These von der Banalität des Bösen

ursi

Moderatorin
Teammitglied
Ich habe heute ein Interview der Welt Online mit Gabriel Bach, einer der Anklagevertreter beim Eichmannprozess unter Pressenachrichten reingstellt.

In diesem Interview geht es auch um Hannah Arendt's Buch Eichmann in Jerusalem. Bach sagt, dass sie einige der wichtigsten Dokumente ins Gegenteil verkehrt habe (siehe Hervorhebungen).

Hier der Auszug aus dem Interview:

Welt Online: Können Sie den Gedanken Ahrendts, dass Eichmann getrieben war von einer "ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte", folgen?

Bach: Nein. Arendt hat wesentliche Fakten falsch dargestellt oder ignoriert. Die Angelegenheit war von Anfang an seltsam. Kurz vor Beginn des Prozesses machte die Nachricht die Runde, dass eine amerikanische Philosophin einen kritischen Bericht über den Prozess plane. Ich ließ ihr daraufhin mitteilen, dass ich mich gern mit ihr unterhalten würde. Sie ließ mich daraufhin wissen, dass sie nicht bereit sei, mit irgendjemand von der Staatsanwaltschaft zu sprechen. Das hat mich gewundert, aber ich sorgte dafür, dass sie Zugang zu allen Beweismaterialien bekam, die sie einsehen wollte. Als ich später ihr Buch las, war ich um so erstaunter, dass sie einige der wichtigsten Dokumente zum Teil ins Gegenteil verkehrt hatte – unter anderem die, die beweisen, dass Eichmann klar Führerbefehle hintergangen hatte, um noch mehr Schaden anzurichten. Ob es einfach Nachlässigkeit ihrerseits war, weiß ich nicht, ich habe nicht mir ihr gesprochen.

http://www.welt.de/kultur/history/a...Leichenberge-und-stritt-fuer-einen-Anzug.html


Ich habe das Buch auch gelesen und die Aufnahmen des Prozesses habe ich mir ebenfalls angeschaut. Quellenkritisch habe ich das Buch nicht betrachtet, aber wenn das stimmt was Bach hier sagt, dann muss man dies mit Sicherheit tun.

Weiss jemand um welche Dokumente es sich dabei handeln könnte?
Und meine zweite Frage, muss man nun die These von der Banalität des Bösen umdenken oder umschreiben?
 
IQuellenkritisch habe ich das Buch nicht betrachtet, aber wenn das stimmt was Bach hier sagt, dann muss man dies mit Sicherheit tun.
Wahrscheinlich kollidieren da juristische und philosophische Betrachtungsweisen? Der pensionierte Staatsanwalt legt wohl andere Kriterien bei der Klärung der Schuldfrage zugrunde als Hannah Arendt.

Bei den entscheidenden Passagen des (leider sehr kurzen) Interviews kann ich keine gravierenden Differenzen feststellen: Arendt erklärt, dass Eichmanns Hauptmotiv das eigene Fortkommen sei, Bach erklärt, dass Eichmann Führerbefehle hintergangen habe, um noch mehr Schaden anzurichten - aber kann in beiden Aussagen nicht dasselbe Motiv stecken? Dieses "noch mehr Schaden anrichten" im Sinne einer Übererfüllung des Auftrags?

Mich erstaunt auch, dass der pensionierte Staatsanwalt womöglich erst jetzt Stellung zu Arendts Buch nimmt, welches doch schon vor knapp 50 (fünzig!) Jahren erstmals erschien. Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil New York 1963
 
