War das Byzantinische Reich überlebensfähig?

Die Nachfrage hatte den Hintergrund, dass die Wirkungen tatsächlich sehr schwer abzuschätzen sind, und man im Wesentlichen nur anhand von Indizien - der Ansatz von Robert Guiskard - vorgehen kann.

Die Beurteilungen zur Wirtschaftsgeschichte von Byzanz sind ausserdem derzeit sehr im Fluss. Interessant ist dabei - wenn man dem unterstellten ökonomischen Gewicht von Ägypten folgt, was ich auch so sehen würde - wieso diese diversen "terrible blows" über die langen Zeiträume verkraftet bzw. immer wieder oder teilweise kompensiert werden konnten. Das widerspricht auch dem Bild verkrusteter Strukturen, und fehlender Anpassung an die ökonomischen und politischen Umwälzungen. Ein anderer Ansatzpunkt sind Analysen zum Handel oder zur Geldwertstabilität [*] im byzantinischen Reich, wobei sich auch scheinbar widersprüchliche Abbildungen der Krisen nach den Gebietsverlusten zeigen.

Noch ein anderer Ansatz, zum Verlust der westlichen Territorien:
Scafuri: Byzantine Naval Power and Trade - The Collapse of the Western Frontier

Und der schon angedeutete Einfluss der Balkangrenzen, in militärischer und ökonomischer Hinsicht:
Stephenson: Byzantiums Balkan Frontiert - a political study of the northern balkans 900 - 1204.

[*]
Pitsoulis/Baskaran: The Empire strikes Coins - Islamic Conquests, Ionoclasm and Debasement in Byzantium, 650-900
Stojanovic: Monetary Stability - The Byzantium Model


P.S. Um das nochmal klarzustellen: mE (aber vielleicht auf unzureichender Basis) fehlt für eine Einschätzung dieser beschriebenen Wirkungen eine hinreichende Erkenntnisgrundlage, bzw. gibt es widersprüchliche Fakten.
 
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Diese Erstarrung der byzantinischen Institutionen sowie der byzantinischen Kunst und Gesellschaft ist unübersehbar. Sie wurzelt in einem ideologischen Beharrungsvermögen, das um so stärker wurde, je mehr sich gegnerische Fronten um das Byzantinische Reich schlossen. Staatsräson war somit der Rückgriff auf das antike Rom und die Beharrung auf den überkommenen politischen, künstlerischen, geistigen und gesellschaftlichen Strukturen. [...] Der letzte Satz dieser Einschätzung fasst den Tatbestand gut zusammen: Angesichts der bedrohlichen äußeren Entwicklung war Byzanz nur noch ein kleiner römischer Vorposten inmitten eines Meers von Arabern, Türken und Slawen. Deshalb koppelte es seine Identität fest an das antike Rom und die byzantinische Gesellschaft folgte diesem Staatskonzept bis zur Erstarrung - und zwar bewuss!
Bei dieser ausgesprochen negativen Analyse muss man sich schon fragen, wie dieses angeblich so lebensuntüchtige, reformunfähige und schwächliche Reich mit haufenweise Feinden auf allen Seiten nach dem Verlust des Nahen Ostens noch achthundert Jahre überdauern konnte. So manche andere Großmacht im Laufe der Geschichte scheiterte schon nach wenigen Jahrzehnten. Mir scheint da noch ein bisschen die Sichtweise vergangener Jahrhunderte nachzuwirken, als Byzanz in erster Linie als tausendjährige dekadente Verfallserscheinung des verherrlichten antiken römischen Reiches gesehen wurde.

Auf der einen Seite war Byzanz keineswegs erstarrt. Die Einführung von Exarchaten und später der Themenordnung zeigte z. B. sehr schön, dass man sehr wohl verstand, sich vom spätantiken Erbe zu lösen und weiterzuentwickeln. Aber auch wirtschaftlich gab es Reformen, indem man z. B. statt des spätantiken kolonenbasierten Großgrundbesitzes, der oft nicht einmal Steuern zahlte, wieder auf kleinere Güter freier Bauern setzte, die Steuern zahlten und Soldaten stellten.

Auf der anderen Seite war es für Byzanz keineswegs von Nachteil, dass es nicht alle Entwicklungen mitmachte, die damals gerade im Rest Europas oder in der arabischen Welt angesagt waren. Dass man z. B. in Byzanz die Feudalisierung bis ins 11. Jhdt. weitgehend verhindern konnte, sorgte dafür, dass die byzantinischen Kaiser noch in einer Zeit über ein zuverlässiges und abrufbereites Heer verfügten, als ihre west- und mitteleuropäischen Kollegen sich schon mit ihren Vasallen herumärgern mussten, wenn sie ein Aufgebot zusammenbekommen wollten. Auch dass der Adel allzu viel Macht bekam, konnte in Byzanz viel länger verhindert werden als anderswo - keineswegs zum Schaden des Reiches. Weiters konnte auch die Kirche von der weltlichen Macht meist unter Kontrolle gehalten werden. Es gab zwar einen üblen Bilderstreit, aber keinen Investiturstreit. Auch die Geldwirtschaft blieb im Byzantinischen Reich intakt. Dass man weiterhin nach einem (freilich mitunter reformierten) römischen Recht urteilte statt nach Gottesurteilen, sehe ich auch nicht als Nachteil. Weiters unterhielt das Byzantinische Reich noch in einer Zeit eine schlagkräftige Flotte, als im "modernen" Westeuropa die Wikinger die unangefochtene Seeherrschaft hatten.Der byzantinische Solidus blieb jahrhundertelang die wichtigste Währung in Europa.

