Okay, ich habe schon früher mal eine Zusammenstellung für den Privatgebrauch verfasst:
Die Geschichte von Romulus und Remus, wie sie von Livius und in ähnlicher Form auch von Dionysios von Halikarnassos erzählt wurde, kennt wohl jeder. In der Zeit vor diesen beiden Autoren existierten jedoch noch andere, stark abweichende Gründungsmythen. Ich möchte hier einen kurzen Überblick geben:
Schon etliche griechische Autoren befassten sich mit der Gründung Roms:
Der griechische Geschichtsschreiber Kallias von Syrakus (um 300 v. Chr.) schrieb, trojanische Flüchtlinge seien nach Italien gekommen, und dass die Trojanerin Rhome den König Latinos geheiratet und ihm drei Söhne, Rhomos, Rhomylos und Telegonos, geboren hätte. Die Söhne gründeten Rom und benannten es nach ihrer Mutter.
Xenagoras (Lebenszeit unbekannt) schrieb, dass Odysseus und Kirke drei Söhne, Rhomos, Anteias und Ardeias, hatten, von denen jeder eine Stadt gründete, die er nach sich benannte: Rom, Ardea und Antium.
Dionysios von Chalkis (vermutlich 4. Jhdt.) schrieb, dass Rom von Rhomos gegründet worden sei, der vermutlich ein Sohn des Askanios, des Sohnes des Aineias, oder eines gewissen Emathion gewesen sei.
Kephalon von Gergis (ein Pseudonym für Hegesianax von Alexandria) schrieb, Aeneas habe vier Söhne gehabt, Askanios, Euryleon, Rhomylos und Rhomos, von denen Rhomos Rom gegründet habe.
Auch Demagoras von Samos und Agathyllos von Arkadien schrieben die Gründung Roms einem Rhomos, Sohn des Aineias, zu.
Andere berichteten, Rhomos sei der Sohn von Italos und Leukaria, der Tochter des Latinos, gewesen.
Hellanikos (5. Jhdt.) und Damastes von Sigeion (ca. 400) berichteten, Aineias sei mit Odysseus nach Italien gekommen und habe Rom gegründet, das er nach der Trojanerin Rhome benannt habe. Diese Rhome sei der ständigen Reisen überdrüssig gewesen und habe daher die anderen Frauen angestiftet, die Schiffe anzuzünden.
Der Philosoph Aristoteles schrieb, dass heimkehrende Griechen mit gefangenen Trojanerinnen nach Latium verschlagen worden seien. Die Trojanerinnen hätten die Schiffe verbrannt, und da die Griechen nicht fähig gewesen seien, neue zu bauen, hätten sie eben dort bleiben müssen.
Antiochos von Syrakus (2. Hälfte 5. Jhdt.) berichtete, Rom habe sogar schon vor dem Trojanischen Krieg bestanden.
Die Geschichte von der trojanischen Herkunft scheint von den Griechen Süditaliens erfunden worden zu sein, die die wachsende und mächtiger werdende Stadt in ihren Kulturkreis einbinden wollten.
Auch römische Historiker beschäftigten sich schon vor Livius mit der Gründung:
Einige berichteten, Rom sei von Romulus und Remus gegründet worden, die Söhne des Aeneas gewesen seien.
Andere berichteten, Romulus und Remus seien Söhne einer Tochter des Aeneas gewesen, die nach der Ankunft in Italien dem Latinus als Geiseln gestellt worden seien. Als Latinus ohne männlichen Erben starb, seien ihm Romulus und Remus in einem Teil Latiums gefolgt, wo sie Rom gegründet hätten.
Andere berichteten, Aeneas, der die Herrschaft über die Latiner errungen habe, habe drei Söhne gehabt, Ascanius, Romulus und Remus. Nach seinem Tod hätten die drei das Reich aufgeteilt. Ascanius gründete Alba und einige andere Städte. Remus gründete die Städte Capua (benannt nach seinem Urgroßvater Capys), Anchisa (nach Anchises), Aeneia (auf dem Janiculum gelegen) und Rom, das er nach sich benannte.