Zuletzt bearbeitet:
Nun ja, die Aussagen in dem Interview sind nicht neu, so etwa auch hier:
Deutschlandradio April 2011
in deinem Link liest sich das etwas vollständiger als im Welt-Interwiev:
Deutschlandradio April 2011 schrieb:
Bach: Ich muss sagen, das war etwas sehr Eigenartiges. Ich wusste nichts von Hannah Arendt, bevor sie kam. Sie ist gekommen einige Tage vor dem Prozess, und da sagte man mir: Es ist eine Philosophin gekommen aus Amerika, Hannah Arendt, die will was schreiben gegen den Prozess - bevor er begann. Das war mir etwas eigenartig, und da habe ich ihr mitteilen lassen, dass ich bereit bin, mich mit ihr zu treffen und dass wir das besprechen können, was sie für Probleme hat. Nach zwei Tagen bekam ich die Antwort: Sie ist nicht bereit, mit irgendjemand von der Staatsanwaltschaft zu sprechen. Hat mich auch wieder verwundert - ich meine, sie muss ja nicht akzeptieren, was wir sagen, aber dass sie nicht bereit war, mit irgendjemand von der Staatsanwaltschaft zu sprechen, war eigenartig. Und dann habe ich trotzdem Instruktionen gegeben - nicht nur, dass sie jeden Tag dabei sein darf, sondern auch, dass sie Einsicht haben kann in alle Dokumente, sowohl von der Verteidigung wie von der Anklage, sodass sie sich ein Bild machen kann über irgendwelche Probleme, die sie hat.

Und dann hat sie dieses Buch geschrieben. Und es gibt ja ein Buch von einem Herrn Robinson, der wirklich das alles analysiert hat, dass sie nicht nur eigenartige Ideen geäußert hat, sondern wirklich viele von den Dokumenten, die sie zitiert hat, die Hauptdokumente, die wir eingereicht haben, um zu zeigen, dass das nicht ein kleiner Befehlsempfänger war, sondern absolut sich identisch gefühlt hatte mit der Ausführung von diesen Vergehen, hat sie völlig falsch wiedergegeben. Da kann man natürlich sehr viel drüber sprechen, aber deswegen, was sie da schreibt … Unter anderem schrieb sie zum Beispiel, dass wir den Eichmann zu schwarz hingestellt hätten, das hätte vermindert die Schuld von Hitler und Himmler. Das schreibt sie in diesem Buch. Natürlich auch lächerlich. Natürlich, Hitler und Himmler waren Schuldige, das waren die, die die ganze Idee verfasst hatten, Eichmann war verantwortlich für die Ausführung. Aber die Tatsache, dass man wusste, dass er so fanatisch ist und dass man ihn deswegen gelassen hat, als Referent, während all dieser Zeit und in der Judenabteilung, das vermindert doch nicht die Schuld von denen, die die Hauptentscheidungen damals gefällt haben.

All diese Sachen sind wirklich sehr, sehr eigenartig und kann man schwer akzeptieren. Ich kann Ihnen nur sagen, was Eichmann anbetrifft, wissen Sie, wir haben auch gesehen, zum Ende des Krieges haben seine Kollegen ausgesagt, dass er gesagt hätte, ich weiß, der Krieg ist verloren, aber ich werde meinen Krieg noch gewinnen. Und dann fuhr er nach Auschwitz, um die Tötungen von 10.000 pro Tag auf 12.000 pro Tag hereinzubringen. Wir haben bewiesen, dass er selbst Hitler-Befehle hintergangen hat, wenn er glaubte, es könnte zur Rettung von einigen Tausend Juden führen. Das ist wirklich absolut nicht richtig zu sagen, dass er wirklich nur Befehle auf banale Weise irgendwie ausgeführt hat. Das haben wir wirklich zeigen können in diesem Prozess.
 
Danke Stilicho für den Link.

Er sagt genau das was die heutige Forschung über Eichmann aussagt.


Da kann man sich jetzt natürlich Fragen, warum hat Arendt diese Dokumente falsch wiedergegeben?

Und warum wurde das nicht schon 1963 berichtigt?
 
Die Unterschiede zwischen Bach und Arendt sind essentiell im Hinblick auf unser Verständnis des Funktionsmechnismus' des NS-Phänomens.

Wenn Frau Arendt tatsächlich die Tatsachen verfälscht hat, dann doch wohl deshalb, um sie als Belege für Ihr eigenes Konzept passend zu machen. Das hieße aber, dass ihr Konzept nicht den realen Funktionsmechanismus wiedergibt.

Konzept 1 (Arendt) : Eichmann hat keinen eigenen politischen Ziele, sondern war willenloser Organisator im Dienste seiner Vorgesetzten.

