Aussterben der Neandertaler

Man muss es nicht als Rückschritt werten, wenn alte Menschen sich zum Sterben aus der Sippe zurückziehen.
Sofern sie das wirklich freiwillig getan haben und nicht einfach von der Sippe zurückgelassen wurden, wie der Spiegel-Artikel meint. Aber auch dann könnte man diskutieren, ob es wirklich ein Fortschritt ist, alte Menschen zum "freiwilligen" Sterben zu "motivieren", aber das würde dann wohl eine tagespolitische Diskussion.
 
Vor allem müsste man sich von der uns "antrainierten" :winke: christlichen Ethik lösen. Das ist gar nicht so einfach.

Rein rational könnte man natürlich sagen, dass eh jeder stirbt und dass es im hinblick auf das Gemeinwohl egal ist, ob ein wenig früher oder später. Aber damit kommt man ganz leicht in Diskussionen, bei denen man verdammt aufpassen muss, dass nicht irgendwelche Verbrechen der Menschheitsgeschichte quasi legitimiert werden. Aber dann wäre man sowieso weit von der Diskussion über die Neandertaler entfernt. Ich halte mich da lieber zurück...

Viele Grüße

Bernd
 
Vor allem müsste man sich von der uns "antrainierten" :winke: christlichen Ethik lösen. Das ist gar nicht so einfach.

Gegenseitige Hilfe besonders zwischen den Generationen ist doch kein Alleinstellungsmerkmal der christlichen Ethik, sondern ein allgemeiner Grundsatz menschlichen Zusammenlebens.
Warum sollte das bei den Neandertalern anders gewesen sein?
Alle Hominiden lebten in sozialen Gruppen mit Generationenmix.
 
Gegenseitige Hilfe besonders zwischen den Generationen ist doch kein Alleinstellungsmerkmal der christlichen Ethik, sondern ein allgemeiner Grundsatz menschlichen Zusammenlebens.
Warum sollte das bei den Neandertalern anders gewesen sein?
Alle Hominiden lebten in sozialen Gruppen mit Generationenmix.

Da will ich gar nicht widersprechen. Trotzdem kann es ggf. sinnvoll sein, in einer Phase stark begrenzter Ressourcen, die "überflüssigen Esser" nicht mehr mit "durchfüttert", um das Überleben der Gruppe zu sichern. Sei es durch Aussetzen von Neugeborenen oder Zurücklassen von alten Menschen.

Ich könnte mir vorstellen, dass es Gesellschaften gab/gibt, in denen das praktiziert wurde/wird. Für uns, die wir (nehme ich mal an) unsere Sozialisation im Rahmen einer europäisch christlichen Tradition erfahren haben erscheint dies nahezu undenkbar. Dies muss aber nicht überall auf der Welt so sein.

Viele Grüße

Bernd
 
Man muss es nicht als Rückschritt werten, wenn alte Menschen sich zum Sterben aus der Sippe zurückziehen.

Unser heutiges System der Alterung ist dagegen wirklich rückschrittlich. Die letzten Jahre seines Lebens schmort man im Altenheim herum, bei nicht immer angenehmen Bedingungen (und sozial von all dem isoliert, was einem alten Menschen noch Freude bereiten würde). Anhand der Knochenfunde wird man das aber in einigen Tausend Jahren nicht erschließen können.


Da ich drei Urgroßeltern erleben durfte, weiß ich dass dies immer relativ ist.

Mein Urgroßvater meinte hätte im jemand gesagt das er über 90 wird, er hätte gesagt er würde sich umbringen. Am Ende hing er am Leben.

Dann hing er am Leben und wie, seine Frau, meine Urgroßmutter hat in 2 Jahren 100 Geburtstag.

Muss allerdings auch sagen das keiner im Heim gelebt hat, meine Familie hätte sich das leisten können, nur sie wollten nicht.
 
Mir sind die Aussagen von Trinkaus zur Lebenserwartung des H.N. und zum evtl. Umgang mit alten Menschen völlig unklar.
Erstmal besteht ein massives statistisches Problem, wie allzu oft in der Archäologie.
Es fehlen im Fundgut ja nicht nur alte H.N. sondern auch alte (paläolothische) H.S.S.

Trinkaus führt einfach nur verschiedene Möglichkeiten an, warum diese „Lücke“ besteht, unter anderem eben eine Absonderung der Alten von der Gruppe und demnach keine Bestattung.