Alles in allem würde ich also im Gegenteil eher sagen, dass Byzanz viel Gutes von seinem antiken Erbe wahrte, aber auch für Reformen offen war, wenn es veränderte Umstände erforderten.
Wenn sich das Reich hingegen "dem Westen öffnete" oder sonst versuchte, seine "Erstarrung" zu durchbrechen, kam oft nicht viel Gutes dabei heraus, z. B. bei der Einräumung von Handelsprivilegien für westliche Seerepubliken, bei der zunehmenden Feudalisierung ab dem 11. Jhdt. oder dem Anheuern moderner "fränkischer" Söldner.

Byzanz konnte nur so lange eine Großmachtpolitik betreiben, wie ihm ausreichende Steuereinnahmen zuflossen. Und das war, nachdem es auf Kleinasien beschränkt war, nicht mehr der Fall. [...] Im Vergleich zu den verlorenen vorderasiatischen Gebieten und Ägypten war das jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein, sodass Byzanz in der bekannten Abwehrposition erstarrte.
Damit blendest Du aber aus, dass das Reich nach dem Tief des 8. Jhdts. den Wiederaufstieg schaffte und z. B. den Balkan wiedergewinnen, aber auch die Araber wieder dauerhaft von Kreta und Zypern vertreiben und auch an der Ostfront zurückdrängen konnte. Davon, dass das Reich nur in der Defensive gewesen wäre, kann keine Rede sein. Man denke nur daran, dass, nachdem die Bulgaren jahrhundertelang die schlimmste Bedrohung gewesen waren, ihr Reich zerschlagen und für anderthalb Jahrhunderte unterworfen werden konnte.

Zu den Steuereinnahmen ist zu sagen, dass jetzt von den Kleinbauern wenigstens wieder Steuern gezahlt wurden, was bei den großen Gütern der Spätantike oft nicht der Fall war. Auch die spätantiken Steuerprivilegien der Geistlichen wurden z. B. von Nikephoros I. massiv eingeschränkt bzw. abgeschafft, wenn auch nicht nachhaltig. Zur Zeit der Makedonenkaiser scheint das Steueraufkommen höher gewesen zu sein als vor dem Verlust Ägyptens und Syriens.
 
Bei dieser ausgesprochen negativen Analyse muss man sich schon fragen, wie dieses angeblich so lebensuntüchtige, reformunfähige und schwächliche Reich mit haufenweise Feinden auf allen Seiten nach dem Verlust des Nahen Ostens noch achthundert Jahre überdauern konnte.

Von einer "Lebensuntüchtigkeit" hat niemand gesprochen. Wohl aber von einer Erstarrung der Gesellschaft und ihrer Institutionen, was die Insellage inmitten anderer Völker und die ständige geopolitische Bedrohung bewirkte. Zu dieser Erstarrung, über die in zahllosen Publikationen berichtet wird, kam es allerdings erst nach dem Einbruch der türkischen Seldschuken, sodass sie rund 300 Jahre währte. Erste Ansätze einer solchen Erstarrung finden sich freilich schon zuvor.

Das bedeutet freilich nicht, dass durch diesen Prozess sofort die gesamte Wehrfähigkeit verloren ging. Es mag sogar das Gegenteil der Fall sein. Allerdinsg kann von einem einem lebendigen, innovativen, zukunftsfähigen staatlichen Gebilde nicht mehr gesprochen werden. Auch der Begriff der Dekadenz scheint mir hier nicht angebracht zu sein.
 
Von einer "Lebensuntüchtigkeit" hat niemand gesprochen. Wohl aber von einer Erstarrung der Gesellschaft und ihrer Institutionen, was die Insellage inmitten anderer Völker und die ständige geopolitische Bedrohung bewirkte. Zu dieser Erstarrung, über die in zahllosen Publikationen berichtet wird, kam es allerdings erst nach dem Einbruch der türkischen Seldschuken, sodass sie rund 300 Jahre währte. Erste Ansätze einer solchen Erstarrung finden sich freilich schon zuvor.
Wenn Du diese "Erstarrung" erst so spät datierst, dann kannst Du sie aber nicht mehr zu einer Folge des Verlustes von Ägypten und Syrien machen, wie Du es in Deinem Beitrag #60 anscheinend gemacht hast, denn dazwischen lagen etwa 400 Jahre, in denen das Reich auch ohne die verlorenen Gebiete zurechtkam und sich immer wieder erneuerte.

Somit kann man diese "Erstarrung" auch nicht einfach mit der "Insellage" des Reiches begründen. Im Gegenteil sehe ich diese "Erstarrung" gerade als Reaktion auf die Öffnung zum Westen und das Einströmen westlicher Ideen. Da diese Westöffnung dem Reich in mancherlei Hinsicht nicht gerade gut bekam, entstand eine antilateinische Opposition, die die Abschottung und Rückbesinnung auf die eigenen Werte forderte.

Konsequent war die "Erstarrung" freilich ohnehin nicht. Die Feudalisierung machte man trotzdem mit, und unter den Palaiologen wurden die Pronoia-Lehen erblich.