Konzept 2 (Bach) : Eichmann war ein von innen gesteuerter Fanatiker und versuchte, den Massenmord voranzutreiben, selbst gegen den Widerstand seiner Vorgesetzten, .

Wir wollen heute gern glauben, dass es da einen Führer gab, der viele Untertanen ohne eigenen Willen "fernsteuerte", Frau Arendt wollte dies wohl auch so sehen (auch wenn sie dazu ein Auge zukneifen musste) und vermitteln. Als eigenes Motiv der Untertanen nimmt man dann Karrierestreben an, obwohl ein Eichmann wissen musste, dass seine "Karriere" sehr bald ein - für ihn selbst fatales - Ende nehmen konnte.

Sitzen wir hier vielleicht einem falschen Erklärungsmodell auf ?
 
Arendt erklärt, dass Eichmanns Hauptmotiv das eigene Fortkommen sei, Bach erklärt, dass Eichmann Führerbefehle hintergangen habe, um noch mehr Schaden anzurichten - aber kann in beiden Aussagen nicht dasselbe Motiv stecken? Dieses "noch mehr Schaden anrichten" im Sinne einer Übererfüllung des Auftrags?

Ja, das ist eine gängige Interpretation, die etwa auch herangezogen wird um zu klären, warum es keines "Führerbefehls" bedurfte, um den Genozid an den Juden zu begehen. Was mich wundert, ist diese Passage aus dem dradio-Interview:

Und dann fuhr er nach Auschwitz, um die Tötungen von 10.000 pro Tag auf 12.000 pro Tag hereinzubringen. Wir haben bewiesen, dass er selbst Hitler-Befehle hintergangen hat, wenn er glaubte, es könnte zur Rettung von einigen Tausend Juden führen.

Hier erscheint es so, als habe Eichmann einerseits die Mordpolitik forciert, andererseits aber behindert. Auf welche Phasen seines Wirkens sich dies bezieht und ob das überhaupt korrekt wiedergegeben wird, kann ich leider momentan nicht nachvollziehen.

Da kann man sich jetzt natürlich Fragen, warum hat Arendt diese Dokumente falsch wiedergegeben?

Und warum wurde das nicht schon 1963 berichtigt?

Es gab schon damals eine Kontroverse, auf die sich leider im Netz nur wenige Hinweise finden lassen:

“The Formidable Dr. Robinson”: A Reply by Hannah Arendt | The New York Review of Books

https://docs.google.com/viewer?a=v&...xnCQ-Z&sig=AHIEtbS5zHRdXIym1KDC6b-_3eGBNdiYbg

Anti-Semitism: A History and Psychoanalysis of Contemporary Hatred - Avner Falk - Google Books

MIT Press Journals - October - Citation
 
Ich halte die Interpretationen nicht für widersprüchlich bzw. sich ausschließend, sondern für sich ergänzend.

Daraus ergab sich eine eigene situative Dynamik. Das polykratische System des NS, die einerseits hierdurch erzeugten persönlichen Konkurrenzen im Wechselspiel der Hierarchie, anderseits die Freiräume für das Handeln der Täter, bildeten dazu den Kontext.
 
Und dann fuhr er nach Auschwitz, um die Tötungen von 10.000 pro Tag auf 12.000 pro Tag hereinzubringen. Wir haben bewiesen, dass er selbst Hitler-Befehle hintergangen hat, wenn er glaubte, es könnte zur Rettung von einigen Tausend Juden führen.
Hier erscheint es so, als habe Eichmann einerseits die Mordpolitik forciert, andererseits aber behindert. Auf welche Phasen seines Wirkens sich dies bezieht und ob das überhaupt korrekt wiedergegeben wird, kann ich leider momentan nicht nachvollziehen.

Behindert? Das hat Bach wohl nicht gemeint. Eher unglücklich formuliert:
"dass er selbst Hitler-Befehle hintergangen hat, wenn er glaubte, diese könnten zur Rettung von einigen Tausend Juden führen."
 
@Stilicho: Deine Übersetzung ergibt dann doch mehr Sinn. Danke!