Na ja – denkbar. Andererseits handelt sich gerade bei namensgebenden Fund im Neandertal ja gerade um ein „seniles“ Exemplar. Und er wurde bestattet, wie offenbar einige andere NeandertalerInnen auch....
Und es gibt mindest ein seniles Individuum mit versorgten Verletzungen und Erkrankungen.
Auch an anderen Skeletten wurden verheilte Brüche festgestellt.

Eine einheitliche Aussage über „die“ Neandertaler kann es also zu diesem Thema nicht geben.
Wobei Trinkaus mir schon öfter ob seiner, na ja, Schnellschüsse auffiel. Ein fleißiger Mann, zweifellos, aber vielleicht auch ein wenig zu sorglos um Umgang mit der Presse.....

Th.
 
Und schon wird die nächste Sau durchs Dorf getrieben.

Diesmal ist die Achillessehne zu kurz.

Knochenanalyse: Neandertaler*schwächelte*beim Rennen - SPIEGEL ONLINE - Nachrichten - Wissenschaft

Wie immer ist die Originalstudie allerdings deutlich vorsichtiger.

Ja, im Spiegelartikel sind einige Ungereimtheiten drin. Die Klimaentwicklung mit den europäischen Wäldern, die von Kaltsteppen zurückgedrängt wurden, ist mE nicht richtig wiedergegeben.

Und die Sache mit den Sehnen, naja...auch in unserem aktuellen Genpool haben wir den langbeinigen, "sehnigen" Marathontyp und den untersetzten, kompakten Kurzstreckler.
 
Um die obige Diskussion noch mal aufzugreifen- es wird immer von "den" Neandertalern nicht nur als einheitliche Menschenrasse sondern auch als einheitliche Kultur gesprochen. Wenn man aber sieht,wie viele verschiedene Kulturen homo sapiens alleine in der Wildbeuterstufe hervorgebracht hat ,so kann man ähnliches wohl auch für den Neandertaler annehmen- Die Achillissehnen-Theorie scheint mir doch ein wenig hahnebüchen. Zum einen ist die Lauf-Hetzjagd bis heute eine äüßerst selten angewendete Jagdmethode, auch beim angeblich so laufstarken HS, zum anderen gibt es genügend effizientere Alternativmethoden,für die man kein Langstreckenläufer sein muß-Pirschjagd,Fallenjagd,Treibjagd mit Feuer.
 
Auf arte lief vor ein paar Tagen eine Reportage über die neuesten Ergebnisse von der Leipziger Arbeitsgruppe um Pääbo. Zieht man das übliche blablubb ab, bleibt im Film ein interessanter Aspekt übrig, den aufzugreifen es sich lohnt. Es wurden die Genunterschiede der Neandertaler und H.S. zusammengetragen und einiges davon betrifft Gehirnfunktionen und im speziellen soziales Verhalten. Eine wagemutige erste Hypothese lautete, dass Neandertaler ein autistisches Verhalten hatten. Mal schauen, was in diese Richtung noch kommt.

Das sind aber alles Versuche, die Ursache für die Unterlegenheit der Neandertaler in individuellen Faktoren zu finden. Das ist typisches Attributionsverhalten: Wenn beim anderen was schief läuft, ist es Dummheit oder Unfähigkeit; wenn man selbst Misserfolge erleidet, waren die Umstände schuld. Mir persönlich missfällt es, dass wir bei Neandertalern nur nach Unfähigkeiten/Unzulänglichkeiten suchen (typische Ursachensuche bei anderen), aber praktisch niemand in Betracht zieht, dass die Umstände eine entscheidende Rolle spielten (danach würden wir bei eigenen Misserfolgen zuerst suchen). Gibt es historische Beispiele für die Ausrottung von Kulturen innerhalb der H.S. Population? Das wäre ein eindeutiger Beleg dafür, dass es keinerlei genetische/physische Unterschiede braucht, um eine Kulturgruppe komplett verschwinden zu lassen. Im Zuge der Kolonisation sind doch viele indigene Kulturen mächtig unter die Räder geraten.
 
Na ja ein autistisches Verhalten und koordinierte Jagdtechniken gehen irgendwie nicht zusammen.Insoweit halte ich auch diese Theorie wieder mal für Mumpitz.
 
Allerdings ist auch die Schlussfolgerung im original Artikel eigentlich nicht minder interessant:

Daraus dass die Achillessehne des Neandertalers länger ist schliessen die Autoren das er wohl in einer kälteren Umgebung gelebt habe.

;)

Aber mal Spass beiseite: Ich denke immer noch diese Suche nach der einen Besonderheit welche zum Aussterben geführt haben mag ist vollkommen vergebens. Wir werden noch etliche derartige Artikel ertragen müssen und das irgendeiner von ihnen mal plausibler wäre ist wohl schon Wunschdenken.

