Was ist los in Ithaka?

hjwien

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Es ist ein ravenickscher Gedanke, der mir da durchs Hirn spukt: Wie ist das mit der Thronfolge in Ithaka? Warum kann Telemachos nicht einfach Thron und Krone übernehmen?

Zunächst einmal ist es natürlich klar, daß es sich bei der Odyssee um Literatur handelt. Diese darf zuspitzen, übertreiben, sie darf, um ihre Aussage deutlich zu machen, Widersprüche aufbauen oder unlogisch werden, wenn es dem Aufbau dient. All dies darf auch die antike Literatur.
Auf der anderen Seite ist Literatur stets auf das Verständnis und Interesse des Rezipienten angewiesen. Wenn eine Geschichte sich soweit aus dem Erwartungshorizont ihrere Zuhörer heraus bewegt, daß diese ihr nicht mehr folgen können oder wollen, dann verliert sie ihre Glaubwürdigkeit und damit auch ihre Spannung. Schiller formuliert das in etwas so: Eine Geschichte muß stets moralisch sein, damit sie unterhaltsam ist.

Wie ist das also in Ithaka? Da gibt es einen König, der seit zwanzig Jahren fort ist. Er ist nicht offiziell für tot erklärt, dennoch werden die Freier um eine Frau, die noch nicht eindeutig Witwe ist. Hier kann man der Geschichte folgen und sagen, daß sich darin eben der Frevel der Freier deutlich zeigt, indem sie Regeln brechen.

Auf der anderen Seite ist offensichtlich der vakante Thron an die Heirat mit der Königin gebunden, denn die Freier werben ja nicht nur um Penelope, sondern auch gleichzeitig um die Krone. Aber wieso? Es ist ein zwanzigjähriger Prinz da, der doch allem Anschein nach alles recht auf die Krone hätte, wenn sein Vater nicht wiederkehrt.

Gut, Telemach wird als schwach gezeigt, so daß er nicht in der Lage ist, sich gegen die Freier durchzusetzen. Aber wie sieht das mit dem Recht aus?

Man könnte also vermuten, daß es sich bei der Herrschaft über Ithaka nicht um ein Erbkönigtum handelt, sondern um ein Wahlkönigtum. Abgesehen davon aber, daß die mythischen Könige alle Erbkönige sind und auch Odysseus ja den Thron von Laertes übernahm, wäre ja ein Wahlkönigtum wiederum nicht an die Hand der Königin gebunden, die ja so offensichtlich gar nicht wieder heiraten möchte. Dann könnte man sie ja in Ruhe auf ihr Altenteil schicken.

Die Frage ließe sich aber auch noch erweitern: neben dem Thronanwärter Telemachos gibt es auch noch den Altkönig, nämlich Laertes. Die Frage, warum er nicht den vakanten Thron wieder einnimmt, führt weiter: Wer regiert eigentlich in Odysseus Abwesenheit? Ist Penelope die Regentin? Wenn dies so wäre, warum wird ihr dies nun nicht mehr zugebilligt? Weil sie an das Leben von Odysseus gebunden ist, welches nun bezweifelt wird? Dann könnte sie ja aber immer noch rechtmäßige Regentin an Stelle ihres Sohnes sein, bis dieser volljährig wird, was er aber bei Odysseus Rückkehr mit zwanzig Jahren eindeutig ist.

Zum Vergleich: Der Irgendwie-Cousin von Telemach, Orestes, wird als Kind aus dem Haus geschmuggelt, wächst in der Fremde auf, kehrt zurück, tötet Mutter und Thronräuber, wird dann von den Furien durch Griechenland gehetzt, muß bis nach Tauris zu seiner Schwester, aber als er dann heimkommt nach Mykene, gibt es keinen Zweifel, daß er als rechtmäßiger König herrscht. Wer aber regiert solange in Mykene? Wenn Menelaos, dann doch auch als Regent?