Wir wollen heute gern glauben, dass es da einen Führer gab, der viele Untertanen ohne eigenen Willen "fernsteuerte", Frau Arendt wollte dies wohl auch so sehen

Das bezweifele ich. Arendt ging es immer auch darum, das Individuum als selbstbestimmtes Wesen zu betrachten. Hierzu Wikipedia:

Andererseits betont Arendt durchgehend die Möglichkeit, dass er sich anders hätte entscheiden können; das ist ihre an Kant geschulte Auffassung von Willensfreiheit. Als Beispiele für ein Verhalten im Gegensatz zum Üblichen der Zeit nennt sie als Individuen den Unteroffizier Anton Schmid [3], der Juden rettete und dafür hingerichtet wurde, und als Staaten Dänemark und Bulgarien, deren Volk und Regierung das deutsche Vernichtungsprogramm sabotierten.
Eichmann in Jerusalem ? Wikipedia

Die Banalität des Bösen mag sich - und da folge ich Silesia - wohl eher aus einem Wechselspiel zwischen persönlicher Motivation und gesellschaftlichen Umständen erklären lassen.
 
Nun, der Wille zur Opposition ist ein anderes Thema.

Es geht hier um etwas anderen, nämlich um den Willen, dem System zu dienen - oder etwa, sich des Systems zu bedienen ?

Arno Grün ("Die Normalität des Wahnsinns") sieht den Psychopathen à la Eichmann als jemanden, der sich als stellvertretend handelnder Funktionär für ein höheres Ideal sieht. Das gibt ihn die Legitimation und die Selbstsicherheit.

Nur war dieses höhere Ideal für Eichmann, wenn man Bach glaubt, nicht Hitler, sondern die antisemitische Mission selbst, also die vermeintliche Rettung des Abendlandes vor was-auch-immer. Er war also nicht Diener eines politischen Herrn, sondern einer Idee. So wäre zu erklären, dass er seine Vorgesetzten manchmal rechts überholte, wenn sie ihm zu "lasch" erschienen.

Offenbar braucht aber eine Philosophin immer einen Menschen, und nicht ein Abstraktum, dem gedient wird, und der die Verantwortung trägt, weil es so besser ins kantsche Konzept passt.
 
Nun, der Wille zur Opposition ist ein anderes Thema.

Es geht hier um etwas anderen, nämlich um den Willen, dem System zu dienen - oder etwa, sich des Systems zu bedienen ?

Arno Grün ("Die Normalität des Wahnsinns") sieht den Psychopathen à la Eichmann als jemanden, der sich als stellvertretend handelnder Funktionär für ein höheres Ideal sieht. Das gibt ihn die Legitimation und die Selbstsicherheit.

Nur war dieses höhere Ideal für Eichmann, wenn man Bach glaubt, nicht Hitler, sondern die antisemitische Mission selbst, also die vermeintliche Rettung des Abendlandes vor was-auch-immer. Er war also nicht Diener eines politischen Herrn, sondern einer Idee. So wäre zu erklären, dass er seine Vorgesetzten manchmal rechts überholte, wenn sie ihm zu "lasch" erschienen.

Offenbar braucht aber eine Philosophin immer einen Menschen, und nicht ein Abstraktum, dem gedient wird, und der die Verantwortung trägt, weil es so besser ins kantsche Konzept passt.

Ich bin da ganz bei Silesia:


eine eigene situative Dynamik. Das polykratische System des NS, die einerseits hierdurch erzeugten persönlichen Konkurrenzen im Wechselspiel der Hierarchie, anderseits die Freiräume für das Handeln der Täter, bildeten dazu den Kontext.

