.

Wird hier ernstlich die Auffassung vertreten, dass ein Rechtsstaat ein Staat ist, der immer fehlerfrei handelt? Dann gäbe es keinen Rechtsstaat.
Schon richtig, weshalb ich diese Auffassung auch nicht vertrete. Freilich tu ich mich, anders als Du, schwer damit, dem Kaiserreich einen Skalenwert etwa zwischen 0 (ganz und gar Unrechtsstaat) und 100 (ganz und gar Rechtsstaat) zuzuweisen.

Vielleicht nützt es, wenn man nach Schnittmengen bei den unterschiedlichen Auffassungen sucht:

1. Die Reichsverfassung von 1871 negiert den Rechtsgedanken nicht; siehe etwa die Präambel mit den drei prominenten Staatszweckbestimmungen "Schutz des Bundesgebietes", "Schutz des innerhalb desselben gültigen Rechtes" und "Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes".

2. Zu diesem "Recht" wird in dem verlinkten WP-Artikel ausgeführt, dass darin "die liberale Auffassung von der Lehre des formellen Rechtsstaats verdrängt" wurde. "Der Rechtsstaat bedeutete nicht mehr Ziel und Inhalt des Staates, sondern wurde auf ein bloßes formales Prinzip reduziert, welches sich auf das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und den Verwaltungsrechtschutz durch unabhängige Gerichte beschränkte."

3. Vielleicht lohnt es sich, dabei zwischen (a) den "bürgerlichen Rechtsverhältnissen" und (b) dem "Gebiet des öffentlichen Rechts" zu unterscheiden. Paul Laband, der bedeutendste Staatsrechtler des Kaiserreichs, hat das Prinzip so beschrieben (Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 2, S. 332, 337):

  • Bei (a) steht die Freiheit der Individuen im Vordergrund. Der Staat hat den "ihm unterworfenen Personen Rechtsschutz zu gewähren, d. h. den Landfrieden aufrecht zu erhalten und die Selbsthülfe auszuschließen und dafür dem einzelnen mittelst der Staatsgewalt zu seinem Rechte zu verhelfen".
    Das ist, wie gesagt, rein formal gedacht, was unter anderem bedeutet, dass der ökonomisch Schwächere dem Stärkeren ggf. ausgeliefert ist; typisch dafür sind die Konflikte im Bereich des Arbeitsrechts.
  • Bei (b) hat der Staat "die selbstständige Verpflichtung, gegen den Bruch der Rechtsordnung mittelst seiner Strafgewalt zu reagieren", und er übt seine Macht "im eigenen Interesse, zur Aufrechterhaltung und Wiederherstellung seiner eigenen Rechtsordnung aus".
    Ebenfalls formal gedacht, weil bereits das politische Streben nach Veränderung der Rechtsordnung zur Strafbarkeit führen kann, wobei es dem Staat" jederzeit möglich ist, die Handlungsmöglichkeiten einzuschränken.
4. Diese Problematik lässt sich wohl nur lösen, wenn man - wie Du schon angedeutet hast - naturrechtliche Grundsätze mit hinein nimmt. Der WP-Artikel liefert dazu das schöne und immer noch gültige Radbruch-Zitat:
„Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“
5. Man muss also Recht und Gerechtigkeit zusammen sehen und sowohl die Aussage über das Gesetzmäßigkeitsprinzip wie die über unabhängige Gerichte kritisch unter die Lupe nehmen. Am besten geschieht das am Einzelfall unter Verzicht auf überflüssige Pauchalisierungen.

PS: Ich sehe, dass silesia schon vieles vorweg genommen hat. Bitte das Redundante bei mir einfach ignorieren.:winke:
 
Zuletzt bearbeitet:
Das Thema des Rechtsstaats verleitet hier zu freiem Argumentieren, vollkommen zu Unrecht. In der Rechtsgeschichte ist dieses Thema gut dokumentiert und – zumindest für Zwecke eines Forums – wenig umstritten.

Den philosophischen Unterbau liefert u.a. Kant in seiner Metaphysik der Sitten (1785). Er sieht den Staat als „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ an. Recht und Moral werden bei Kant streng unterschieden. Recht wird abstrakt und hat mit anderen Zwecken als formale Freiheit nichts zu tun.