Die Schlüsselfrage des Dramas erscheint mir also nicht ganz schlüssig. Wäre ich ein Grieche des 8. Jhs. und ein Rhapsode trüge mir die Geschichte vor, schüttelte ich doch das lockige Haupt und riefe fragend: „Wo eigentlich liegt das Problem?“
 
Interessant Frage.

Ein spekulativer Erklärungsversuch: Es ging weniger um die politische, institutionalisierte Macht eines Königs, sondern mehr um das materielle Erbe, da dieses die Voraussetzung war, die Position des Königs einzunehmen bzw auszufüllen. Die "Könige" der griechischen Sagenwelt waren mWn eher, als Großgrundbesitzer, die "Ersten unter Gleichen" innerhalb der vermögenden Oberschicht, gerade auf dem Land abseits größerer Städte wie Mykene; aber auch hier ist es mE fraglich, ob nach dem Zusammenbruch der mykenischen Schriftkultur und der damit zusammenhängenden Verwaltung eine zentralisierte Herrschaft überhaupt möglich war.

Dieses materielle Erbe war von Penelope verwaltet worden; innerhalb des Hauses verwaltete ohnehin die Ehefrau den Haushalt, und so lag der rein materielle Besitz des Odysseus in den Händen Penelopes. Der Vater, Laertes, hatte schon zu Lebzeiten auf diesen Besitz verzichtet und Odysseus sein Erbe antreten lassen. Er war raus aus Politik und Wirtschaft und lebte als armer Einsiedler; seinen Besitz zurückzufordern war unmöglich, da sagt das heutige Erbrecht nichts anderes, glaub ich.

Telemachos das Erbe seines Vaters antreten zu lassen ging nicht, weil dies einerseits bedeutet hätte, Odysseus Tod zu akzeptieren, zu was Penelope ja offensichtlich nicht bereit war. Andererseits hätte vielleicht die Gefahr bestanden, das der junge Telemachos damit zum Ziel der macht- und geldgierigen Freier geworden wäre, wenn diese auf Gewalt gesetzt hätten, nachdem die "legale Option" durch Heirat Penelopes nicht mehr existierte.

Ob das kleine Ithaka überhaupt einen König in unserem Sinne "brauchte", also eine zentralisierte Spitze der politischen Macht, ist mE zumindest fraglich. Dann würde auch die Frage entfallen, wer während Odysseus Abwesenheit "die Regierungsgeschäfte führte", ber die Verwaltung des direkten Eigentums hinaus: Niemand (nicht als Alias für Odysseus verstanden... ;) ). Hätte es jemand gegeben würde sich auch die Frage stellen, wieso der nicht in der Geschichte auftaucht, zB weil Penelope sich an ihn um Hilfe wendet, oder er sie anweist oder zwingt, wieder zu heiraten, schon um des lieben Friedens in Ithaka willen.

Die Szenazrio macht auch das Problem Penelopes deutlich: Es ging um ihren materiellen Besitz (bzw den des Odysseus), und gerade dieser wurde von der Freierschar dezimiert, die Penelope ja praktisch die Haare vom Kopf fraßen.
 
Zum Vergleich: Der Irgendwie-Cousin von Telemach, Orestes, wird als Kind aus dem Haus geschmuggelt, wächst in der Fremde auf, kehrt zurück, tötet Mutter und Thronräuber, wird dann von den Furien durch Griechenland gehetzt, muß bis nach Tauris zu seiner Schwester, aber als er dann heimkommt nach Mykene, gibt es keinen Zweifel, daß er als rechtmäßiger König herrscht. Wer aber regiert solange in Mykene? Wenn Menelaos, dann doch auch als Regent?
Nein, nach der Flucht von Orestes übernahm Aletes, der Sohn von Aigisthos, die Macht. Als Orestes wieder zurückkehrte, wurde Aletes von ihm ermordet, und Orestes wurde König.

Deine eigentliche Frage kann ich Dir leider nicht beantworten.