Das polykratisch System Hitler schuf Konkurrenzen unter den Dienststellen, welche wiederum vorauseilendem Gehorsam erzeugten ("ich interpretiere, was die oben wollen könnten und führe das eigenmächtig aus").
Insofern ist die Steigerung des Mordes sicher nicht gegen das gewesen, was Eichmann selbst für den Willen Hitlers hielt. Hitler und Himmler gaben die politische Richtung vor, Heydrich, Eichmann, Höss und Konsorten waren die Praktiker, welche diese Richtung in die Tat umsetzten. Dass die Praktiker möglicherweise einen Führerbefehl als nicht pragmatisch ansahen und deshalb, aus der Praxis heraus ignorierten, mag eine andere Sache sein. Ich denke mal, dass einigen klar war, dass Hitler gegen Ende des Krieges - aus ihrer Sicht - nicht mehr ganz optimal informiert war.
Es gibt in den Überlebendenberichten von überlebenden Opfern des Holocaustes ganz interessante Aussagen über SS-Leute, die halt von verschiedenen Strategien berichten, wie die SS-Leute mit dem drohenden Zusammenbruch umgingen: einige versuchten die Morde zu intensivieren, um die Zeugen ihrer Taten wegzuschaffen. Hierzu gehört wohl auch die eichmann'sche Reise nach Auschwitz, von der Dr. Bach spricht. Andere brachten sich vor Scham selbst um. Die SPD-Politikern Jeanette Cohen/Wolff, die im Prinzip von 1933 - 1945 andauernd in irgendwelchen KZs war (zunächst 1933 wegen ihrer Zugehörigkeit zur SPD, ab 1941 dann wegen ihres Jüdischseins) berichtet z.B. von einem SS-Mann, der sich angesichts des Zusammenbruchs der Front bei Riga (Spätsommer 1944) umbrachte. Er hatte vorher noch mit Jeanette Cohen gesprochen, und ihr gesagt, dass er sich für seine Taten schämte und dass er nicht wissen wolle, wie es angesichts der Verbrechen Deutscher im Osten Deutschland ergehe, wenn der Krieg verloren sei. Andere SS-Leute nahmen - ganz kurz vor Kriegsende - Kontakte mit Gefangenen auf, um mit diesen eine gemeinsame Flucht zu organisieren und beteuerten, dass sie erst kurz dabei seien und geschockt von den Verbrechen der SS...

Letztendlich müsste man doch noch mal auf Hannah Arendt selbst zurückgreifen, um die Kritik von Dr. Bach nachzuvollziehen. Mir scheint sie nicht ganz gerecht zu sein.

Ich glaube aber auch, dass es Arendt nicht so sehr auf die Rekonstruktion von Holocaust-Geschichte ankam, als vielmehr auf einen philosophischen Blick auf das Böse.
 
Zuletzt bearbeitet:
Konzept 1 (Arendt) : Eichmann hat keinen eigenen politischen Ziele, sondern war willenloser Organisator im Dienste seiner Vorgesetzten.

Konzept 2 (Bach) : Eichmann war ein von innen gesteuerter Fanatiker und versuchte, den Massenmord voranzutreiben, selbst gegen den Widerstand seiner Vorgesetzten, .


Sitzen wir hier vielleicht einem falschen Erklärungsmodell auf ?

Die Darstellung der unterschiedlichen Aussagen benennt m.E. völlig zu Recht die zwei paradigmatischen Interpretationsansätze für die Analyse staatlicher Strukturen als Determinante für individuelles Verhalten im NS-System. Und es stellt sich in der Tat die Frage, ob Eichmann eine mehr oder minder „willenlose Marionette“ des NS-Regimes war oder ein bewußt agierender, seine Entscheidungsspielräume exzessiv ausnutzender Schreibtischtäter, der dem Führer „entgegenarbeitet“.

Betrachtet man die theoretische Ausgangslage, dann finden sich auf der einen Seite, zu der auch der Ansatz von Arendt zählt, die Totalitarismustheorien, die das Bild einer formierten, totalen Gesellschaft für das 3. Reich zeichnen. Gekennzeichnet dadurch, dass sie Normen formuliert und bedingungslos durchsetzt durch drakonische Sanktionierung, auch präventiv durch wahllose Repression, der Abweichung vornimmt(9).