Es wurde auch berichtet, Rom sei zwar kurz nach dem trojanischen Krieg gegründet worden, aber wieder verödet, und wurde schließlich 15 Generationen später von Kolonisten aus Alba unter der Führung von Romulus und Remus wiederbesiedelt.
Ennius hielt den Romulus für einen Enkel des Aeneas, Q. Fabius Pictor hingegen ließ bereits mehrere Generationen zwischen Aeneas und Romulus liegen.
Livius schrieb übrigens auch die Gründung seiner eigenen Heimatstadt Patavium (=Padua) dem Trojaner Antenor zu. Interessanterweise wird das aber auch in der Aeneis erwähnt, sodass es nicht unbedingt eine Erfindung von Livius sein wird, es sei denn Vergil hat von Livius abgeschrieben. Ich könnte mir aber vorstellen, dass vielleicht beide die Info bereits aus Catos verlorengegangenem "Origines" hatten, das auch etliche solcher Gründungssagen enthalten haben soll.
Kompliziert war auch die Frage, wann denn Rom nun eigentlich gegründet wurde. Da gab es verschiedene Datierungen:
Timaios (ca. 345-ca. 250) datierte sowohl die Gründung Roms als auch Karthagos in das 38. Jahr vor der 1. Olympiade (813 v. Chr.).
Der Senator Lucius Cincius Alimentus (210 Praetor) datierte die Gründung Roms in das 4. Jahr der 12. Olympiade (729 v. Chr.).
Quintus Fabius Pictor datierte sie in das 1. Jahr der 8. Olympiade (748 v. Chr.).
Cato der Ältere datierte sie auf 432 Jahre nach dem Trojanischen Krieg. (Da der Fall Trojas traditionell auf 1183 v. Chr. datiert wurde, wäre das 751 v. Chr.).
Dionysios von Halikarnassos datierte die Gründung in das erste Jahr der siebenten Olympiade, als in Athen Charops sein erstes Jahr als Archon amtierte, also 752 v. Chr.
Durchgesetzt hat sich schließlich die Datierung des berühmten römischen Gelehrten Varro, wonach Rom am 21.4.753 v. Chr. gegründet wurde.
Grundsätzlich fällt also einmal auf, dass die früheren Historiker die Gründung Roms sehr bald nach dem Trojanischen Krieg ansetzten. Das konnte aber so nicht stimmen, da Troja ca. 1200 zerstört, Rom aber der Sage nach erst um 753 gegründet wurde. Ursprünglich gab es zwar tatsächlich die Sage, Aeneas oder ein Sohn von ihm habe Rom gegründet. Als man dann aber die chronologische Unmöglichkeit erkannte, wurden als Überbrückung die Könige von Alba Longa eingeschoben, die von Aeneas abstammen sollten und von denen Romulus abstammen sollte.
Das hier sind sie: (Namen und Regierungsdauer weichen bei den einzelnen antiken Autoren - Dionysios von Halikarnassos, Livius, Ovid, Eusebius - geringfügig voneinander ab)
Ascanius (=Iulus), der Sohn von Aeneas, 38 Jahre lang
Silvius Postuumus, der Halbbruder von Ascanius, Sohn von Aeneas; oder der Sohn von Ascanius, 29 Jahre lang
Aeneas Silvius, der Sohn von Silvius Postumus, 31 oder 39 Jahre lang
Latinus Silvius, der Sohn von Aeneas Silvius, 50 oder 51 Jahre lang
Alba Silvius, der Sohn von Latinus Silvius, 39 Jahre lang
Atys (=Epytus, Capetus), der Sohn von Alba Silvius, 26 Jahre lang
Capys, der Sohn von Atys, 28 Jahre lang
Capetus (II.), der Sohn von Capys, 13 Jahre lang
Tiberinus, der Sohn von Capetus, ertrunken, 8 Jahre lang
Agrippa Silvius, der Sohn von Tiberinus, 35 oder 41 Jahre lang
Romulus Silvius (=Allocius, Allades, Acrota), der Sohn von Agrippa Silvius, vom Blitz erschlagen, 19 Jahre lang
Aventinus, der Sohn von Romulus Silvius, 37 Jahre lang
Proca, der Sohn von Aventinus, 21 oder 23 Jahre lang
Numitor, der Sohn von Proca, rasch von Amulius gestürzt
Amulius, der Sohn von Proca, ermordet, 42 Jahre lang
Numitor (2.) 11 Jahre lang
Romulus und Remus waren Enkel von Numitor.
