Was das jetzt mit Tagespolitik zu tun hat? Auf jeden Fall geht es mehr um Weltanschauungsfragen als um Geschichte.
Das ist ein sehr wichtiger Aspekt, auch wenn er vordergründig simpel erscheint. Die "Dolchstosslegende" fortführend, die Maelonn thesenhaft anführte, soll auf die unterschiedlichen politischen Kulturen in den USA verwiesen werden.
So verweist Lind darauf, dass es starke konservative bzw. liberale "Non-Interventionisten" (fälschlich als "Isolationisten" bezeichnet) gab, die aus dem Midwest kommend um so unterschiedliche Personen wie George Mc Govern ("1972: "Come Home America") oder G. Kennan (Wisconsin) oder Appleman Williams (Iowa) ein Zurückziehen aus dem "Kalten Krieg" forderten. (M. Lind: America under the Caesars. in: The National Interest July/August 2010, Pos. 1504ff)
Es war auch die Opposition der höchsten politischen Berater in den USA, die den intra-Eliten-Konflikt um die "richtige" Außenpolitik verdeutlicht. Es sind dabei die beiden tragenden Philosophien der amerikanischen Außenpolitik, der "Idealismus" und der "Realismus", die in einem permanenten Konflikt stehen und die Außenpolitik der USA so widersprüchlich machen und das Spektrum begrüßenswerter humanitärer Aktionen bis hin zu Kriegsverbrechen umfaßt.
In diesem Sinne beschreibt Grandin (G. Grandin: Kissingers langer Schatten, 2016, S. 11ff) ein Treffen von Kissinger mit einer Gruppe von Top-Beratern des Weißen Hauses bzw. des Pentagon ("Harvard Delegation" mit 3 Nobelpreisträgern) Anfang Mai 1970. Als "Sprecher" der Berater fungierte Thomas Schelling, der als Harvard-Ökonom durch seine Beiträge zur "Spieltheorie" Anfang der sechziger Jahre die Atomwaffendoktrin der USA maßgeblich beeinflusst hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Schelling zu einem Gegner weiterer Interventionen der USA in andere Länder entwickelt.
In diesem Gespräch teilte Schelling Kissinger mit, dass diese Gruppe der Regierung als Berater nicht mehr zur verfügung stand. Kissinger fragte Schelling, welche Fehler er gemacht hätte damit es zu dieser Entscheidung kam und Schelling erklärte es folgendermaßen:
"Sie schauen aus dem Fenster und sehen ein Monster. Und sie wenden sich an den Kerl neben sich am selben Fenster und sagen zu ihm:"Schauen Sie mal, da ist ein Monster." Er blickt daraufhin nach draußen und kann nirgends ein Monster erkennen. Wie erklären sie ihm, dass dort wirklich ein Monster ist?" Schelling fuhr fort:" Aus unserer Sicht gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder der Präsident war sich nicht im Klaren, dass er mit dem Einmarsch in Kambodscha ein souveränes Land verletzt hat, oder er war sich darüber im Klaren. Wir wissen allerdings nicht, welche der beiden Möglichkeiten beängstigender ist"
Diese Situation verweist, so Grandin, auf die Veränderung der Rahmenbedingungen für politisches Handeln. In Anlehnung an M. Glennon, der sich auf Bagehot bezieht, zeichnet er das Bild eines politischen Systems in den USA, dass eine "Oberflächenstruktur" aufweist, die symbolische Politik betreibt und Repräsentationsfunktionen erfüllt. Die eigentlich funktionale Politik vollzieht sich außerhalb der Sichtweite und außerhalb der Kontrolle der formal legitimierten Institutionen. Eine Sichtweise, die im wesentlichen zugespitzt durch das Politikverständnis der "Neocons" die allgemeinen Tendenzen verstärkt hatte.
Im Kern geht diese Sicht davon aus "Welten zu schaffen" anstatt zu reagieren. In diesem Sinne schrieb (vermutlich) Karl Rove (Spitzenberater von G.W.Bush):"Wir sind jetzt ein Imperium, wenn wir agieren, schaffen wir unsere eigene Realität" (vgl. Grandin, S. 26)
Es wirft ein sehr kritisches Licht auf das Politikverständnis eines Teils der Eliten und man kann nur mit Schelling hoffen, dass mehr Personen die Bereitschaft haben, das "Monster" sehen zu wollen. Spannend ist somit die Frage, wer in welchen Ländern die Ziele der neuen "Realität" definiert. Und genau diese Aspekte gilt es, dem öffentlichen Diskurs zuzuführen.
https://books.google.de/books?id=BvlzBAAAQBAJ&printsec=frontcover&dq=glennon,+michael&hl=de&sa=X&redir_esc=y#v=onepage&q=glennon%2C%20michael&f=false
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