Unter dieser Prämisse hat der Tübinger Staatsrechtler Robert von Mohl (1799 – 1875) in seinem „Staatsrecht des Königreichs Württemberg“ (1829/31) den Begriff „Rechtsstaat“ entscheidend definiert als (a) Menschenrechte (d.h. Freiheit – gemeint ist Vertragsfreiheit – und Eigentum) und (b) Gewaltenteilung. In Freiheit und Eigentum darf der Staat nur durch Gesetze eingreifen, an denen der Bürger mitgewirkt hat. Nur solche Gesetze sind Recht, darüber stehendes Recht – also Naturrecht – gibt es nicht. Gesichert werden muss dies durch Verfahrensgrundsätze (Abschaffung der Patrimonalgerichtsbarkeit, Unabhängigkeit der Richter, Mündlichkeit, rechtliches Gehör, etc.). Menschenrechte, Gewaltenteilung und Justizreform war der Rechtsstaat im materiellen Sinne, als das erreicht war, wurde der Begriff formell, d.h. Eingriffe in Freiheit und Eigentum waren nur noch durch „formelle“ Gesetze möglich (das ist bei #91 unter 2 zumindest sehr missverständlich wiedergegeben, der formale Rechtsstaat ist nämlich nicht der verdrängende, sondern der bewahrende). Trotz gescheiterter Revolution 1848/49 gab es in einzelnen Ländern Verfassungen, die diese Ideen umsetzten.

Die Naturrechtsgedanken – gemeint ist das klassische Naturrecht – gehören in eine andere Zeit und werden dann durch den Rechtsstaat überwunden. Das klassische Naturrecht ist die Rechtsphilosophie des Absolutismus (Grotius De jure belli ac pacis 1625, Hobbes Leviathan 1651). Religiöse Inhalte wurden abgetrennt, unter dem Einfluss von Decartes Rationalismus wurde die Gleichheit der Menschen zur Grundlage der Rechtswissenschaft. Damit wurde der Feudalismus zerstört und das Bürgertum stieg auf – unter dem Regime absoluter Herrscher. Genau das ist das Problem und dies wird besonders deutlich im Müller-Arnold-Fall, ein Justizskandal aus der Zeit Friedrich des Großen. Der König griff in die Justiz ein und er und nicht das Gericht entschied was Recht sein soll (die juristisch richtige Lösung des Falles ist bis heute umstritten). Das war für das Bürgertum untragbar.
Und untragbar war auch das Naturrecht selbst. Denn das Problem ist seine Beliebigkeit. Es kommt eben darauf an was man in die Natur des Menschen hineinlegt, und je nach politischer Einstellung wird etwas anderes hineininterpretiert. Das zu überwinden – d.h. Gesetz ist nur, was die Volksvertretung beschließt – und zu sichern – Gesetze werden quasi wie mathematische Formeln mit definierten Begriffen aufgebaut (Begriffsjurisprudenz nach Puchta 1798 – 1846) – war das Ziel des Rechtsstaats. Daher waren die Juristen des 19. Jahrhunderts (historische Rechtsschule wie Savigny 1779 - 1861, Windscheid 1817 - 1892) strikte Gegner des Naturrechts.

Die Rechtstaatsprinzipien sind im Kaiserreich umgesetzt worden. Das Zivilrecht gewährte Vertragsfreiheit und Schutz des Eigentums und zwar nach einem systematischen Rechtssystem. Beides war recht jung (in Preußen begann die Entwicklung mit der Bodenfreiheit gemäß Edikt von 1807). Die staatlich gelenkte Wirtschaft des Merkantilismus war gerade überwunden (Merkantilismus war staatlich gelenkte Wirtschaft, ständische Bindung, Unverkäuflichkeit von Grund und Boden, etc.). Vollkommen abwegig daher # 90 („…Unangebracht ist es mE auch, eine Schwarz-Weiss-Frage zum Thema Rechtsstaat am Zivilrecht (!) aufzuhängen und zB das BGB ins Feld zu führen…“), das genaue Gegenteil ist der Fall. Freiheit und Eigentum wurden durch unabhängige Gerichte geschützt, das Entscheidungen durch logisch-wertfreie Ableitungen aus vorgegebenen Regeln finden sollte. Konsequenterweise sind nach der Reichsgründung die Reichsjustizgesetze (also die Verfahrensgesetze) bereits 1877 verabschiedet worden. Gesetze wurden durch den Reichstag (und Bundesrat) erlassen (man mag argumentieren, dass es noch Allerhöchste Kabinetts Order gab – die Gesetzesrang hatten – allerdings nicht in Bereichen, die zu Eingriffen in Freiheit und Eigentum führen konnten).