Dass mit der Hand der Witwe auch der Anspruch auf den Thron verbunden war, kam übrigens auch anderweitig vor: Oidipus (von dem man dachte, er sei ein Prinz aus Korinth) wurde König von Theben, indem er die Witwe von Laios heiratete. Allerdings kann man diesen Fall nicht mit der Situation auf Ithaka vergleichen, weil man von Laios glaubte, er sei kinderlos gestorben. Komplett verwaist wäre der Thron allerdings ncht gewesen: Iokaste und ihr Bruder Kreon waren in männlicher Linie Nachfahren des früheren Königs Pentheus, im Sinne einer erblichen Thronfolge unter Bevorzugung männlicher Erben hätte also Kreon einen größeren Anspruch auf den Thron haben müssen als der ausländische Gatte der Iokaste. (Allerdings war der Thronanspruch auch an die Besiegung der Sphinx geknüpft, was diesen Fall wohl zu einem Spezialfall macht.)
Übrigens war die Herrschaft des Pentheus auch schon etwas seltsam: Er war der Sohn einer Tochter des Kadmos und folgte ihm, obwohl Kadmos auch Söhne hatte, von denen einer, Polydoros, dem Pentheus folgte. Zwar war Pentheus von Kadmos selbst als Nachfolger bestimmt worden, aber wenn normalerweise Söhne mehr Anspruch auf den Thron hatten als die Nachkommen von Töchtern, stellt sich die Frage, wieso Polydoros so einfach akzeptiert hat, übergangen zu werden. Zwar scheint Pentheus' Mutter älter gewesen zu sein als Polydoros, aber anderweitig lässt sich nicht beobachten, dass Söhne von Töchtern eines Königs mehr Anspruch hatten als seine eigenen (jüngeren) Söhne. Auch dafür, dass ein König relativ frei bei der Auswahl seines Nachfolgers gewesen wäre, fallen mir ansonsten kaum mögliche Belege ein.

Berücksichtigen muss man aber freilich noch, dass man nicht so ohne Weiteres von einer einheitlichen Thronfolgeregelung in ganz Griechenland ausgehen sollte. Auf Ithaka könnten die Verhältnisse ganz anders gewesen sein als anderweitig.
 
Eine lange Abwesenheit des Königs war in Griechenland zu der Zeit keineswegs ungewöhnlich. 10 Jahre lang belangerten quasi alle griechischen Könige Troja, wenn man Homer glauben schenken könnte. Ithaka war also kein Einzelfall und die 10 weiteren Jahren Odyssee machen den Kohl auch nicht mehr fett.

Zum Ablauf Thronfolge:
Laertes gab den Königstitel schon zu Lebenzeiten. Er muss aber noch recht jung gewesen sein, als er sich auf das Altenteil zurückzog. Nach der Rückkehr des Odysseus unterstützt er diese nämlich noch beim blutigen Kampf gegen die Freier der Penelope. Er war also noch nach der 20 Jahre andauerenden Abwesenheit des Königs noch immer kein zerbrechlicher Greis - sicherlich noch unter 70.

Wenn ich das vorrausetze, dürfte Odysseus noch ziemlich jung gewesen sein, als der den Thron übernahm. Vor seiner Abfahrt nach Troja, war er wahrscheinlich gerade erst König geworden. Es wurde sogar Sinn ergeben, wenn er aus Anlass des Kriegszuges zum König gemacht wurde, den der Krieg war ja die wesentliche Aufgabe des Königs.

Bei der Rückkehr des Odysseus nach Ithaka war Telemachos sicher schon über 20 Jahr alt. Odysseus müsste daher zwischen 40 und 50, Laertes zwischen 60 und 70 Jhre alt gewesen.
Der Laertes müsste sich dann bereits im Alter zwischen 40 und 50 vom Thron zurückgezogen haben. Laertes selbst war als junger Mann an der Argonautenfahrt und an der kalydonischen Jagd beteiligt, war also auch mal unterwegs, nur eben nicht so lange.
 
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Eine lange Abwesenheit des Königs war in Griechenland zu der Zeit keineswegs ungewöhnlich. 10 Jahre lang belangerten quasi alle griechischen Könige Troja, wenn man Homer glauben schenken könnte. Ithaka war also kein Einzelfall und die 10 weiteren Jahren Odyssee machen den Kohl auch nicht mehr fett.

