Wann entwickelten sich Großstädte?

Wulf

Neues Mitglied
Die Frage steht oben. Ich meine damit, wann sich im Mittelalter wirkliche Großstädte gebildet haben und wann es überwiegend nur verstreute Burgen und Dörfer gegeben hat.

Vielen Dank schon mal
 
Von welcher Region sprechen wir?

Was verstehst du unter einer Großstadt? Heutzutage gilt als "Midestgrenze" für die Anerkennung als Großstadt in D eine Einwohnerzahl von 100.000, wenn ich das richtig im Kopf habe. Städte dieser Größenordnung gab es in der Zeit, die wir Europäer als Mittelalter ansehen, durchaus, aber nicht überall auf der Welt.

Viele Grüße

Bernd
 
Auf Deutschland bezogen, gab es im Mittelalter wohl überhaupt keine Großstädte, zieht man die heutige Definition (> 100 000 Einwohner) zu Rate.

Häufig ist zu lesen, um 1000 sei die größte "Stadt" der Welt Angkor in Kambodscha gewesen. Allerdings entspricht deren eher dezentrale Anlage wohl nicht den durch ihre Mauern scharf abgegrenzten europäischen Städten.
 
Die Frage steht oben. Ich meine damit, wann sich im Mittelalter wirkliche Großstädte gebildet haben und wann es überwiegend nur verstreute Burgen und Dörfer gegeben hat.

Vielen Dank schon mal

Im Raum des heutigen Deutschland gab es einige für die Menschen des Mittelalters große Städte, allerdings keine "Großstädte" nach heutigem Verständnis mit über 100 000 Einwohnern. Die größten Städte des 15. Jh. waren z.B.: [1]

Köln über 30 000 Einwohner

Nürnberg 22 000 Einwohner

Danzig 22 000 Einwohner

Lübeck 22 000 Einwohner

Hamburg 22 000 Einwohner

Straßburg 21 000 Einwohner

Ulm 20 000 Einwohner

Augsburg 18 000 Einwohner

Braunschweig 17 000 Einwohner

Breslau 14 000 Einwohner

Anders sah es bei einiigen Städten Westeuropas aus. So zählte Neapel im 15. Jh. 150 000 Einwohner, Venedig 90 000, Rom hingegen nur 35 000 und erst im 17. Jh. wurde dort die Grenze von 100 000 Einwohnern überschritten. Eine wirkliche Großstadt auch im heutigen Sinn war Paris, das 1330 bereits 250 000 - 270 000 Einwohner zählte, während London im Jahr 1377 nur 35 000 Einwohner hatte. Erst im Verlauf des 16. Jh. wuchs in England die städtische Bevölkerung beträchtlich, sodass zu Beginn des 17. Jh. ein knappes Fünftel der Bevölkerung von England in städtischen Siedlungen lebte. Aber auch zu diesem Zeitpunkt betrug die durchschnittliche Größe der Provinzstadt nur etwa 5000 Einwohner. [1]

Die Entstehung von Großstädten im heutigen Sinn ist also eine Entwicklung der Neuzeit und erst seit der Industrialisierung im 19. Jh. kam es zu einer förmlichen Bevölkerungsexplosion.

[1] Raum und Bevölkerung in der Weltgeschichte, Bevölkerungs-Ploetz, Zweiter Teil, Würzburg
 
Eine überaus rasch wachsende Stadt war auch Amsterdam, das sich von ca. 35.000 1557 auf über 100.000 1622 steigerte und damit Antwerpen als größte Stadt der Niederlande überholte. Antwerpen hingegen fiel vorübergehend sogar wieder auf unter 100.000.

Auch die Verstädterung war sehr unterschiedlich: Europaweit lebten in der frühen Neuzeit nur knapp 5% der Menschen in Städten, in Flandern und Italien waren es hingegen bis zu 30%.
 