Zum einem muss man wohl von mehreren Faktoren ausgehen. Zum anderem können wir bei keinem einzelnem der Faktoren eine wirklich glaubwürdige Aussage treffen. Und dies liegt einfach am Mangel an belastbaren Funden. Zwischen 2 Funden an verschiedenen Orten liegen oft Jahrtausende. Und wir könnten nicht einmal anhand dieser Funde ernsthaft sagen wie die Verbreitung der beiden Populationen zu einer bestimmten Zeit war, geschweige denn wie sie sich über die Jahrtausende entwickelte.

Die Aussterbeereignisse waren aber individuell, dort hat es keine fiktiven statistischen Gruppen erwischt sondern einzelne Menschen. Deren Leben wir unmöglich rekonstruieren können. Genau dies müssten wir jedoch tun um eine Abschätzung abzugeben wie denn z.B. eine längere Achillessehne die Jagdtechniken und das Leben in den damaligen Gemeinschaften beeinflusst hat.

Schon die Überlegung "bessere körperliche Ausstattung = mehr Jagderfolg" muss ja sehr kritisch hinterfragt werden, sowohl auf die Vorhandenheit dieser Vorteile als auch auf die Schlussfolgerung daraus. Genausogut können schlechtere körperliche Vorraussetzungen mit kulturellen Methoden ausgeglichen werden - und darüber dann mehr Erfolg generieren.

Die Schlussfolgerung das eine Menschenpopulation ausgestorben ist und eine andere nicht habe mit rein körperlichen Maßnahmen zu tun muss anhand unserer heutigen kulturellen Leistungen fast schon höhnisch erscheinen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Mal kurz zurück zum Aussetzen oder Zurücklassen von alten Menschen und der Frage von Bestattungen:

Zum einen gibt es auch Bestattungsformen, die darin bestehen, die Leiche absichtlich Tieren zum Fraß vorzuwerfen. Sie z.B. Himmelsbestattung ? Wikipedia

Zum anderen gibt es auch andere Denkweisen zum Tod. Wer sich seiner späteren Wiedergeburt ganz gewiss glaubt, geht womöglich auch recht leicht in den Tod. Insofern würde ich unsere Gesellschaft auch nicht nur als christlich geprägt ansehen, sondern auch sehr stark als zweifelnd bis ungläubig.

Wie nun die eine oder andere Neandertaler-Kultur gedacht haben mag, scheint mir doch wenig bekannt.
 
Akuter kulturpessimistischer Anfall....

Was echt neues habe ich jetzt nicht, aber mir geht es einfach nicht aus dem Kopf:
Erstens verstehe ich bis heute nicht, warum man/frau sich so dezidiert auf das Aussterbeereignis Neandertaler konzentriert. Aber gut, er ist der erste Mensch, der als andere Art erkannt wurde und irgendwie die Ikone der früheren Menschenarten.
Aber Fakt ist trotzdem, dass es zahlreiche andere Menschenarten gab, deren Aussterben auch nicht vollumfänglich verstanden wird.

Ein Aussterbeereignis mit „Fehlern“ der betroffene/n Art/en zu erklären ist nicht nur zu kurz gedacht, sondern hat halt immer diesen Beigeschmack der Vorstellung, wir wären immer noch die Krönung der Schöpfung. Alleine die Auswahl des Vergleiches (wir..) hinkt doch schon.

Ich mag mich jetzt ungerecht oder kulturpessimistisch anhören, aber krieg einfach das Gefühl nicht los, dass diesen ganzen „Schuldzuweisungen“ und irgendwelche „Fehlerhaftigkeit“ des Neandertalers einfach wieder nur ein Beispiel für diese zahllosen, ausschließlich vom jeweiligen Zeitgeist beeinflussten Erklärungsmodelle für Änderungen in der Vergangenheit sind.


Gar nicht zu reden von den Assoziationen in Richtung Arbeitslosigkeit, Migrationsdebatten, oder Sozial- und Gesundheitspolitik.....immer sind die Betroffenen selbst schuld....aber nun gut, keine Tagespolitik, genug des Pessismus.