http://de.wikipedia.org/wiki/Elemente_und_Urspr%C3%BCnge_totaler_Herrschaft

Den anderen Pol bilden handlungs- bzw. kommunikationstheoretische Ansätze (Cultural History), die dem Individuum und einzelnen Milieus eine mehr oder minder ausgeprägte Eigenständigkeit zuweisen (vgl. 2, der die These der Individualisierung als langfristigen Trend der Vergesellschaftung vertritt). Diese Eigenständigkeit des Individuums kommt beispielsweise sehr deutlich in der Formulierung von Myrdal (12, S. 20) zum Ausdruck: “Es gibt keine festen Verhaltensweisen. Verhalten ist in der Regel ein moralischer Kompromiß.“ Um dann jedoch einzuschränken: „In unserer Kultur ist man sich gewöhnlich in der abstrakten Behauptung einig, die allgemeineren Wertungen – die für die ganze Nation… als gültig empfunden werden – seien moralisch höherwertig als jene, die sich nur auf bestimmte Individuen oder Gruppen beziehen“ (12, S. 20-21).

Sofern diese unterschiedlichen Vermutungen also zutreffen ist zu fragen, unter welchen Voraussetzungen Eichmann gehandelt hat. Die ideengeschichtlichen Ursprünge und die daraus folgende NS-Ideologie sind weitgehend bekannt und sollen in Anlehnung an Herbst (6, S. 25-58) einerseits auf den Revisionismus, Krieg und Lebensraum als den ersten zentralen ideologischen Orientierungspunkt und den Rassismus und Antisemitismus als den zweiten fokussiert werden.

Die zerstörerischen Auswirkungen der NS-Bewegung resultierte dabei nicht unwesentlich aus der Gewinnung ihrer Dynamik durch die Bekämpfung des inneren und des äußeren Feindes. Das führt soweit, dass Arendt in den Konzentrationslagern die „konsequenteste Institution totaler Herrschaft“ (1, S. 912) sieht. Ergänzt werden muss diese Sichtweise durch die Ablenkung nationaler Energien durch die NS-Bewegung in die Eroberung anderer Länder sodass die Armee die zweite Institution totaler Herrschaft bildet wie es beispielsweise Paxton formuliert (13).

Beide Aspekte bilden zum einen das wertemäßige Fundament der NS-Bewegung und auch gleichzeitig das Koordinatensystem für das kollektive und somit auch teilweise individuelle Handeln wie bei Ingrao (8) beschrieben. Und es sich auch bei Gross findet (5, bes. S. 171 Moralität des Bösen: Adolf Eichmann und die deutsche Gesellschaft).

Das führt konsequenterweise zur bereits häufig gestellten Frage wie derartige Werte in Teilen der Gesellschaft, zunächst auf freiwilliger Basis, später nach 1933 durch Propaganda, Erziehung und direkte oder indirekten Zwang durchgesetzt werden konnten.

Die Entwicklung von Teilen der Eliten zu effektiven und seelenlos agierenden „Technokraten des totalen Staates“ war bereits mental bei Teilen der Anhängerschaft der NSDAP angelegt (3). Nach 33 werden diese Tendenzen durch die Etablierung des „Führerstaats“ deutlich verstärkt. Und Marcuse fasst die Entwicklung dahingehend zutreffend zusammen: „Nach dem Fortfall jedes rationalen und materialen Inhalts der Autorität bleibt nur noch ihre blosse Form übrig: die Autorität als solche wird zum wesentlichen Kennzeichen des autoritären Staates.“ (4, S. 220) .

Somit trifft eine politische Zielvorstellung, die auf Vernichtung aller inneren und äußeren Feinde ausgerichtet ist auf einen politischen Diskurs, der lediglich Gehorsam, Pflichterfüllung und individuelle Aufopferung als zentrale Erwartungshaltung an die „Volksgenossen“ normativ zuläßt.

Dass dieses autoritäre Normensystem eine Vielzahl von Widerstand möglich macht (vgl. z.B. 10 und 11) und auch innerhalb des Systems massive Friktionen erzeugt, kann beispielsweise auch bei Speer oder Schellenberg (mit allen Vorbehalten einer nachträglichen Rationalisierung der jeweiligen eigenen Rolle) erkannt werden (14 und 15).

Lediglich einzelne Milieus, wie beispielsweise der organisierte Katholizismus, konnten sich auf der Ebene von alternativen Lebensentwürfen dem Druck des NS-System partiell entziehen.