Dass sich das Reich unter den Palaiologen nicht mehr langfristig erholen konnte, sehe ich auch nicht so sehr als Auswirkung einer "Erstarrung", sondern als Folge der Schwächung des Reiches durch den 4. Kreuzzug und dass das solchermaßen geschwächte und verkleinerte Reich danach allzu vielen und starken Gegnern ausgesetzt war.
 
Dieter:

Zu dieser Erstarrung, über die in zahllosen Publikationen berichtet wird, kam es allerdings erst nach dem Einbruch der türkischen Seldschuken, sodass sie rund 300 Jahre währte. Erste Ansätze einer solchen Erstarrung finden sich freilich schon zuvor

Ich würde sogar umgekehrt postulieren, dass gerade nach Mantzikert das Reich sich stärker zu wandeln begann als vorher und dass eine Erstarrung, - wenn eine solche vorher überhaupt vorhanden war - dann durch eine deutliche Veränderung des Oströmischen Reiches nach Manzikert aufgebrochen wurde. Alexios Komnenos

Gerade durch und nach Manzikert begann sich Byzanz strukturell, wirtschaftlich und kulturell zu verändern, wurde griechischer, mittelalterlicher, begann sich der Feudalismus in Byzanz massiv auszubreiten, passte man das Reich struktuell und militärisch an die westlichen Europäischen Reiche an.

Die Veränderungen waren erheblich, insbesondere die ab Alexios I Komnenos getätigten. Das Oströmische Reich wandelte sich nach Manzikert in einen mittelalterlichen griechischen Staat feudaler Prägung und wandte sich gerade ab da zunehmend von seinem antiken Erbe ab.
 
Dieter:
Ich würde sogar umgekehrt postulieren, dass gerade nach Mantzikert das Reich sich stärker zu wandeln begann als vorher und dass eine Erstarrung, - wenn eine solche vorher überhaupt vorhanden war - dann durch eine deutliche Veränderung des Oströmischen Reiches nach Manzikert aufgebrochen wurde. Alexios Komnenos

Die Veränderungen wären näher zu untersuchen.

Erst vor kurzem gab es ein Symposium zu der Frage, wie sich eigentlich die Besetzung Anatoliens und der Austausch zwischen Byzanz und den Seldschuken darstellte. Auch da scheint sich einiges in der Literatur an Bewertungen zu verändern: der gegenseitige Austausch wird inzwischen wohl höher bewertet, somit auch die Auswirkungen auf Byzanz. Andererseits wird die Bedeutung von Manzikert offenbar relativiert.

Noch ein Nachtrag aus anderer Perspektive:

Oben ist die monetäre Stabilität von Byzanz angesprochen worden. Tatsächlich ist für die Jahrzehnte vor Manzikert ein deutliches Absinken des Goldgehaltes in den byzantinischen Münzen zu sehen (Rückgang: rund 25%).

Hierfür gibt es zwei völlig widersprüchliche Erklärungsansätze:

1. Abbildung krisenhafter Entwicklungen, Knappheit an Metallen
2. geplante deutliche Erhöhung des Münzumlaufes in Folge wirtschaftlicher Properität.

Hieran wird deutlich, dass die Faktenlage unzureichend ist. Nach Manzikert wurden auch hier Reformen angesetzt, wobei offenbar parallel auch die Besteuerung angepasst worden ist (Vervierfachung der Basisbesteuerung), um die Einnahmen drastisch zu erhöhen.

So bleiben für viele Ereignisse im Detail und in den Erklärungsansätze wohl nur Postulate übrig.
 
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Erst vor kurzem gab es ein Symposium zu der Frage, wie sich eigentlich die Besetzung Anatoliens und der Austausch zwischen Byzanz und den Seldschuken darstellte. Auch da scheint sich einiges in der Literatur an Bewertungen zu verändern: der gegenseitige Austausch wird inzwischen wohl höher bewertet, somit auch die Auswirkungen auf Byzanz. Andererseits wird die Bedeutung von Manzikert offenbar relativiert.

Die Eroberung Kleinasiens durch die Seldschuken nach der Schlacht bei Manzikert 1081 war für Byzanz zunächst ein Trauma. Die Türken drangen bis vor Konstantinopel, was Kaisr Alexios I. Komnenos zu seinem berühmten Hilferuf an Papst Urban II. veranlasste und zu den Kreuzzügen führte. Die Seldschuken wurden zwar zurückgedrängt, doch konnte das innere Anatolien nicht mehr zurückerobert werden.

Als die Seldschuken - die sich nun sogar Rum-Seldschuken nennen - im Verlauf des 12. Jh. ihre expansive Kraft einbüßen, bahnt sich eine erstaunliche Entwicklung zwischen ihnen und Byzanz an. Es kommt zu einem modus vivendi zwischen beiden Staaten, die Sultane bauen die Residenz Konia aus und führen das Land zu hoher kultureller Blüte, die stark von Persien beeinflusst ist. Doch auch die ansässige christliche Bevölkerung beeinflusste mit ihren alten religiösen und kulturellen Traditionen die Eroberer in vielerlei Hinsicht.

Die Seldschuken waren von ihrer aggressiven Anfangsphase zu einem Status gelangt, der auf die territoriale Bewahrung des erreichten zielte, zudem innenpolitische Auseinandersetzungen infolge von Nachfolgestreitigkeiten ein gedeihliches Auskommen mit den Byzantinern ratsam erscheinen ließ. Insofern war der Zerfall und Untergang des seldschukischen Staates etwa um 1300 ein Verhängnis für Byzanz: Nun trat das Fürstentum der Osmanen auf den Plan, das in ganz anderer Weise als die Rum-Seldschuken eine Expansion startete, der 150 Jahre später das Byzantinische Reich zum Opfer fiel.
 