Kann man die zehn- bzw. zwanzigjährige Abwesenheit Odysseus' als "keineswegs ungewöhnlich" bezeichnen, weil ein Epos von der zehnjährigen Belagerung Trojas erzählt, bei der sowieso alle Könige teilnahmen?
 
So habe ich es gemeint. Während des heroischen Zeit Alters, welches Homer beschreibt, war die jahrelange Abwesenheit von Königen der Regelfall.
Das ungewöhnliche an Odysseus ist, dass er bei seinem Vater aufwächst. Typischer für einen Helden wäre es doch von einem Hirten, besser noch von einem Zentauren erzogen zu werden oder wenigstens von einem bösen Stiefvater. ;-)

Das Problem mit dem aufgrund des Kriegszuges abgewesenen Königs löste das historische Sparta mit dem Doppelkönigtum. Aus dem gleichen Grund gab es während der römischen Republik zwei Konsulen. Da konnte immer eine noch das Regierungsgeschäft erledigen, während der Kollege gerade Krieg führte oder herumirrte.
 
Zuletzt bearbeitet:
Er muss aber noch recht jung gewesen sein, als er sich auf das Altenteil zurückzog. Nach der Rückkehr des Odysseus unterstützt er diese nämlich noch beim blutigen Kampf gegen die Freier der Penelope. Er war also noch nach der 20 Jahre andauerenden Abwesenheit des Königs noch immer kein zerbrechlicher Greis - sicherlich noch unter 70.
Nicht unbedingt. Athene verjüngte ihn nämlich vor dem Kampf gegen den Anhang der Freier. (Erst an diesem nahm er teil, nicht schon am Kampf gegen die Freier selbst.) Das bedeutet wohl im Umkehrschluss, dass er ohne Verjüngung nicht mehr kampftauglich gewesen wäre.

Vor seiner Abfahrt nach Troja, war er wahrscheinlich gerade erst König geworden. Es wurde sogar Sinn ergeben, wenn er aus Anlass des Kriegszuges zum König gemacht wurde, den der Krieg war ja die wesentliche Aufgabe des Königs.
Odysseus muss schon davor regiert haben. Telemachos erwähnt an einer Stelle in der "Odyssee", dass Odysseus die Ithaker gut regiert habe; ähnlich auch Penelope.
Ein anstehender Kriegszug wäre auch kein Grund für einen Thronwechsel; der alte Nestor führte das Kontingent aus Pylos schließlich auch noch selbst, obwohl er etwa im Alter von Laertes gewesen sein muss, mit dem er gemeinsam am Argonautenzug und der Kalydonischen Eberjagd teilgenommen hatte, und dankte nicht zugunsten seines Sohnes Antilochos ab.

Während des heroischen Zeit Alters, welches Homer beschreibt, war die jahrelange Abwesenheit von Königen der Regelfall.
Wirklich? Welche sonstigen Beispiele hast Du dafür? Sogar größere Kriegszüge wie die der Sieben oder später der Epigonen gegen Theben dauerten normalerweise nicht jahrelang.

Das Problem mit dem aufgrund des Kriegszuges abgewesenen Königs löste das historische Sparta mit dem Doppelkönigtum. Aus dem gleichen Grund gab es während der römischen Republik zwei Konsulen. Da konnte immer eine noch das Regierungsgeschäft erledigen, während der Kollege gerade Krieg führte oder herumirrte.
Ursache und Entstehung des spartanischen Doppelkönigtums liegen in einer Zeit außerhalb unserer historischen Wahrnehmung, somit können wir darüber gar nichts sagen. Es stimmt zwar, dass zu den Hauptaufgaben der spartanischen Könige die Kriegsführung gehörte, aber das bedeutet nicht zwangsläufig, dass das auch der Grund für das Doppelkönigtum war. Die Sage selbst erklärte es damit, dass Zwillingsbrüder an die Macht gekommen seien, die gemeinsam regierten und denen dann jeweils ein Sohn folgte, wodurch die beiden Dynastien der Agiaden und Eurypontiden entstanden seien. (Das wird zwar kaum die historische Ursache sein, aber Genaues wissen wir nun mal leider nicht.)
Auch bei den Römern stimmt es zwar, dass oft (aber keineswegs immer, manchmal führten auch beide gemeinsam das Heer, z. B. bei Cannae) ein Konsul auf Feldzug war und einer zuhause, aber das bedeutet nicht zwangsläufig, dass das auch der Grund für die Kollegialität war. Normalerweise wird sie eher mit der wechselseitigen Kontrolle und Machtbeschränkung erklärt.
 