Das „Banale des Bösens“, das sich aus dieser Situation nach 1933 ergab, fußte somit im wesentlichen auf der „Externalisierung“ moralischer Sichtweisen (vgl. beispielsweise Kohlberg oder 7) wie sie aus der Rawlschen Theorie der Gerechtigkeit abgeleitet sind. Der Einzelne handelte zunehmend unter dem administrativen und sozialen Zwang der Volksgemeinschaft und es galten nicht mehr die universellen Wertemaßstäbe einer reflexiven gesellschaftlichen Moral, sondern es galt die machiavellistische Moral eines sozialdarwinistisch angetriebenen Volkes, dass seiner hegemonialen geschichtlichen Bestimmung entgegenarbeitete.

Das spezifisch Banale knüpft zudem an tradierte Verhaltensmuster an, die teilweise auch dem Obrigkeitsstaat preußischer Prägung geschuldet sind. Sofern politische Ziele – wie oben beschriben - auf der Ebene von Staatszielen nach 1933 verankert wurden, konnten sie unter dieser Perspektive einen erhöhten Anspruch auf Geltung und Durchsetzung einfordern. Durch die Ausschaltung des Rechtstaates und seiner Gewaltenteilung ergab sich keinerlei öffentliche Diskussion und somit auch kein unmittelbarer Normenkonflikt, den der einzelne lösen mußte.

In diesem gesellschaftlichen und politischen Kontext war es für Personen wie Eichmann möglich, ein politisches Weltbild zu entwickeln, dass den Zielen der NS-Bewegung instrumentell alles unterordnete. Und im Sinne der ideologisch motivierten Antizipation der Erwartungshaltung der NS-Bewegung, dem Führer mit „Freude“ entgegenarbeitete. Und Lob über seine „hervorragende Tätigkeit“ und die „Übererfüllung“ der Planungen mit „tiefer Dankbarkeit“ entgegengenommen hätte. Es hätte aber sicherlich auch gerne als Gratifikation eine goldene Uhr sein dürfen, mit einem gravierten Ausspruch des Führers.

Und es sind "blaue Anzüge", persönliche Karriere oder sonstige Gratifikationen, die die Perversion der industriellen Vernichtung zu etwas Banalem machen. Es war für Eichmann ein "Job", aber auch ein "wenig Antisemitismus", aber dafür war ja eigentlich der Führer moralisch und als sein "Führer" verantwortlich. Oder nicht?

1. Arendt, H.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. 2009
2. Beck, U. & E. Beck-Gernsheim: Individualization: Institutionalized Individualism and its Social and Politial Consequences. 2002
3. Fromm, E.: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reichs, 1929 bzw. 1980
4. Marcuse, H.: Ideengeschichtlicher Teil. In Fromm, E. u.a.: Autorität und Familie, Band 1, 1936
5. Gross, R.: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral. 2010
6. Herbst, L.: Das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945
7. IJzendorn, M.H.: Moralität und politisches Bewußtsein. 1980
8. Ingrao, C. Hitlers Elite, 2012
9. Jesse. E: Totalitarismus im 20. Jahrhundert, 1996
10. Johnson, E.A. & K.H. Reuband: What we Knew. Terror Mass Murder, and Everyday Life in Germany. 2005
11. Kellner, F. Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne. Tagebücher 1939-1945, 2011
12. Myrdal, G.: Objektivität in der Sozialforschung, 1971
13. Paxton, R.O. The Anatomy of Fascism, 2007
14. Speer, A.: Der Sklavenstaat. Meine Auseinandersetzung mit der SS. 1981
15. Schellenberg,W.: Hitlers letzter Geheimdienstchef. Erinnerungen. 1956 / 2008

 
Zuletzt bearbeitet:
Konzept 1 (Arendt) : Eichmann hat keinen eigenen politischen Ziele, sondern war willenloser Organisator im Dienste seiner Vorgesetzten.

Konzept 2 (Bach) : Eichmann war ein von innen gesteuerter Fanatiker und versuchte, den Massenmord voranzutreiben, selbst gegen den Widerstand seiner Vorgesetzten, .