Ich würde sogar umgekehrt postulieren, dass gerade nach Mantzikert das Reich sich stärker zu wandeln begann als vorher und dass eine Erstarrung, - wenn eine solche vorher überhaupt vorhanden war - dann durch eine deutliche Veränderung des Oströmischen Reiches nach Manzikert aufgebrochen wurde.
Interessant, dass Du und Dieter Euch zwar einig seid, dass das Reich "erstarrt" ist, nicht aber, ob diese Erstarrung vor oder nach Mantzikert war ...
Ich allerdings sehe weder davor noch danach eine Erstarrung. Richtig ist, dass das Reich sich deutlich von den anderen europäischen Staaten unterschied. Das war vor Mantzikert so, aber auch danach blieben trotz Feudalisierung deutliche Unterschiede bestehen. Dass das Reich also viele Entwicklungen im Rest Europas nicht oder erst verspätet mitmachte, mag man auf den ersten Blick als Erstarrung und Festhalten an der Antike interpretieren. Ein näherer Blick zeigt aber, dass das Reich trotzdem eine Fülle an Entwicklungen und Reformen durchmachte - nur eben anders als in Resteuropa, und oft durchaus besser. Als Mangel an "Westöffnung" oder "Erstarrung" kann man das nur tadeln, wenn man kritiklos dem Prinzip mittelalterlich=neu=besser huldigt.
Übrigens war das Byzantinische Reich hingegen manchmal sogar Vorreiter von Entwicklungen, die im restlichen Europa erst später eintraten. Z. B. reformierte Michael Psellos das "Hochschulwesen" Mitte des 11. Jhdts. in einem Sinne, wie er später auch bei den Universitäten in Resteuropa anzutreffen war. Wenn Ralph-Johannes Lilie kritisiert, dass der Versuch, die Scholastik zu übernehmen, weitgehend gescheitert ist, so stimmt das zwar (Der Gelehrte Demetrios Kydones, der Thomas von Aquin ins Griechische übersetzte, blieb tatsächlich eine seltene, wenn auch politisch einflussreiche, Ausnahme.), aber dafür begann man bereits im frühen 14. Jhdt. wieder mit einer intensiveren Beschäftigung mit der (auch heidnischen) antiken Gelehrsamkeit und Kultur, nahm also in Teilen die Renaissance vorweg. Während die Scholastik stark auf Aristoteles fixiert war, beschäftigte man sich in Byzanz auch mit Platon und dem Neuplatonismus. Wissenschaftlichen Neuerungen verweigerte man sich aber trotz der Rückbesinnung auf die Antike nicht grundsätzlich; z. B. kamen beginnend mit dem 12. Jhdt. die arabischen Ziffern zunehmend in Gebrauch.
 
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Offenbar kristallisiert sich ein weiterer Aspekt der widersprüchlichen Entwicklungen heraus. Passt in diesen Zusammenhang die Diskussion um den "byzantinischen Commonwealth", die mit einem Anklang von Modernität mW vorwiegend in der angelsächsischen Literatur geführt wird?
 
Interessant, dass Du und Dieter Euch zwar einig seid, dass das Reich "erstarrt" ist, nicht aber, ob diese Erstarrung vor oder nach Mantzikert war ...
Ich allerdings sehe weder davor noch danach eine Erstarrung. Richtig ist, dass das Reich sich deutlich von den anderen europäischen Staaten unterschied. Das war vor Mantzikert so, aber auch danach blieben trotz Feudalisierung deutliche Unterschiede bestehen. Dass das Reich also viele Entwicklungen im Rest Europas nicht oder erst verspätet mitmachte, mag man auf den ersten Blick als Erstarrung und Festhalten an der Antike interpretieren.
sehe ich auch so - speziell zum letzten Satz:
es gilt zu beachten, wer da erstarrt sein soll - das byz. Imperium war zivilisatorisch sämtlichen frühmittelalterlichen europäischen Staaten überlegen (da war es wohl ein Vorteil, keinen Rückschritt zu machen und z.B. merowingische Verhältnisse und Entwicklungen zu adaptieren)
allerdings schwächte der permanente Druck von außen das byz. Reich - und bedenkt man, dass es immerhin bis zu den Kreuzzügen aushielt (danach sah es dann anders aus), dann kann man nur staunen, dass dieser "antike hochzivilisierte Staat" das wild-barbarische Frühmittelalter übersanden hatte.
zu fragen wäre auch, ob die Zeitgenossen Manzikert als eine auswetzbare Schlappe oder als furchtbare Katastrophe wahrnahmen.
 
Ravenik:

Ich und Dieter sind uns keineswegs einig, gestatte mir mich selbst zu zitieren:

und dass eine Erstarrung, - wenn eine solche vorher überhaupt vorhanden war -

Wenn eine solche überhaupt vorher vorhanden war. Ich bin mir im Gegensatz zu Dieter hier gerade eben nicht sicher. Gab es im Oströmischen Reich vor Manzikert eine Erstarrung?

Meiner Meinung nach gab es nach Manzikert eben keine Erstarrung, gerade nach Manzikert begann sich das Oströmische Reich stark zu wandeln, in allen Bereichen.