Die Geschichte von Aeneas, wie sie in der Aeneis Vergils erzählt wurde, ist wohl allgemein bekannt. Livius und Dionysios von Halikarnassos erzählten sie jedoch abweichend, vor allem kam bei ihnen Dido, die Königin von Karthago, nicht vor. Diese stammte ursprünglich auch aus der griechischen Mythologie, hatte dort aber nichts mit Aeneas zu tun. Anscheinend wurde die Verbindung erst von Vergil hergestellt.
Im Folgenden möchte ich daher kurz die Versionen von Livius und Dionysios von Halikarnassos erzählen:
Livius:
Aeneas segelte nach dem Fall Trojas zuerst nach Makedonien, dann nach Sizilien und schließlich nach Latium. Latinus, der König der "Aborigines" genannten Einwohner, brach mit seinem Heer auf, um die ungeliebten Ankömmlinge zu vertreiben. Es kam entweder zur Schlacht, die Latinus verlor, woraufhin er Frieden schloss und dem Aeneas die Hand seiner Tochter Lavinia gab, oder aber es wurden gleich ein Vertrag und die Verschwägerung beschlossen. Aeneas gründete eine Stadt, die er nach seiner Gattin Lavinium nannte, und aus der Ehe ging der Sohn Ascanius hervor. (Achtung! Bei Vergil ist Ascanius der Sohn von Aeneas' erster Gattin Kreusa!) Der Rutulerkönig Turnus, der früher mit Lavinia verlobt gewesen war, akzeptierte seine Zurücksetzung aber nicht und griff an. Latiinus fiel in einer Schlacht. Aeneas folgte ihm als König. Er verschmolz Aborigines und Trojaner zu einem neuen Volk, den Latinern, und gewann den Krieg. Ihm folgte sein Sohn Ascanius, der Alba Longa gründete.
Dionysios von Halikarnassos:
Nach dem Fall Trojas schloss Aeneas als Führer der Überlebenden mit den Achaiern einen förmlichen Vertrag, in dem ihm und seinen Leuten freier Abzug gewährt wurde. (Übrigens hat Aeneas bei Dionysios mehrere Söhne.) Zunächst segelte er nach Pallene auf Chalkidike, wo verbündete Thraker, die Krusaier, herrschten. Dort überwinterten die Trojaner und errichteten die Stadt Aineia, wo ein Teil zurückblieb. Dann segelten sie nach Delos, wo König Anios regierte. (Dessen Tochter Lavinia, eine Prophetin, begleitete einer Version zufolge fortan die Trojaner.) Die Reise ging weiter über Kythera, Arkadien, Zakynthos, Leukas, Ambrakia, Epirus und Sizilien. (Dionysios erwähnt allerdings auch noch abweichende Versionen.) Schließlich landete Aeneas in Italien. Latinus, der König der Aborigines, führte gerade Krieg gegen die Rutuler und hatte bereits mehrere Niederlagen erlitten. Latinus zog den Neuankömmlingen mit seiner Armee sofort entgegen. Doch dann schloss er auf göttliche Eingabe hin mit Aeneas einen Vertrag: Aeneas erhielt ein Stück Land, auf dem er die Stadt Lavinium gründete. Im Gegenzug mussten die Trojaner den Aborigines Waffenhilfe gegen die Rutuler leisten. Lavinium war nach Lavinia, der Tochter des Latinus, benannt; nach anderer Version nach Lavinia, der Tochter von König Anios von Delos, die während des Baus krank wurde und starb. Aeneas heiratete