Geschichtsschreibung: Warum meist nur Machtpolitik und Militär?

Apvar

Premiummitglied
Mir ist mit der Zeit aufgefallen das meist nur über Macht, Machtpolitik und Militär in der Geschichtsschreibung geschrieben wird. Kaum über die Lebensbedingungen der Menschen. Vor allem nicht der einfachen Menschen.
Sind einfache Menschen nicht interessant genug? Oder woran liegt es?

Apvar
 
Ich würde sagen, dass das eher drauf ankommt, was du so liest. Wirf mal einen Blick in die Wehlersche Gesellschaftsgeschichte oder befasse dich ganz allgemein mit den Ansätzen der historischen Sozialwissenschaft :winke:
 
Ich bin auch der Ansicht, dass Du das unvollständig siehst.

Gerade zur Neuzeit gibt es eine Vielzahl von Ansätzen betr. Sozialgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, die die Politik- und Militärgeschichte ergänzen.

Hast Du da ein spezielles Land oder einen konkreten Zeitraum im Blick?
 
Eigentlich die Antike sowie "das Mittelalter" und die frühe Neuzeit, also etwa 1600 bis 1700. Kann sein das ich bei meiner Literatur zu Einseitig bin, aber von der Ausbildung bin ich eher Naturwissenschaftlich orientiert, nicht Geisteswissenschaftlich. Soziologie in der Schule wurde uns etwas schwammig erklärt. Man soll in einem System sein, es beschreiben, aber nicht beeinflussen. Das funktioniert aber nicht, weil wenn ich in einem System bin oder auch messe beeinflusse ich es. Das auch als Hintergrund zu meiner Frage.

Apvar
 
Mir ist mit der Zeit aufgefallen das meist nur über Macht, Machtpolitik und Militär in der Geschichtsschreibung geschrieben wird. Kaum über die Lebensbedingungen der Menschen. Vor allem nicht der einfachen Menschen.
Sind einfache Menschen nicht interessant genug? Oder woran liegt es?
Wenn ich dich richtig verstehe, meinst du die literarischen Quellen, oder?

Schreibmaterialien waren in der Vergangenheit teuer, also schrieb man nur das allerwichtigste auf. Wozu über den Alltag unbedeutender Bauern, Handwerker oder Kaufleute berichte, über den eh jeder Bescheid wusste? Nur das außergewöhnliche, Leistung war von Wichtigkeit.

Dies zur Produktion der literarischen Quellen.

Erschwerend kommt natürlich auch eine Vernachlässigung der Alltagsgeschichte durch die Geschichtswissenschaft hinzu, die sich erst um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert im Methodenstreit der Geschichtswissenschaft gegenüber der politischen Geschichte durchsetzen konnte. Und, woher sollte man aus einer Zeit vor dem regelmäßigen Erscheinen von Periodika, also aus einer Zeit vor 1750/1810 auch Quellen für eine Kultur- und Alltagsgeschichte nehmen? Hier lagen doch nur eher zufällige Informationen vor, vor allem aber auch keine Namen von Personen, an denen man Sozial- oder Alltagsgeschichte hätte festmachen können, weil jede Heraushebung ja bedeutete, dass diese Person etwas eben nicht Alltägliches bewirkt, vollbracht, gemacht hatte.
Und die Archäologie, heute Quellenbeschafferin par excellence in Sachen Alltagsgeschichte? Die war auch noch lange lange eher auf der Suche nach den Kunstschätzen oder aber suchte zu bestimmen ob ein Pfostenloch germanischen oder slawischen Ursprungs war.
 
Zuletzt bearbeitet:
Die Zeiten, in denen überwiegend "Ereignisgeschichte" geschrieben wurde, sind vorbei. In den letzten Jahrzehnten schlug das Pendel teilweise schon fast ins andere Extrem um. Im Band über Russland der "Fischer Weltgeschichte" z. B. wird streckenweise fast nur über die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte geschrieben. Das geht sogar so weit, dass im Abschnitt über den Stalinismus nur die Entwicklung von Landwirtschaft und Industrie unter Stalin behandelt wird, hingegen kein Wort über Stalins Aufstieg, Regierung, Säuberungen etc. verloren wird, ohne Vorkenntnisse der Text also gar nicht so wirklich verständlich sein kann.
 
@ EQ

Genau,ich meinte die literarischen Quellen. In der Archäologie geht man ja doch in den letzten Jahrzehnten mehr in Richtung Alltagsleben. vielleicht weil man die meisten schätze schon gefunden hat.

Apvar
 
Hm also wir haben gleich im ersten Semester extrem auf Gesellschafts-, Sozial- und Verfassungsgeschichte gesetzt.
Extrem viel Wehler und Huber gelesen.