Vor Manzikert liegt aber nun ja eine lange Zeit, mit vielen, zum Teil sehr drastischen Veränderungen. Eine Erstarrung möchte ich daher nicht für die gesamte Zeit der Existenz dieses Reiches verstanden wissen, sondern damit meinte ich explizit die Zeit unmittelbar vor Manzikert, um es genau festzumachen: Ab dem Tod des Basileios II bis Manzikert.

Bei einem Reich mit einer so langen Lebensdauer für ganze Jahrhunderte eine Erstarrung zu postulieren, ist meiner Ansicht nach hier falsch. Das oströmische Reich wandelte sich unter dem Druck der immer wieder wechselnden Angreifer, insbesondere aber unter dem Druck der Muslime stark. Bewegungen wie die Bilderstürmer, oder die vielfältigen militärischen Innovationen und Veränderungen der Militärstruktur (Themen, Akriten, Schattenkriegsführung usw), Veränderungen der Lebensweise auf dem Land wie in den Städten, Veränderungen der Bauweise, der Befestigungsanlagen, des Schiffsbau (Lateinersegel) usw usf zeugen überall von einem Fortschreiten und ständigem Wechsel.

Gerade in den Jahrzehnten vor Manzikert aber wirkt das Reich sowohl kulturell, wie auch politisch, ökonomisch, wie auch militärisch erstarrt. In diesen Jahrzehnten schien die ganze Gesellschaft von einer regelrechten Lähmung befallen zu sein, die dann in der Niederlage von Manzikert mündete. Ob aber diese Wahrnehmung der oströmischen Gesellschaft durch mich in dieser Zeit so richtig ist, vermag ich eben nicht zu sagen, dies ist nur mein Eindruck aufgrund dessen was ich über diese Jahrzehnte unmittelbar vor der Schlacht weiß.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich kann auch für die Zeit zwischen Basileios II. und Mantzikert keine Erstarrung erkennen. Gerade in dieser Zeit setzten doch Entwicklungen ein, die sich unheilvoll auswirkten. Einige Kaiser dieser Zeit wie z. B. Romanos III. förderten in Abkehr von der Politik früherer Kaiser aktiv die Großgrundbesitzer. So begann die Feudalisierung, wodurch das Stratiotensystem allmählich ruiniert wurde. Generell war diese Periode dadurch gekennzeichnet, dass Kaiser, die dem Beamtenadel und/oder der Großgrundbesitzerschicht entstammten, beim Militär sparten, einerseits um mehr Geld für Luxus und Sakralbauten zur Verfügung zu haben, andererseits weil das Militär eine Bedrohung für sie und ihre Standesgenossen war. Daher musste man im Ernstfall zunehmend auf vorübergehend angeheuerte Söldner setzen. Es änderten sich also die Grundbesitzstruktur und das Heerwesen. Und so ganz nebenbei wurde in dieser Periode auch noch die Trennung zwischen Ost- und Westkirche besiegelt.
 
Ich allerdings sehe weder davor noch danach eine Erstarrung. .

Die Fachwissenschaft ist da völlig anderer Meinung.

Ein guter Kenner der byzantinischen Geschichte, der Byzantinist Ralph-Johannes Lilie, sagt dazu:

Also wirkt Byzanz, trotz aller Änderungen im einzelnen, insgesamt statisch; es blieb zeit seiner Existenz auf die Vergangenheit fixiert. Die wenigen Versuche, Erstarrung und Verkrustung zu durchbrechen - etwa der Bilderstreit (Ikonoklasmus) im 8. Jh, die angestrebte Westöffnung des Reiches unter Manuel Komnenos im 12. oder die Bemühungen während des 14. Jahrhunderts, das westliche Denkgebäude der Scholastik für Byzanz zu erschließen - brachten nicht den gewünschten Erfolg und führten im Gegenteil eher zu einem härteren Widerstand gegen solche Neuerungen: Byzanz versuchte um so verzweifelter, die Vergangenheit wiederzubeleben, um sich seiner Identität zu versichern, je trostloser die zeitgenössische Realität wurde. [...]

Dieses ideologische Beharrungsvermögen wird durch die Kontinuität der staatlichen Institutionen erleichtert: Byzanz hat nie eine echte Revolution erlebt, sondern seine Entwicklung vollzog sich in winzigen, unmerklichen Schritten. Die Trägheit dieser Prozesse förderte das Weiterbestehen und die Erstarrung in Tradition bis hin zum Selbstbetrug ... Unbestreitbar ist, dass die Begrenztheit und Langsamkeit der Entwicklung den Eindruck von Statik vermittelt. Die Fassade von Byzanz blieb gleich, und zwar deshalb, weil die Byzantiner wollten, dass sie gleich blieb.

(Ralph-Johannes Lilie, Byzanz. Geschichte des Oströmischen Reiches, München 1999, S. 10 f.)
 
Ganz nachvollziehbar ist diese Analyse für mich trotzdem nicht.
Ich würde den Bilderstreit auch nicht als "Versuch, Erstarrung und Verkrustung zu durchbrechen" bezeichnen. Er war schließlich kein zielgerichteter Versuch, das Reich zu reformieren und in eine neue Richtung zu lenken.