Wir wollen heute gern glauben, dass es da einen Führer gab, der viele Untertanen ohne eigenen Willen "fernsteuerte", Frau Arendt wollte dies wohl auch so sehen (auch wenn sie dazu ein Auge zukneifen musste) und vermitteln. Als eigenes Motiv der Untertanen nimmt man dann Karrierestreben an.

Die beiden Konzepte sind gar nicht so unterschiedlich. Arendt nennt Eichmann immer wieder einen selbsternannten "Idealisten." Ich finde aber, dass du ihre Position im letzten Absatz ganz gut zusammenfasst; genau diese Position wurde auch schon zu ihren Lebzeiten (und übrigens auch in direktem Streitgespräch mit ihr) immer wieder kritisiert. thanepower hat diese beiden Positionen hier schon sehr gut zusammengefasst.

Eine gute Zusammenfassung dieser Debatte zum Weiterlesen liefert auch Peter Baehr in "Hanna Arendt, Totalitarianism and the Social Sciences" (2010).

Nur war dieses höhere Ideal für Eichmann, wenn man Bach glaubt, nicht Hitler, sondern die antisemitische Mission selbst, also die vermeintliche Rettung des Abendlandes vor was-auch-immer. Er war also nicht Diener eines politischen Herrn, sondern einer Idee. So wäre zu erklären, dass er seine Vorgesetzten manchmal rechts überholte, wenn sie ihm zu "lasch" erschienen.

Offenbar braucht aber eine Philosophin immer einen Menschen, und nicht ein Abstraktum, dem gedient wird, und der die Verantwortung trägt, weil es so besser ins kantsche Konzept passt.

Arendt sagt auch, dass das Ideal für Eichmann die faschistische Bewegung war. Hitler war nur deswegen wichtig, weil er die Quelle des Rechts war, aufgrund dessen Eichmanns Handlungen legal waren, so dass nach dem Grundsatz "nullum crimen sine lege" seine Handlungen in Jerusalem normalerweise nicht hätten gestraft werden dürfen. Nur deswegen war die Person Hitlers im Prozess so wichtig. Das sollte man unterscheiden.

Ich glaube aber auch, dass es Arendt nicht so sehr auf die Rekonstruktion von Holocaust-Geschichte ankam, als vielmehr auf einen philosophischen Blick auf das Böse.

Das würde ich auch so sehen. Es gab ja 2011 diese Veröffentlichung "Eichmann war von empörender Dummheit", in der Gespräche und Zeitdokumente zur Kontroverse um die "Banalität des Bösen" nochmal gesammelt worden sind. In einem dieser Interviews sagt Arendt ganz deutlich, dass es ihr um eine neue Art von Verbrechertypus geht, und dass ihre ganze Analyse des Holocaust in "Eichmann in Jerusalem" genau deswegen so unvollständig ist, weil sie sich ganz strikt auf die Teile beschränkt, an denen Eichmann auch aktiv beteiligt war.

Das „Banale des Bösens“, das sich aus dieser Situation nach 1933 ergab, fußte somit im wesentlichen auf der „Externalisierung“ moralischer Sichtweisen (vgl. beispielsweise Kohlberg oder 7) wie sie aus der Rawlschen Theorie der Gerechtigkeit abgeleitet sind. Der Einzelne handelte zunehmend unter dem administrativen und sozialen Zwang der Volksgemeinschaft und es galten nicht mehr die universellen Wertemaßstäbe einer reflexiven gesellschaftlichen Moral, sondern es galt die machiavellistische Moral eines sozialdarwinistisch angetriebenen Volkes, dass seiner hegemonialen geschichtlichen Bestimmung entgegenarbeitete.

Was ich an diesem Beitrag interessant finde - mal davon abgesehen, dass er toll argumentiert und formuliert ist - ist der Bezug auf Rawls, dessen Gerechtigkeitstheorie zwar durchaus "externalisiert", aber vor allem distributiv ist. Distribution ist aber nicht das erste, was mir jetzt zur Nazi-Ideologie einfallen würde. Magst du das noch etwas spezifizieren, wo du da den Einfluss von Rawls genau siehst?
 
Zurück
Oben