Thomas
 
Lieber Thomas, ich weiß nicht, ob das nun dem Pessismismus entgegenzuwirken geeignet ist. Aber der Senf muss da auch mal mit bei:

Was heißt hier Schuld? Was heißt hier fehlerhafte Ausstattung? Das ist alles immer so relativ. Z.B. unter Pol Pot war es ein ganz erheblicher Nachteil allzu intelligent zu sein. Welche Anpassung nun gerade günstig oder ungünstig ist, ist eben Glückssache. Wenn der Neandertaler ausgestorben ist (was wir wohl annehmen müssen), war seine Anpassung an den Lebensraum im konkreten Zeitraum des Aussterbens offensichtlich mangelhaft. Daran ist natürlich genauso gut der Lebensraum schuld. Ich denke allerdings nicht, dass es eine neue Konkurrenzart HSS geschafft hätte, die Art HSN vollständig auszutilgen. Dafür ist das Gebiet viel zu groß und war sicherlich auch zu schwach besiedelt. Es kann sich also nur um Anpassungsfaktoren hinsichtlich viel durchdringenderere Eigenschaften der Umwelt beziehen. So etwas wie das Klima. Oder der HSN ist eben doch einfach als ganz kleiner Minderheitsaktionär in der großen HSS-AG aufgegangen und allmählich unkenntlich geworden.
 
Ein Aussterbeereignis mit „Fehlern“ der betroffene/n Art/en zu erklären ist nicht nur zu kurz gedacht, sondern hat halt immer diesen Beigeschmack der Vorstellung, wir wären immer noch die Krönung der Schöpfung.
Ich würde sagen, das erklärt unser Interesse am Aussterben der Neandertaler. Indem wir sie abwerten (zu dumm, nicht anpassungsfähig genug, zu gefräßig usw.), werten wir bewusst und unbewusst uns selbst auf. In der Psychologie kennt man diesen Mechanismus, sein schwaches Selbstvertrauen durch die Abwertung anderer aufzupolieren.
 
Da will ich gar nicht widersprechen. Trotzdem kann es ggf. sinnvoll sein, in einer Phase stark begrenzter Ressourcen, die "überflüssigen Esser" nicht mehr mit "durchfüttert", um das Überleben der Gruppe zu sichern. Sei es durch Aussetzen von Neugeborenen oder Zurücklassen von alten Menschen.

Ich könnte mir vorstellen, dass es Gesellschaften gab/gibt, in denen das praktiziert wurde/wird. Für uns, die wir (nehme ich mal an) unsere Sozialisation im Rahmen einer europäisch christlichen Tradition erfahren haben erscheint dies nahezu undenkbar. Dies muss aber nicht überall auf der Welt so sein.
Es gab einige Gesellschaften die Strategien entwickelten, bei Ressourcenverknappung "überflüssige" Esser loszuwerden. Ob solche Strategien auch heute noch genutzt werden, ist mir im Moment unbekannt, die Vergleiche die ich gelesen habe, stammen zumeist aus Ethnographien des 19/- frühen 20. Jh.
Insbesondere der Infanzid war dafür ein häufig genutztes Mittel.
Sehr gut und anschaulich ausgeführt findet man dazu einiges in:
M. Harris, Kannibalen und Könige Die Wachstumsgrenzen der Hochkulturen. DTV, München (1995).
 
Ein Aussterbeereignis mit „Fehlern“ der betroffene/n Art/en zu erklären ist nicht nur zu kurz gedacht, sondern hat halt immer diesen Beigeschmack der Vorstellung, wir wären immer noch die Krönung der Schöpfung. Alleine die Auswahl des Vergleiches (wir..) hinkt doch schon.

Von "Fehlern" im Zusammenhang mit der körperlichen und geistigen Verfassung des Neandertalers zu sprechen, ist natürlich unsinnig. Pflanzen, Tiere und Menschen sind das Ergebnis einer langen Evolution, bei der sich einige ihren wechselnden Umweltbedingungen besser anpassen konnten und überlebten, andere hingegen ausstarben, weil sie der Konkurrenzsituation und ihrer Umwelt auf Dauer nicht gewachsen waren.

Fakt ist, dass der Jetztmensch den Neandertaler allmählich in immer unwirtlichere Gebiete zurückdrängte, sodass sein Lebensraum mehr und mehr eingeengt wurde. Und wenn man auch nur einen äußerst geringen Rückgang der Geburtenrate annimmt, so führte das im Verlauf von zehntausend Jahren schließlich zu seinem Aussterben.

Vermuten kann man, dass der moderne Sapiens dem Neandertaler in einigen entscheidenden Punkten überlegen war. Er war möglicherweise (!) geistig beweglicher, innovativer und gruppendynanischer. Auf die Jahrtausende gerechnet bedeutete das den Untergang des Neandertalers - trotz seines vergleichbar großen (oder möglicherweise größeren) Gehirns!
 
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