Was die "Kontinuität der staatlichen Institutionen", den Mangel an einer "echten Revolution" und die "Entwicklung in winzigen, unmerklichen Schritten" betrifft:
Generell ist mir nicht klar, wieso es schlecht gewesen sein soll, dass in Byzanz nicht alle paar Jahrzehnte mal alles über den Haufen geworfen und die Verfassungsordnung komplett geändert wurde. In der Geschichte gibt es genug Beispiele, dass radikale Umbrüche in einem Land viel Chaos und Leid anrichten können und die neue Ordnung nicht unbedingt besser ist. Es stellt sich auch die Frage, in welche Richtung eine Revolution gehen sollen hätte: Waren denn die europäischen Systeme wirklich besser? Wäre es für Byzanz z. B. empfehlenswert gewesen, eine schwache Zentralgewalt und viele mächtige Regionalherren zu haben wie Frankreich im 10./11. Jhdt. und später das HRR? Oder ein Standesparlament, also keine echte Volksvertretung, sondern eine Versammlung von Klerus und adligen Großgrundbesitzern, die ihre Interessen durchzusetzen versuchen?
Generell ist das Reich dann am besten gefahren, wenn die Kaiser Kirche und den adligen Großgrundbesitz im Zaum hielten. Auch dass die Gesellschaft sozial durchlässig blieb, also weiterhin Menschen niedriger Herkunft Karriere machen und sogar den Kaiserthron besteigen konnten, war im Großen und Ganzen kein Nachteil.
Außerdem gab es durchaus Änderungen, sogar gravierende. Beispiele: Das spätantike römische Prinzip der Trennung von Zivil- und Militärgewalt wurde in der Verwaltung wieder aufgegeben, zunächst durch de Errichtung von Exarchaten, später (eingeschränkt) auch in der Themenordnung. Durch das Themensystem wurde nicht nur das Militärwesen, sondern auch die Wirtschaftsordnung grundlegend geändert. Später wurde es durch das Pronoia-System ersetzt.
Eine gewisse "Trägheit" und mangelnde "Reformfreudigkeit" gab es in der Umgebung des Kaisers, bei den mit zahlreichen Titeln und Ämtern versehenen Hofbediensteten und hohen Beamten, aber die Entwicklung einer derartigen Klette lässt sich in einem System mit einem absolut herrschenden Kaiser mit (faktischer) dynastischer Kontinuität, der sich auf einen entwickelten Verwaltungsapparat stützt, vermutlich kaum vermeiden. Man sollte die "Erstarrung" aber trotzdem nicht oberflächlich an der Langlebigkeit bestimmter Ämter und Titel (wobei aber zumindest das Konsulat verschwand) festmachen. Wichtiger war, dass es oft genug Kaiser gab, die sich über den Willen ihrer Einflüsterer hinwegsetzten, Adel und Klerus im Zaum hielten, den kleinen Mann schützten und vor allem Reformen in Militär, Finanzwesen und Wirtschaftsordnung durchführten.

Dass man viel Wert auf Tradition legte, ist nicht so erstaunlich, schließlich konnte man sich zurecht als das fortbestehende römische Reich betrachten. (Bei Byzanz war das wenigstens authentisch. Versuche, an eine römische Tradition anzuknüpfen, gab es aber auch zur Genüge anderswo, z. B. bei den Franken, im HRR oder bei den spanischen Kaisern, aber teilweise auch in den italienischen Stadtrepubliken. Die "Fixierung auf die Vergangenheit" war also kein rein byzantinisches Phänomen.) Das ändert aber nichts daran, dass das Reich der Palaiologen nicht nur flächenmäßig nicht mehr allzu viel mit dem Reich Iustinians I. zu tun hatte. Insofern stimme ich Lilie durchaus zu: Die "Fassade" blieb relativ gleich, es wurde damit durchaus der "Eindruck von Statik" vermittelt. Das Innere jedoch änderte sich.
 
Was die "Kontinuität der staatlichen Institutionen", den Mangel an einer "echten Revolution" und die "Entwicklung in winzigen, unmerklichen Schritten" betrifft:
Generell ist mir nicht klar, wieso es schlecht gewesen sein soll, dass in Byzanz nicht alle paar Jahrzehnte mal alles über den Haufen geworfen und die Verfassungsordnung komplett geändert wurde. In der Geschichte gibt es genug Beispiele, dass radikale Umbrüche in einem Land viel Chaos und Leid anrichten können und die neue Ordnung nicht unbedingt besser ist. Es stellt sich auch die Frage, in welche Richtung eine Revolution gehen sollen hätte: Waren denn die europäischen Systeme wirklich besser?
(...)
Dass man viel Wert auf Tradition legte, ist nicht so erstaunlich, schließlich konnte man sich zurecht als das fortbestehende römische Reich betrachten.
Ich stimme da völlig überein mit Raveniks Einschätzung.

Im Gegensatz zu den sich in der Spätantike formierenden Nachfolgerstaaten auf ehemaligem weströmischen Gebiet sowie von dort ausgehend auch tief in die Germania libera hinein ist zu konstatieren, dass im byz. Reich kein derartiger zivilisatorischer und administrativer Rückgang vorzufinden ist (man vergleiche eine größere karolingische Stadt mit einer byzanthinischen).
Mag die gesellschaftliche Entwicklung im arab. Spanien, im Frankenreich, in Britannien, im sich formierenden poln. und russ. Reich kräftig vorangeschritten sein - das byz. Reich bedurfte dergleichen nicht: es hatte da nichts aufzuholen wie die anderen, die ihre eigenen Wege aus den chaotischen Verhältnissen des 6.-7. Jhs. bzw. des 9.-10. Jhs. im slaw. Raum suchten und fanden.
so ist auch nicht verwunderlich, dass das Kaiserreich der Romäer in der mittelalterlichen Literatur einen immensen Prestigewert hatte, als märchenhaft reich galt usw.