Und wie kam es dazu, dass in anderen Ländern Europas wesentlich mehr Menschen in Städten lebten? War die "Subsistenzwirtschaft" (also das Nutzen der Felder zum Ernähren der eigenen Familie, nicht um die Ernte zu verkaufen) bei uns noch bedeutender als in anderen Ländern?
Städte müssten ja vor allem für Handwerker und Beamte von Bedeutung gewesen sein.
 
War nicht während des Mittelalters (wie auch zuvor) die Hauptstadt des oströmischen Reiches - Konstantinopel - eine veritable Großstadt?
 
Und wie kam es dazu, dass in anderen Ländern Europas wesentlich mehr Menschen in Städten lebten?

Besonders eklatant ist der Unterschied zu den arabischen Staaten Europas, wo etwa für Cordoba um 1000 eine Einwohnerzahl von 450.000 angenommen wird, oder Palermo im sizilianischen Emirat, wo 350.000 Einwohner geschätzt werden.
 
War nicht während des Mittelalters (wie auch zuvor) die Hauptstadt des oströmischen Reiches - Konstantinopel - eine veritable Großstadt?

Die Bevölkerungsgeschichte von Konstantinopel ist nur schätzungsweise zu rekonstruieren. Unter Theodosius I. wird die Einwohnerzahl um 395 auf über 500 000 bis fast eine Million geschätzt. 746/47 gab es starke Verluste durch die Pest, danach erholte sich die Einwohnerzahl wieder durch systematische Neuansiedlungen besonders aus dem südlichen Griechenland, wo ein Verdrängungsprozess durch die slawische Expansion eingesetzt hatte.

Bei der Einnahme durch die Kreuzfahrer 1204 hatte Konstantinopel angeblich 300 000 waffenfähige Männer, sodass eine Einwohnerzahl von bis zu einer Million geschätzt werden kann. Durch die lareinische Eroberung und ihr folgende Feuersbrünste sank die Einwohnerzahl beträchtlich und bei der Eroberung der Stadt durch die Türken 1453 hatte sie nur noch etwa 50 000 Einwohner.

Dank der Verpflanzungsmaßnahmen von Sultan Mehmed. der aus allen Städten Kleinasiens, aus dem slawischen Mazedonien und anderen Reichsteilen Zuwanderer holte (darunter zahlreiche Juden), stieg die Einwohnerzahl Konstantinopels wieder rasch an. Unter Sultan Soliman dem Prächtigen erreichte die Stadt um 1575 wieder etwa 500 000 Einwohner.
 
Ich meine damit, wann sich im Mittelalter wirkliche Großstädte gebildet haben und wann es überwiegend nur verstreute Burgen und Dörfer gegeben hat.

In diesem Bild fehlen die kleinen Städte, die für die damalige Sozialstruktur im HRR eine größere Rolle gespielt haben dürften als die wenigen oben erwähnten großen Städte; und die gab es in ggroßer Zahl.
 
Bei diesen großen Zahlen für Antike und Mittelalter muss ich immer an den ollen Delbrück denken.

Wie gesichert ist das eigentlich, weil die Versorgung einer 1/2-Millionen-Metropole selbst bei geeignetem Hinterland logistisch eine beachtliche Aufgabe darstellt.

Steigen die Größenangaben der Stadte eigentlich umgekehrt proportional zur Quellenlage? :D
 
Und wie kam es dazu, dass in anderen Ländern Europas wesentlich mehr Menschen in Städten lebten? War die "Subsistenzwirtschaft" (also das Nutzen der Felder zum Ernähren der eigenen Familie, nicht um die Ernte zu verkaufen) bei uns noch bedeutender als in anderen Ländern?
Städte müssten ja vor allem für Handwerker und Beamte von Bedeutung gewesen sein.