Gustav Radbruch (1878 – 1949) war wie die anderen Juristen seiner Zeit Gegner des Naturrechts. Am Ende seines Lebens unter dem Eindruck nationalsozialitischen Unrechts formulierte er 1946 die zitierte Radbruch’sche Formel. Sie besagt, dass von einem Staat rechtmäßig erlassene Gesetze nicht gelten soll, wenn der Widerspruch zu allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen „unerträglich“ ist. Mit dem Kaiserreich hat das nichts, aber auch gar nichts zu tun (Radbruch war Im Kaiserreich Rechtsprofessor in Heidelberg und Königsberg). Nie hat Radbruch (der mit der SPD sympathisierte und 1918 der SPD beitrat) die Auffassung vertreten, dass das Recht des Kaiserreichs mit allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen nicht vereinbar wäre oder gar ein „unerträglicher“ Widerspruch vorliegt.

Der in # 91 angedeutete Versuch Recht unter Gerechtigkeitsprinzipen zu untersuchen, ist also genau das, was der Rechtstaat überwinden wollte. Diese sogenannten Gerechtigkeitsprinzipien sind nämlich oft nichts anderes als politische Meinungen, die durch die Hintertür zu „Recht“ gemacht werden sollen. Diese Gerechtigkeitsprinzipien (also das Naturrecht) sind von der historischen Rechtsschule Anfang des 19. Jahrhunderts verdrängt worden. Naturrechtliche Gedanken traten nach dem 2. Weltkrieg wieder auf. Während des Kaiserreichs spielte Naturrecht keine Rolle.
 
Modern und rückständig

Das deutsche Kaiserreich von 1871 bis 1918 war modern und rückständig zugleich. Von der Wirtschaft und der Industrie, vom Militär, Verwaltungswesen und Wissenschaft war es eine der modernsten Staaten der Welt. Zu Anfang des 20 Jahrhunderts war jeder dritte Nobelpreisträger ein Deutscher. Made in Germany war wirklich ein Markenname.
Politisch war es so reaktionär, wie kein anderes Land (Vllt noch das russische Zarenreich) Zwar wurde der Reichstag demokratisch gewählt, doch wirklich zu sagen oder eine ausübende Kontrolle wie heute hatte er nicht. DEr Reichskanzler wurde nicht von der Mehrheitspartei eingesetzt, sondern nach Gutdünken des Kaisers. Hätte das gewählte Parlament das sagen, wäre Bismarck ruckzuck weg vom Fenster gewesen...
 
Politisch war es so reaktionär, wie kein anderes Land (Vllt noch das russische Zarenreich) Zwar wurde der Reichstag demokratisch gewählt, doch wirklich zu sagen oder eine ausübende Kontrolle wie heute hatte er nicht. DEr Reichskanzler wurde nicht von der Mehrheitspartei eingesetzt, sondern nach Gutdünken des Kaisers. Hätte das gewählte Parlament das sagen, wäre Bismarck ruckzuck weg vom Fenster gewesen...

Na, das stimmt nicht so ganz. Der Reichstag war immerhin gesetzgebende Gewalt, wenn auch (nach preußischem Vorbild) nicht die einzige. Einfach über ihn weg regieren ließ sich nicht. Und anders als von den Vordenkern der Verfassung gedacht, überflügelte der Reichstag an politischer Bedeutung den Bundesrat.
Was den Reichskanzler betrifft, so ist noch anzumerken, dass seine Stellung nicht mit der des heutigen Bundeskanzlers verglichen werden kann. Denn eine Regierung im heutigen Sinne gab es im Kaiserreich nicht; Verwaltung und Politik waren dort strikter getrennt.
 
Ergänzend dazu:
Auf Reichsebene waren nur Männer ab 25 Jahre wahlberechtigt. Ausgeschlossen waren neben Frauen auch Personen, die Armenunterstützung aus öffentlichen Mitteln bezogen.
 
Nochmals, warum soll das Kaiserreich kein Rechtstaat sein. Wegen eines angeblichen Parlamentsfehlers, wie El Mercenario meint
Ich denke nicht, dass das ein Fehler war. Die Bundesfürsten zusammenzutrommeln und zur Zustimmung zu bewegen hätte Zeit gekostet. Der Zeitplan war knapp, also hat man ihre verfassungsmäßigen Rechte übergangen und den Krieg schon mal ohne sie angefangen. Rechtsstaatlich bedenklich.
@Silesia
Der Unterschied zu den Briten ist aber, dass die Zustimmung zu den Kriegskrediten nicht mit der Zustimmung zur Kriegserklärung identisch ist. Man kann - verfassungsrechtlich - auch ohne Kriegskredite Krieg führen, ein Verfassungsbruch liegt da nicht vor. Die Kriegserklärung selber wurde in England vom Parlament abgegeben, insofern dürfte die Zustimmung zu den Krediten sicher gewesen sein.