Wenn allerdings der byz. Fortsetzung des röm. Reichs mangelnde Revolutionsfreudigkeit attestiert wird, so frage ich mich, woran man das bemessen und vergleichen will? Fanden denn die Gesellschaft immens voranbringende Revolutionen in der Zeit vom 6.-11. Jh. in Spanien, Britannien, Skandinavien, Frankenreich usw. statt? Auf welchen Zug, der voran bringt, hat Byzanz es vor den Kreuzzügen bzw. vor Manzikert nicht geschafft, aufzuspringen? Gab es überhaupt solche??

Mir scheint ganz banal, dass die Ursache für den letztlichen Niedergang weniger in den inneren gesellschaftlichen Strukturen, als im nicht nachlassenden permanent hammering von allen Seiten von außen her zu suchen und zu finden ist.
 
Mir scheint ganz banal, dass die Ursache für den letztlichen Niedergang weniger in den inneren gesellschaftlichen Strukturen, als im nicht nachlassenden permanent hammering von allen Seiten von außen her zu suchen und zu finden ist.


Was man Byzanz allenfalls vorwerfen könnte, ist die mangelhaft Eingliederung, "Byzantinisierung", der Balkanslawen. Ab der Völkerwanderungszeit konnte Ostrom auf dem Balkan nie mehr eine echte Machtbasis aufbauen, obwohl es die Gegend lange Zeit beherrschte.
 
Gut, dass Du das Stichwort "Balkan" nochmal aufgreifst. Das ist zu schnell zur Seite gelegt worden.
 
Bezüglich der ökonomischen Verluste möchte ich an dieser Stelle auf die rasant innerhalb kürzester Zeit fallende Einwohnerzahl von Konstantinopel hinweisen, die auf den Verlust dieser Provinzen hin stattfand.
Allerdings war dieser Bevölkerungsverlust auch eine Folge mehrerer Epidemien. Schon die Iustinianische Pest hatte die Stadtbevölkerung deutlich reduziert, und in den kommenden beiden Jahrhunderten folgten weitere Pestwellen, vor allem 747.
Im Übrigen war es nicht so, dass nach der arabischen Eroberung kein Getreide mehr nach Konstantinopel exportiert worden wäre.

Sowie die Veränderungen der Lebensweise der Byzantiner bis hin zu Veränderungen bei den Essgewohnheiten, Religion (Ikonoklasten usw) die sich aus den Innenpolitischen Spannungen ergaben die daraus resultierten.
Den Bildersturm als Folge des Verlustes der orientalischen Provinzen zu sehen, ist aber schon etwas gewagt. Allenfalls kann man argumentieren, dass die Bilderstürmer eventuell vom Islam beeinflusst wurden, zumal Leon III. aus dem Grenzgebiet zum Islam stammte. Umgekehrt aber verdankte er seine starke innenpolitische Stellung vor allem seinen militärischen Erfolgen gegen die Araber.

Das Reich wurde in Bezug auf seine Einnahmen und insbesondere in Bezug auf seine Versorgung der Großstädte mit Lebensmitteln drastisch geschwächt.
Umgekehrt ersparte man sich aber nunmehr die Versorgung der unruhigen Großstädte Alexandria und Antiochia.
Die Folgen des Einnahmenausfalls wurden später durch das Themensystem gemildert, indem sich die Masse der Soldaten jetzt selbst versorgte und obendrein auch noch Steuern zahlte, wodurch die Militärausgaben sanken und die Steuereinnahmen wieder stiegen. Der Solidus blieb bis ins 11. Jhdt. hinein relativ stabil.

Nach Manzikert wurden auch hier Reformen angesetzt, wobei offenbar parallel auch die Besteuerung angepasst worden ist (Vervierfachung der Basisbesteuerung), um die Einnahmen drastisch zu erhöhen.
Eine einschneidende Maßnahme war auch die Errichtung eines staatlichen Monopols auf den Getreidehandel: Das Problem war, dass einige Großhändler den Getreideimport weitgehend in ihre Hand gebracht hatten und somit den Preis hochtreiben konnten. Also errichtete unter Michael VII. der mächtige Logothetes Nikephoritzes ein staatliches Monopol. Allerdings nutzte er es nicht etwa zur Preissenkung, sondern hob ihn im Gegenteil noch weiter an. Damit kurbelte er die Inflation an, und es kam zu Unruhen. Seinem Kaiser brachte das den Beinamen "Parapinakes" ein, was "minus ein Viertel" bedeutet, weil man fürs selbe Geld nur noch drei Viertel der Weizenmenge von früher bekam. Schließlich musste der Kaiser abdanken und ins Kloster verschwinden (brachte es aber später noch zum Bischof von Ephesos), und sein Helfer wurde zu Tode gefoltert.