Kann man die zehn- bzw. zwanzigjährige Abwesenheit Odysseus' als "keineswegs ungewöhnlich" bezeichnen, weil ein Epos von der zehnjährigen Belagerung Trojas erzählt, bei der sowieso alle Könige teilnahmen?

Menelaos kam auch erst 8 Jahre nach dem trojanischen Krieg zu Hause an.

Das Problem mit dem aufgrund des Kriegszuges abgewesenen Königs löste das historische Sparta mit dem Doppelkönigtum. Aus dem gleichen Grund gab es während der römischen Republik zwei Konsulen. Da konnte immer eine noch das Regierungsgeschäft erledigen, während der Kollege gerade Krieg führte oder herumirrte.

Da bin ich, wie auch Ravenik, anderer Meinung. Bei Menelaos ist noch keine Rede von einem zweiten König, der die Regierungsgeschäfte teilte.

Und bei den Römern, wie ja auch hier

Auch bei den Römern stimmt es zwar, dass oft (aber keineswegs immer, manchmal führten auch beide gemeinsam das Heer, z. B. bei Cannae) ein Konsul auf Feldzug war und einer zuhause, aber das bedeutet nicht zwangsläufig, dass das auch der Grund für die Kollegialität war. Normalerweise wird sie eher mit der wechselseitigen Kontrolle und Machtbeschränkung erklärt.

beschrieben, ging es in erster Linie um die gegenseitige Kontrolle. Es gibt ja durchaus auch Überlegungen, ob die Consules nicht erst später kamen, während vorher ein Prätor die entscheidenden Befugnisse hatte.

Aber kehren wir zurück nach Ithaka, wobei ich nochmal betonen möchte, daß es darum geht, dem fiktiven mythischen Geschehen einen realen historischen Hintergrund abzugewinnen, der nicht in der Ereignisgeschichte, sondern in den Strukturen zu suchen ist.

Ich will mal folgende Stellen anführen.

Od. I 383 ff.:

"Aber Eupeithes' Sohn Antinoos gab ihm zur Antwort:
Ei! dich lehren gewiß, Telemachos, selber die Götter,
vor der Versammlung so hoch und so entschlossen zu reden,
daß Kronion dir ja die Herrschaft unseres Eilands
nicht vertraue, die dir von deinem Vater gebühret!"

Hier scheinen also selbst die Freier anzuerkennen, daß es eine legitime Thronfolge gibt. Daß sie diese offenbar nicht anerkennen und damit freveln, ist Teil der Geschichte und verständlich. Was ich nicht verstehe, ist die Verneinung im Satz. Als Ironie klappt doch das auch nicht?

Telemachos erwidert darauf:

"Gerne nähm' ich sie an, wenn Zeus sie schenkte, die Herrschaft!...
...Aber es wohnen ja sonst genug achaiische Fürsten
In dem umfluteten Reiche von Ithaka, Jüngling' und Greise.
Nehm es einer von diesen, wofern Odysseus gestorben!
Doch behalt ich für mich die Herrschaft unseres Hauses
und der Knechte, die mir der edle Odysseus erbeutet!"