@jschmidt
Fraglich ist, ob man die Rechtsstaatlichkeit einfach an der geschriebenen Verfassung festmachen kann. Die DDR und sogar die Sowjetunion hatten (soweit ich weiß, bitte darauf nicht festnageln ^v^) auch rechtsstaatliche Verfassungen. Es hielt sich nur keiner dran.
Im Falle Kaiserreich wäre ein wichtiger Punkt die "übergesetzliche" Stellung des Heeres oder der Heeresleitung. Deutlich in der Zabernaffäre, wo Bürgerrechte durch das Heer schlicht ignoriert wurden, die Rechtsbrüche durch Kaiser und Kanzler gedeckt.
 
Modern oder Rückständig?

Wir sprechen gerade in der Schule über Wilhelm 2. und Bismarck.(so von 1867-1910)
und vor allem darüber, ob das deutsche kaiserreich nach Bismarck und zu zeiten Wilhelms modern oder eher Rückständig war?
danke im vorraus:)

Franci
 
Zuerst einmal sollte geklärt werden, was denn unter 'modern' und 'rückständig' zu verstehen ist. :)
 
Wir sprechen gerade in der Schule über Wilhelm 2. und Bismarck.(so von 1867-1910)
und vor allem darüber, ob das deutsche kaiserreich nach Bismarck und zu zeiten Wilhelms modern oder eher Rückständig war?
danke im vorraus:)

Franci

Es war weder Rückständig noch Modern.

Es gab zwei ebenen der kaiserlichen Gesellschaft, die eine war die Monarchie und das aristokratische Leben, was in sich zu diesem Zeitpunkt schon rückschrittlich war. Die andere Ebene der Gesellschaft war die Technologisierung durch den technischen Fortschritt und den neuen Leistungsträgern, die diesen Fortschritt aufbauten und ermöglichten.
Der Bruch hierbei war, daß die aristokratische Gesellschaft aus alten Traditionen in der Oberschicht machtvolle Positionen inne hielt, während die Macher des technischen Fortschritts aus der bürgerlichen Sicht nach oben in machtvolle Positionen drängten, ohne die alten Traditionen.

Bestes Beispiel der beiden Ebenen im wilhelminischen Kaiserreich war die Marine. In ihr vereinte sich das traditionelle Offizierskorps und die technisch versierten Ingenieure und Techniker der modernen Anlagen der Schlachtschiffe. Und genau diese beiden Eben haben dazugeführt, daß der Bruch zu offenen Revolte führte, im Grunde parallel zu Gesellschaft im Kaiserreich.

Das Ende 1918 kennen wir dann ja alle, die Moderne hat das alte Morsche hinweg gefegt...
 
Die Frage, ob rückstandig oder modern - das sehe ich genauso wie Köbis.

Es kommt immer auf die Sichtweise an und auf den Teil der Politik oder der Gesellschaft, den man gerade betrachtet.

Deutschland hatte nach zur Zeit Wilhelms II und Bismarcks sowohl (nach heutiger Sicht) moderne als auch unmoderne Züge. Wenn wir mal das Militär weglassen und den zivilen Bereich betrachten, finden wir eine am klassischen preußischen Beamtentum orientierte öffentliche Verwaltung, die bürokratisch nach einem festen Regelwerk arbeitet und relativ unbestechlich arbeitete.

Bürokratisch hat heutzutage den touch von völlig antiquiert, aber damals galt die Bürokratie als durchaus zeitgemäß. Max Weber hat sie als eine der effizientesten Organisationsformen überhaupt angesehen, da sie eigentlich recht reibungslos funktionierte. Dazu kam eine Sozialversicherung, die neu und weltweit einzigartig war, hier hatte Deutschland eine absolute Vorreiterrolle in der Welt übernommen (die USA haben heute noch keine flächendeckend vergleichbare soziale Absicherung ;)).