Lavinia, die Tochter des Latinus. Die Trojaner verschmolzen mit den Aborigines, nannten sich nun gemeinsam Latiner. Der Rutulerführer Tyrrhenus, ein Neffe von Latinus' Gattin Amata, war beleidigt, dass er nicht Lavinia bekommen hatte, und begann Krieg. In einer großen Schlacht fielen Latinus und Tyrrhenus, aber letztlich siegte Aeneas und herrschte fortan allein über die Latiner. Einige Jahre später verbündeten sich die Rutuler mit dem Etruskerkönig Mezentius gegen Aeneas, der in einer großen Schlacht spurlos verschwand, angeblich indem er unter die Götter versetzt wurde. Auf ihn folgte sein ältester Sohn Ascanius. Er musste einen weiteren Krieg gegen Mezentius führen und gründete eine neue Stadt, Alba. Auf ihn folgte sein Halbbruder Silvius (Sohn von Aeneas und Lavinia). Im Folgenden führte Dionysios nun die Könige von Alba auf. Numitors Enkel Romulus und Remus gründeten schließlich Rom als Kolonie Albas.
Den Beginn der Sage von Romulus und Remus stellte er auch leicht abweichend dar:
Numitor, der rechtmäßige König Albas, wurde von seinem Bruder Amulius gestürzt. Amulius ließ Numitors Sohn Aegestus ermorden und zwang Numitors Tochter Ilia (alias Rhea Silvia), Vestalin zu werden. Als Vestalin wurde sie jedoch vergewaltigt, entweder durch einen Verehrer oder durch Amulius oder durch einen Gott. Sie wurde schwanger und gebar Zwillinge. Über Ilias weiteres Schicksal gehen die Meinungen auseinander: Entweder wurde sie hingerichtet oder auf Bitten von Amulius' Tochter nur eingesperrt und später von ihren Söhnen befreit. Die Zwillinge wurden im Tiber, der über die Ufer getreten war, ausgesetzt, strandeten, als das Wasser zurückging, und wurden von einer Wölfin gesäugt. Hirten fanden sie; einer von ihnen, Faustulus, der die wahre Identität erahnte, zog sie mit seiner Frau auf; sie nannten sie Romulus und Remus. Die weitere Darstellung der Gründungsgeschichte folgt im Wesentlichen der bekannten von Livius. Einen Unterschied gibt es jedoch bzgl. des Todes von Remus: Romulus erschlug seinen Bruder nicht einfach wie bei Livius, sondern es kam zwischen den beiden zu einem Streit über den genauen Ort der Stadtgründung und die Benennung der Stadt. Numitor entschied, dass der Vogelflug entscheiden sollte; aber auch dessen Ergebnis sorgte wieder für Streit. Schließlich kam es zum bewaffneten Kampf zwischen den Anhängern der beiden Brüder, in dem Remus fiel. Faustulus hatte die Kämpfer zu trennen versucht und war dabei ebenfalls umgekommen. Als Alternativversion erwähnt Dionysios dann aber auch noch die von Livius bekannte mit dem Mauersprung.
In Wahrheit entstand Rom wohl durch die Vereinigung von latinischen und sabinischen Siedlungen. Das könnte die Sage vom Raub der Sabinerinnen und von der gemeinsamen Herrschaft von Romulus und dem Sabiner Titus Tatius erklären.
Möglicherweise ist der Name "Rom" in Wahrheit von einem etruskischen Geschlecht namens Rumina abgeleitet.