Außerdem hat mein Dozent uns Texte zu Umweltgeschichte, Geschlechtergeschichte, Medizingeschichte, etc (immer auf das Seminarthema Vormärz bezogen) lesen lassen.

Die politik- und militärgeschichtliche Vormacht bröckelt eigentlich mMn bereits seit dem Anfang der "Annales-Geschichtsschreibung" (siehe Zeitschrift: Annales).
 
Deine Antwort gibt Rätsel auf. Meinst du nun die literarischen Quellen, also die aus der Vergangenheit überkommenen Schriftzeugnisse oder meinst du die Veröffentlichungen der gegenwärtigen Historiker? Dein Verweis auf die Archäologie impliziert nämlich entgegen des verwendeten Begriffs der literarischen Quellen letzteres. Da könnte ich auch nur widersprechen.

Was die Archäologie angeht: Diese hat sich, wie auch die Geschichtswissenschaft ganz allmählich verwissenschaftlicht und Methoden entwickelt (und es wird auch in Zukunft noch neue Methoden geben), man hat eben entdeckt, dass man, wenn man einfach drauflosgräbt und nur Kunstschätze hebt, sehr viel unwiederbringlich zerstört. Deshalb ist Archäologie heute etwas ganz anderes, als Archäologie 1950 oder 1900, wobei schon um 1900, also etwa zeitgleich zum Methodenstreit der Geschichtswissenschaft, in der Archäologie entdeckt wurde, wie aufschlussreich Erdverfärbungen sein können - es ist eben nichts so dauerhaft, wie ein Loch, im Guten wie im Schlechten.
 
Wie gesagt die schriftlichen Quellen. Titus Livius, Cäsar und Co erwähnen kaum etwas über das Leben der ärmeren Schichten.
Selbst bei neueren Büchern, welche ich gelesen habe, aus dem Hause Philip Zabern war das leben der einfachen Bevölkerung fast nicht existent.
Vielleicht habe ich auch die falschen Bücher gekauft, für diese Fragestellung.

Apvar
 
Ein Aspekt ist wohl, dass antike Geschichtsschreiber sich nicht als Historiker im heutigen Sinne verstanden, sondern dem Leser ein literarisch ansprechendes Lesevergnügen bieten wollten, manchen ging es überhaupt mehr um die Unterhaltung. Für diese Zwecke eignet sich Ereignisgeschichte mit Machtkämpfen, Schlachten etc. nun einmal mehr als langwierige Beschreibungen sozialer Zustände oder wirtschaftlicher Entwicklungen. Außerdem war Ereignisgeschichte für antike Historiker auch eher fassbar und darstellbar als komplexe soziale und ökonomische Vorgänge, sie hatten auch kaum irgendwelche Statistiken zur Verfügung, aus denen sie Veränderungen ablesen konnten. Daher stellten sie Entwicklungen normalerweise als Folge von Entscheidungen irgendwelcher Machtträger dar und vernachlässigten die tieferen Ursachen.
 
Warum meist nur Machtpolitik und Militär?
Weil der Zusammenhang viel einfacher darzustellen ist, selbst wenn man die Situation der "einfachen Leute" berücksichtigt. Wenn Krieg ist, geht es vielen Leuten schlecht, und ein paar wenige profitieren. Das versteht jeder, da es sich an einfachen und anschaulichen Beispielen illustrieren lässt.

Bis man aber erläutert hat, warum die Situation der "einfachen Leute" zu bestimmten sozialen Konstellationen führen kann, die Macht, Politik und Militär involvieren, haben allzuviele Adressaten umgeschaltet, da es ein gutes Stück komplexer ist.

Und jetzt sind wir noch nicht mal bei der politischen Frage, wer denn nun das siebentorige Theben baute...
 
Wie gesagt die schriftlichen Quellen. Titus Livius, Cäsar und Co erwähnen kaum etwas über das Leben der ärmeren Schichten.
Zu diesem Aspekt hatte ich dir ja schon folgendes geschrieben:
Schreibmaterialien waren in der Vergangenheit teuer, also schrieb man nur das allerwichtigste auf. Wozu über den Alltag unbedeutender Bauern, Handwerker oder Kaufleute berichte, über den eh jeder Bescheid wusste? Nur das außergewöhnliche, Leistung war von Wichtigkeit.
Und Caesar verfolgte mit seinem Bericht natürlich ganz andere Absichten, als eine neutrale* historiographische Darstellung.

Selbst bei neueren Büchern, welche ich gelesen habe, aus dem Hause Philip Zabern war das leben der einfachen Bevölkerung fast nicht existent.
Vielleicht habe ich auch die falschen Bücher gekauft, für diese Fragestellung.
Das wird dann wohl so sein, dass das die falschen Bücher für die Fragestellung waren.