Dass das bürokratische System der öffentlichen Verwaltung aber schnell veraltet sein konnte, zeigte sich im ersten Weltkrieg. Ein ausgefeiltes, für statische Verhältnisse konzipiertes System ist bei raschem Wandel einfach zu unflexibel und überfordert. Unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft wurde deshalb die bisher als vorbildlich geltende öffentliche Verwaltung fast zum Klotz am Bein und war mit einem Schlag sozusagen veraltet, auch wenn man das erst rückwirkend richtig realisierte.

Selbst der gleiche betrachtete Gegenstand kann je nach Blickwinkel und situationsabhängig mit guten Gründen sowohl als modern als auch als rückständig angesehen werden. Aber das macht es ja auch so spannend an der Geschichte, dass es nur selten eine Patentlösung gibt.

Viele Grüße

Bernd
 
Zuerst einmal sollte geklärt werden, was denn unter 'modern' und 'rückständig' zu verstehen ist.

Dieser Aspekt ist die Grundlage für eine jegliche Beurteilung. Als Maßstab, auch als immanenter Maßstab für die damalige Zeit, kann legitimerweise das "Projekt der Aufklärung" herangezogen werden und sich am deutlichsten in den Werten der Französichen Revolution (Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit) manifestierte. Also an einer Gesellschaft, die Privilegien qua Geburt abgeschafft hat etc.

Es stellt sich zudem die Frage, in welchem zeitlichen Kontext man die Frage beantworten möchte. Vergleicht man es mit den anderen industrialisierten Staaten im damaligen Zeitkontext oder legt man den Maßstab des Jahres 2010 an. Der immanente Vergleich für die Zeit um 1910 dürfte angemessener sein.

Deutsches Kaiserreich ? Wikipedia

Bismarcksche Reichsverfassung ? Wikipedia

Es ergibt sich inhaltlich ein grundsätzliches Problem für die damalige Situation, das im wesentlichen auf die asynkrone Entwicklung zurück zu führen ist. Gemeint ist das Zusammenspiel eines vergleichsweise anachronistischen politischen System und einem „entfesselten“ wirtschaftlichen Sektor und dessen Rückwirkungen auf die Gesellschaftsstruktur.

Aus dieser Reibungsfläche bezog das Kaiserreich im wesentlichen seine innenpolitischen Spannungen und seine Legitimationsdefizite.

Diese Überlegung legt die Vermutung nahe, dass es wenig Sinn macht, über die Modernität in einem statischen Sinne nachzudenken, sondern vor allem die Anpassungsfähigkeit der Teilsysteme des Kaiserreichs und ihre Interdependenzen ins Auge zu fassen. Also beispielsweise die Frage, wie sich die stürmische industrielle Entwicklung auf andere Bereiche wie die Gesetzgebung oder die Gesellschaft ausgewirkt hat.

Und gerade in diesem Aspekt der Anpassungsfähigkeit des gesamten System des Kaiserreichs, also des politischen, des ökonomischen, des militärischen und des sozialen Bereichs, lagen die gravierendsten Defizite vor. Am stärksten versinnbildlicht in dem Anachronismus des „Persönlichen Regiments“ von KW2 als Regenten.

Persönliches Regiment ? Wikipedia

Dieses Defizit bei der evolutionären Entwicklung, wie es beispielsweise in GB und in Skandinavien im Gegensatz dazu eher gelang, ist dann auch ein wichtiger Grund für die eruptiven, semi-revolutionären Veränderungen, die im November 1918 in Deutschland auftraten und die Anapssung des Systems erzwangen.

Noch deutlicher kann man diesen Mechanismus im Rahmen der Russischen Revolution (1905-1917) erkennen.

Dass das bürokratische System der öffentlichen Verwaltung aber schnell veraltet sein konnte, zeigte sich im ersten Weltkrieg. Ein ausgefeiltes, für statische Verhältnisse konzipiertes System ist bei raschem Wandel einfach zu unflexibel und überfordert. Unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft wurde deshalb die bisher als vorbildlich geltende öffentliche Verwaltung fast zum Klotz am Bein und war mit einem Schlag sozusagen veraltet, auch wenn man das erst rückwirkend richtig realisierte.

Aber eher in dem Sinne, dass sie nicht in der Lage war, die Komplexität eines "totalen Krieges", wie die 3. OHL ihn führte, zu steuern. Zustimmen tue ich Dir sofort, dass die Anpassungsfähigkeit der Bürokratie nicht vorhanden war

Dass Planung, Planwirtschaft und die damit zusammenhängende leistungsfähige Bürokratie absolut notwendig sind, um einen "totalen Krieg" zu führen, haben die West-Allierten im WW2 nahezu perfekt vorgeführt.
 
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