Er scheint also, obwohl er sie gern hätte, vor dem Anspruch auf die Herrschaft zurückzuschrecken, wohl weil er, wie es ja an anderen Stellen zum Vorschein kommt, sich nicht stark genug fühlt, was allerdings ein jammervolles Bild für einen zwanzigjährigen Prinzen abgibt.
Was er aber für sich fordert, ist die Herrschaft seines Hauses, also der Besitz seiner Güter.
Und Eurymachos sagt ihm dies auch zu:

"Dies, Telemachos, ruht im Schoße der seligen Götter,
wer das umflutete Reich von Ithaka künftig beherrschet;
Aber die Herrschaft im Haus und dein Eigentum bleiben dir sicher!
Komme nur keiner und raube dir je mit gewaltsamen Händen
Deine habe, solange noch Männer in Ithaka wohnen!"

Hier ist also, trotz Anspruch Telemachos, die Herrschaft offen, aber nicht an den Besitz des Odysseus gebunden. es scheint immer nur um die Heirat mit Penelope zu gehen, denn es wird weiter unten ausgesprochen, als Telemachos eine Versammlung einberuft, die erste nach der Abfahrt Odysseus, auf dem Stuhl seines Vaters sitzend und das Zepter gereicht bekommt, also mit den Königsinsignien ausgestattet:

II 114 ff (ich fass mal zusammen, damit es kürzer wird)

Telemachos soll die Mutter zu ihrem Vater Ikarios zurückschicken, damit der sie selbst wieder verheiratet, und dies weist Telemach zurück, zumal aus Pietät der Mutter gegenüber, aber auch aus Angst vor dem Zorn seines Großvaters, der einen Teil der Mitgift wieder zurückfordern würde. Indirekt gibt er aber zu erkennen, daß die Freier doch zu Penelopes Vater gehen sollen, und nicht bei ihm hausen.

Es scheint, als müsse man Penelope, Herrschaft und Besitz trennen. Die Vermutung von Reinicke, daß es gar keine institutionelle Herrschaft gab und es nur um den Besitz von Odysseus ging, scheint also nicht zuzutreffen
 
Od. I 383 ff.:

"Aber Eupeithes' Sohn Antinoos gab ihm zur Antwort:
Ei! dich lehren gewiß, Telemachos, selber die Götter,
vor der Versammlung so hoch und so entschlossen zu reden,
daß Kronion dir ja die Herrschaft unseres Eilands
nicht vertraue, die dir von deinem Vater gebühret!"

Hier scheinen also selbst die Freier anzuerkennen, daß es eine legitime Thronfolge gibt. Daß sie diese offenbar nicht anerkennen und damit freveln, ist Teil der Geschichte und verständlich. Was ich nicht verstehe, ist die Verneinung im Satz. Als Ironie klappt doch das auch nicht?
Ich verstehe das schon ironisch: Zuvor hatte Telemachos die Freier verbal recht offen und heftig angegriffen. Und nun sagt Antinoos mit einem sarkastischen "Oh, jetzt zittere ich aber!" im Unterton: "Dich haben sicher die Götter gelehrt, so mutig zu reden. Jetzt können wir bloß noch hoffen, dass Zeus dir nicht auch noch die Herrschaft überträgt (denn sonst ist es endgültig aus mit uns) ..."
 
Ich bin jetzt bei Bannert (Bannert, Herbert: Homer lesen. Stuttgart-Bad Cannstatt 2005) auf einen neuen Gedanken gestoßen. Oben war ja postuliert worden, dass Laertes König von Ithaka gewesen war und auf diese Würde verzichtet habe. Bannert stellt noch eine andere Option vor, die ich einmal zitiere:

[...] Laertes wird nirgends ausdrücklich als König oder früherer König bezeichnet, und es ist nicht ersichtlich, warum erdie Königswürde seinem Sohn Odysseus überlassen haben sollte. Im letzten Gesang der Odyssee sagt er selbst, dass er einst einen Raubzug unternommen habe auf das Festland, als er "herrschte über die Kephallenier", [FONT=Liberation Serif, serif]Κεφαλήνεσσιν [/FONT][FONT=FreeSerif, serif]ἀ[/FONT][FONT=Liberation Serif, serif]νάσσων (Od. 24,377/378)[/FONT], und der noch unerkannte Odysseus wundert sich über das schlechte Aussehen des Vaters, denn: "du siehst aus wie ein königlicher Mann (Mann aus Königsgeblüt)" ,[FONT=Liberation Serif, serif] (Od. 24,253).[/FONT] Das letzte besagt natürlich nicht, dass er tatsächlich selbst ein König ist oder war, und [FONT=FreeSerif, serif]ἀ[/FONT][FONT=Liberation Serif, serif]νάσσων[/FONT], herrschend, sagt auch Phoinix im neunten Gesang der Ilias, der von Peleus, dem König, [FONT=FreeSerif, serif](ἄ[/FONT][FONT=Liberation Serif, serif]ναξ, Il. 9,480),[/FONT] Wohnung und Untergebene zugewiesen bekommen hat, ohne freilich eigentlich selbst als König zu herrschen (Il. 9,484). Dies alles lässt vermuten, dass Laertes nie König von Ithaka gewesen ist und Odysseus ihm nicht nachfolgte, sondern auf andere Art zum Königtum kam. Dem entsprechen auch die Bedenken, dass im Falle einer Verheiratung der Penelope das Königtum der Familie des Odysseus verloren gehen wird (Od. 15,521/522, vgl. Od. 15,533/534; Od. 22,49-53).

Haltet Ihr das für möglich? Mir scheint es etwas an den Haaren herbeigezogen, wenn auch nicht unmöglich. Die Kephallenier gelten ja gemeinhin als Untertanen des Königs von Ithaka. Warum sollte sie daher ein Mann anführen, der nicht König von Ithaka ist?
 
Ich weiß jetzt nicht, ob es wirklich keine Stelle gibt, aus der sich ergibt, dass Laertes König war.

Ich möchte aber auf den Beginn des 21. Gesangs hinweisen, wo von einem Jugendabenteuer des Odysseus erzählt wird: Messenier raubten aus Ithaka 300 Schafe mitsamt ihren Hirten, und Odysseus wurde vom "Vater und den anderen Greisen" ausgeschickt, um sie zurückzuholen. Das könnte man natürlich so interpretieren, dass Laertes nur ein Mitglied eines Ältestenrates war, der Odysseus ausschickte. Aber was machte dann der König von Ithaka? Redete der in dieser Angelegenheit nicht mit? Immerhin ging es um einen räuberischen Angriff auf die Sicherheit Ithakas? Dass es keinen König gab, halte ich für absolut unwahrscheinlich, denn eine aristokratische Regierung taucht in dieser frühen Epoche noch nicht auf. Somit halte ich es allemal für am wahrscheinlichsten, dass Laertes der König war und sich bloß mit den anderen Alten beriet.

Im Übrigen würde, wenn man annehmen wollte, dass Laertes nicht König war, eben die Frage auftauchen, wie dann Odysseus König wurde. Penelope hatte als Nichte des Königs von Sparta keinen Bezug zu Ithaka, über sie kann er die Herrschaft also nicht erlangt haben. Wenn Odysseus aber den vorigen König gestürzt hätte oder aufgrund irgendeiner Heldentat zum König erkoren worden wäre, hätte Homer das doch bestimmt irgendwie andeutungswert gefunden. (Im Fall eines Sturzes wäre obendrein anzunehmen, dass die Verwandten oder Anhänger des Gestürzten Odysseus' lange Abwesenheit für einen Gegenputsch genutzt hätten.)

Somit ist es wohl allemal am plausibelsten, dass Laertes Odysseus' Vorgänger als König war.
 
Das denke ich auch. Zumal wir ja nicht vergessen dürfen, daß wir es hier mit mythologischen Figuren zu tun haben. Es gibt keine historische Realität außerhalb des Mythos, was Laertes angeht, das heißt, wenn im Epos nicht erzählt wird, daß er nicht König gewesen ist, dann gibt es auch keinen Grund, dies abzustreiten. Darüberhinaus kann jeder Autor mit mythologischen Figuren machen, was er will, das heißt, auch wenn Odysseus in späteren Versionen manchmal als Sohn des Sisyphos bezeichnet wird, ändert das nichts an der Odyssee.
 
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