Ein Aspekt ist wohl, dass antike Geschichtsschreiber sich nicht als Historiker im heutigen Sinne verstanden, sondern dem Leser ein literarisch ansprechendes Lesevergnügen bieten wollten, manchen ging es überhaupt mehr um die Unterhaltung. Für diese Zwecke eignet sich Ereignisgeschichte mit Machtkämpfen, Schlachten etc. nun einmal mehr als langwierige Beschreibungen sozialer Zustände oder wirtschaftlicher Entwicklungen. Außerdem war Ereignisgeschichte für antike Historiker auch eher fassbar und darstellbar als komplexe soziale und ökonomische Vorgänge, sie hatten auch kaum irgendwelche Statistiken zur Verfügung, aus denen sie Veränderungen ablesen konnten. Daher stellten sie Entwicklungen normalerweise als Folge von Entscheidungen irgendwelcher Machtträger dar und vernachlässigten die tieferen Ursachen.

Naja... die römische Geschichtsschreibung hat ihre Wurzeln eigentlich in einer fast schon rituell zu nennenden Familienüberlieferung, es ging zunächst darum die Vorfahren, deren Totenmasken man auch ausstellte, in Erinnerung zu behalten.


*Es ist überhaupt fraglich, dass es eine neutrale Geschichtsdarstellung geben kann, wohl allenfalls um Neutralität bemühte.
 
Schreibmaterialien waren in der Vergangenheit teuer, also schrieb man nur das allerwichtigste auf. Wozu über den Alltag unbedeutender Bauern, Handwerker oder Kaufleute berichte, über den eh jeder Bescheid wusste? Nur das außergewöhnliche, Leistung war von Wichtigkeit.
Das überzeugt mich nicht, dazu war die griechische und römische Literaturproduktion viel zu vielfältig. Varro z. B. schrieb über 600 Bücher, da kann wohl kaum jeder Satz drinnen von absoluter Wichtigkeit gewesen sein. Lukian fabrizierte auch alles Mögliche, was zwar nett zu lesen, aber nicht gerade weltbewegend ist. Ich verweise auch auf diverse Buntschriftsteller oder darauf, dass schon in der Antike allerhand Kitschromane ("Daphnis und Chloe", "Chaireas und Kallirhoe" etc.) von geringem literarischem Wert und keinerlei Informationsgehalt geschrieben wurden, wobei sich Letztere wohl an ein breiteres Publikum richteten. Teilweise ging es auch um die Selbstdarstellung, indem z. B. etliche Redner ihre Reden in Buchform veröffentlichten. Die meisten Autoren vor allem der Römer waren relativ wohlhabend oder hatten zumindest wohlhabende Förderer und schrieben für eine einigermaßen wohlhabende Leserschaft, da kann die Kostspieligkeit der Schreibmaterialien wohl keine große Rolle gespielt haben.

Naja... die römische Geschichtsschreibung hat ihre Wurzeln eigentlich in einer fast schon rituell zu nennenden Familienüberlieferung, es ging zunächst darum die Vorfahren, deren Totenmasken man auch ausstellte, in Erinnerung zu behalten.
Mindestens ebensowichtig als Wurzel war aber die priesterliche Annalistik, und da war klar, dass Ereignisse notiert wurden.
 
Das überzeugt mich nicht, dazu war die griechische und römische Literaturproduktion viel zu vielfältig. Varro z. B. schrieb über 600 Bücher, da kann wohl kaum jeder Satz drinnen von absoluter Wichtigkeit gewesen sein. Lukian fabrizierte auch alles Mögliche, was zwar nett zu lesen, aber nicht gerade weltbewegend ist. Ich verweise auch auf diverse Buntschriftsteller oder darauf, dass schon in der Antike allerhand Kitschromane ("Daphnis und Chloe", "Chaireas und Kallirhoe" etc.) von geringem literarischem Wert und keinerlei Informationsgehalt geschrieben wurden, wobei sich Letztere wohl an ein breiteres Publikum richteten. Teilweise ging es auch um die Selbstdarstellung, indem z. B. etliche Redner ihre Reden in Buchform veröffentlichten. Die meisten Autoren vor allem der Römer waren relativ wohlhabend oder hatten zumindest wohlhabende Förderer und schrieben für eine einigermaßen wohlhabende Leserschaft, da kann die Kostspieligkeit der Schreibmaterialien wohl keine große Rolle gespielt haben.

Du rekurrierst nun aber auf einen recht eng umgrenzten Teil der Geschichte, ich hatte dies breiter aufgefasst. Desweiteren - zumindest habe ich das so verstanden - war in der Fragestellung von der Historiographie die Rede, du gehst nun viel weiter, schon in die Literaturproduktion.
 
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