Ich würde mal sagen: weil im Feudalsystem, wie es in deutschen Landen im Frühmittelalter praktiziert wurde, für die Grundherren zunächst kein Interesse darin lag, Städte zu gründen. Herrschaftsmittelpunkt waren die Burgen, von dort aus kontrollierten die Grundherren die landwirtschaftlichen Einkünfte. In der großen Welle der hochmittelalterlichen Stadtgründungen dürften die allermeisten im Rahmen einer Art "Wirtschaftsförderung" entstanden sein - der Status der "Stadt" hatte keinen Selbstzweckcharakter, sondern war mit der Erteilung von partieller Abgabenbefreiung, Markt- und Schankrechten etc. verbunden, um Händler und Handwerker anzuziehn.
Zumindest in den Anfangszeiten dürfte sehr penibel kontrolliert worden sein, wer sich in den Städten ansiedelt. Mit dem Erfolg von Stadtgründungen waren immer auch Risiken verbunden, da größere Städte plötzlich in der Lage waren, sich militärisch gegen ihre Herren zu behaupten. Und bei vielen größeren Stadtgründungen kam es vor, dass sie sich schließlich gegen ihre Grundherren erhoben - so entstand auch manche "Freie Reichsstadt".
 
Bei diesen großen Zahlen für Antike und Mittelalter muss ich immer an den ollen Delbrück denken.

Wie gesichert ist das eigentlich, weil die Versorgung einer 1/2-Millionen-Metropole selbst bei geeignetem Hinterland logistisch eine beachtliche Aufgabe darstellt.

Steigen die Größenangaben der Stadte eigentlich umgekehrt proportional zur Quellenlage? :D
Es gab auch im Mittelalter schon Vorläufer von Volkszählungen, auch wenn sie etwas anders liefen als heute. Gezählt wurden meist nicht die Einwohner direkt, sondern die Zahl der "Feuerstellen", aus denen sich dann, ausgehend von einer durchschnittlichen Zahl von Personen pro Feuerstelle, die Zahl der Einwohner hochrechnen ließ.
Hier einige Beispiele:
Frankfurt hatte 1463 2593 Feuerstellen und 1495 2621.
Leipzig hatte 1474 519 Feuerstellen und 1489 734.
Antwerpen hatte 1472 4510 Feuerstellen und 1496 6586.
Amsterdam hatte 1470 1869 Feuerstellen und 1494 1919.
Solche Zählungen wurden vor allem in Städten durchgeführt, teilweise aber auch am Land von Grundherren. In Dörfern wurden oft die Häuser erfasst.
Es gab aber auch schon Versuche der Regierung, eine Art Inventar des Reiches aufzunehmen, z. B. in England das "Domesday Book" 1086 oder in Dänemark das "Jordebog" 1231.
 
Es gab auch im Mittelalter schon Vorläufer von Volkszählungen, auch wenn sie etwas anders liefen als heute. Gezählt wurden meist nicht die Einwohner direkt, sondern die Zahl der "Feuerstellen", aus denen sich dann, ausgehend von einer durchschnittlichen Zahl von Personen pro Feuerstelle, die Zahl der Einwohner hochrechnen ließ.
Hier einige Beispiele ...

Das ist ein nachvollziehbares Vorgehen, und Feuerstellen bzw. Unterkünfte laufen nicht weg.

Mir ging es eher um behauptete Einwohnerzahlen von 300.000 bis 1 Mio., bei denen man sich die Zählungen kaum vorstellen kann, ganz zu schweigen von der Logistik.
 
Mir ging es eher um behauptete Einwohnerzahlen von 300.000 bis 1 Mio., bei denen man sich die Zählungen kaum vorstellen kann, ganz zu schweigen von der Logistik.
Ob das machbar ist, hängt wohl vor allem von der Entwicklung der Bürokratie ab. Schließlich gab es schon im Altertum Volkszählungen in Ägypten und im Römischen Reich. Auch in China wurden schon in der Antike Volkszählungen durchgeführt. Letztlich kommt es wohl vor allem darauf an, ob man genügend schreibkundige Personen hat.
 