Was man Byzanz allenfalls vorwerfen könnte, ist die mangelhaft Eingliederung, "Byzantinisierung", der Balkanslawen. Ab der Völkerwanderungszeit konnte Ostrom auf dem Balkan nie mehr eine echte Machtbasis aufbauen, obwohl es die Gegend lange Zeit beherrschte.
Der Vorwurf ist nur teilweise berechtigt, denn es war nicht so, dass man es nicht versucht hätte. Die neuerworbenen Gebiete am Balkan wurden ins Themensystem und in die Kirchenorganisation einbezogen, und gestützt auf Verwaltung und Kirche wurde durchaus eine Byzantinisierungspolitik betrieben. Es gab auch Umsiedlungen, um die ethnischen Strukturen aufzubrechen. Allerdings gab es etliche Probleme: Die Byzantiner gingen zu schnell und grob vor (u. a. durch die zu schnelle Einführung des byzantinischen Steuersystems und durch die Einsetzung eines griechischen Erzbischofs in Ochrid, dem geistigen Zentrum der Slawen), wodurch sie als Besatzer und Unterdrücker wahrgenommen wurden. Insgesamt reichte wohl auch die Zeit nicht. Größere Teile des Balkans, u. a. Bulgarien, standen nach ihrer Rückeroberung nur für etwa eineinhalb Jahrhunderte unter byzantinischer Herrschaft. Die Romanisierung hatte im römischen Reich auch nicht über Nacht geklappt, sondern war ein langwieriger Prozess gewesen, bloß dass die Römer in den meisten Gebieten mindestens vierhundert Jahre Zeit hatten und oft auch deutlich behutsamer vorgegangen waren. Weiters fiel die Phase der versuchten Herrschaftskonsolidierung am Balkan ausgerechnet in die Zeit des 11. Jhdts., als die Großgrundbesitzer im Reich freie Hand bekamen, was sie nutzten, um sich am Balkan zu Lasten der heimischen Bauern riesige Ländereien unter den Nagel zu reißen. Das Stratiotensystem (mit dessen Hilfe man aus den einheimischen Bauern im Laufe der Zeit vielleicht brave Bürger und Soldaten hätte machen können) konnte sich trotz Errichtung von Themen nie etablieren, stattdessen erfolgte gleich die Feudalisierung. Dass sich die Region in einem ständigen Abwehrkampf gegen Ungarn, Petschenegen & Co. befand, trug auch nicht zur Stabilisierung bei. Dazu kam noch der religiöse Gegensatz, weil am Balkan das Bogomilentum weit verbreitet war. All das führte zu mehreren Aufständen.
Erfolgreich war die Byzantinisierung nur bei den Slawen Griechenlands.
 
Der Vorwurf ist nur teilweise berechtigt, denn es war nicht so, dass man es nicht versucht hätte.

Aber war dies nicht mehr eine Kolonisation statt einer Integration?
Byzantinische Adlige, die über slawische Untertanen herrschten?
Am Hof in Konstantinopel tauchen kaum slawische Namen auf. Eine großflächige Verleihung des Bürgerrechtes wie ehedem gab es auch nicht.
Der slawische/hunno-bulgarische Adel wurde eben nicht integriert, weshalb es immer wieder zu Aufständen kam.
 
Du hast schon recht, wobei die Grenzen zwischen Integration und Kolonisierung fließend sind.
Man sollte aber nicht das antike römische Vorbild vergolden. Auch die Römer kamen nicht als Heilsbringer, sondern als Eroberer, die zunächst einmal im Zuge der Eroberung Teile der heimischen Bevölkerung töteten oder versklavten und Schätze an sich rissen. Auch die Römer legten in eroberten Gebieten Kolonien an und nahmen zu diesem Zweck den Einheimischen Land weg, und auch sonst gingen so manche Ländereien an reiche Römer. Sie legten natürlich auch Stützpunkte an und stationierten Besatzungstruppen. Und auch die Römer nahmen den heimischen Adel nicht sofort in ihre eigene Führungsschicht auf. Nach der Eroberung Galliens z. B. dauerte es knapp hundert Jahre, ehe vornehme Haeduer als erste Gallier von Claudius den Zugang zum Senat erhielten. In hohen Ämtern tauchten Personen nichtitalischer Abstammung erst ab dem späteren 2. Jhdt. n. Chr. in größerer Zahl auf. Großflächige Bürgerrechtsverleihungen gab es auch nicht so schnell, sogar die meisten Italiker mussten nach ihrer Unterwerfung mindestens eineinhalb Jahrhunderte darauf warten, und in den Provinzen wurde das Bürgerrecht lange Zeit nur an ausgewählte Personen und einzelne Städte verliehen, erst unter Caracalla, also nach mindestens zweihundert Jahren römischer Herrschaft, dann flächendeckend. Damit wären wir wieder beim Problem, dass Bulgarien gar nicht lange genug unter byzantinischer Herrschaft stand, um eine vergleichbare Entwicklung zu ermöglichen.
Unterm Strich glichen die Anfänge römischer Herrschaft also durchaus den Anfängen byzantinischer Herrschaft. Ein Unterschied war aber, dass die Römer mitunter insofern behutsamer vorgingen, als sie unterworfenen Gebieten mitunter nicht so schnell ihr eigenes System überzustülpen versuchten, sondern unterworfene Städte und Stämme zunächst oft eher als "Bundesgenossen" behandelten, die sich durch Verträge "freiwillig" der römischen Herrschaft unterstellten. Bei Gallien dauerte es z. B. einige Jahrzehnte, bis eine reguläre Provinzorganisation eingeführt wurde. Städte behielten ihre Autonomie auch später. Außerdem nahmen die Römer mehr Rücksicht auf die kulturellen Eigenheiten der Unterworfenen, indem sie eben nicht eine aktive Assimilierungspolitik betrieben, während die Byzantiner den neuunterworfenen Gebieten die griechisch-orthodoxe Kirche und Kultur aufzuzwingen versuchten.
 
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