Eine überaus rasch wachsende Stadt war auch Amsterdam, das sich von ca. 35.000 1557 auf über 100.000 1622 steigerte und damit Antwerpen als größte Stadt der Niederlande überholte. Antwerpen hingegen fiel vorübergehend sogar wieder auf unter 100.000.

Die Schlede, woran Antwerpen liegt, wurde im 80-jährigen Krieg blockiert. Und auch nach dem Westfälischen Frieden. Antwerpen war eine Handelsstadt, welche auf den Hafen angewiesen war.
Hafen von Antwerpen ? Wikipedia
Zum anderen mussten nach der Eroberung durch spanische Truppen 1585 die gesamten Protestanten die Stadt verlassen.

Apvar
 
Nach heutigen Maßstäben gab es im hochmittelalterlichen Europa (13. Jahrhundert) wohl kaum eine Hand voll Großstädte, im katholischen Gebiet sogar nur drei, nämlich Paris (200.000-300.000), Venedig (ca. 100.000) und Palermo (ca. 100.000). Nach damaligen Größenverhältnissen konnte man eine Stadt mit 5.000-10.000 Einwohnern wohl schon als überregional wichtige Ansiedlung betrachten (schließlich hatte meine Heimatstadt Osnabrück damals mickrige 3.000-5.000 Einwohner und war schon eine nicht ganz unbedeutende Hansestadt). Die für uns erstmal fast lächerlichen Ausmaße einer mittelalterlichen Stadt erkennt man noch heute auf fast jedem Stadtplan an den Ringstraßen - man muss sich natürlich bewusst werden, dass die Bebauung damals noch deutlich dichter war als heute und die Menschen teilweise gerade zu gestapelt wurden. So lebten im mittelalterlichen Köln auf gerademal 400 ha 30.000-50.000 Menschen, was einer Bevölkerungsdichte von etwa 60.000 Menschen pro km2 entspricht (zum Vergleich: Berlin hat heute 3000 Einwohner pro km2).
Allgemein kann ich die Aussage, im HRR habe es weniger Städte gegeben als anderswo, nicht bestätigen. Mit Oberitalien und Flandern umfasste es die am dichtesten besiedelten Regionen Europas, und in Deutschland gab es - wie heute - zwar nur wenige echte Metropolen, dafür aber ein dichtes Netz an Klein- und Mittelstädten. In England gab es weniger, in Frankreich nur geringfügig mehr Städte.
Die Entwicklung des Stadtbürgertums setzte - wie im Grunde alle entscheidenden Veränderungen im Mittelalter - im 11. und 12. Jahrhundert ein. Im 15. Jahrhundert zählte man in Deutschland dann die beeindruckende Zahl von ca. 3000 Städten, freilich hatten nur 20-30 mehr als 10.000 Bewohner.

Folgende Daten beziehe ich aus verschiedenen Quellen (hauptsächlich Wikipedia :D) und meinen eigenen Schätzungen, wie groß welche Stadt in Folge ihrer Bedeutung etwa gewesen sein musste. Ich kann natürlich für keine Zahl garantieren, bitte sagt mir, wenn euch irgendwas absurd erscheint oder eine bedeutende Stadt fehlt.

Größte Städte des katholischen Europas 1300:

Stadt Einwohnerzahl Gebiet

Paris 250.000 Königreich Frankreich
Venedig 100.000 Republik Venedig
Palermo 100.000 Königreich Sizilien
Mailand 90.000 Heiliges Römisches Reich
Florenz 80.000 Heiliges Römisches Reich
Genua 80.000 Republik Genua
Bologna 60.000 Heiliges Römisches Reich
Gent 60.000 Heiliges Römisches Reich
London 50.000 Königreich England
Köln 50.000 Heiliges Römisches Reich
Brügge 40.000 Königreich Frankreich
Rouen 40.000 Königreich Frankreich
Barcelona 40.000 Königreich Aragonien

Die Daten, die auf der Zählung von Feuerstellen basieren, halte ich für recht solide. Allgemein kann man ja pro Feuerstelle von 4-5 Personen ausgehen.
 
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