Kenntnis Frankreichs und Russlands vom deutschen Blankoscheck?

silesia

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Ein Aspekt im Juli 1914 ist die in französischen und russischen Quellen weit verbreitete Vermutung, dass das Deutsche Reich hinter der Vorgehensweise Österreich-Ungarns gegen Serbien, so auch hinter dem Ultimatum und den Folgeschritten, stehen würde und bei dieser Vorgehensweise der eigentliche Akteur bzw. "Drahtzieher" sei?

Dazu drei Fragen für die Bewertung des Krisenverlaufs in Russland und Frankreich:

1. seit wann kursierten tatsächlich Informationen über einen deutschen "Blankoscheck" in französischen und russischen Diplomatenkreisen?

2. Welche Berichte enthielten seit Mitte Juli 1914 Informationen, dass ein/das österreichische Ultimatum mit dem Deutschen Reich abgesprochen werde oder abgesprochen sei, somit das Ultimatum auch auf deutsche Aktivität zurückzuführen sei?

3. Welche Berichte äußern sich darüber, dass das Deutsche Reich diese beiden Behauptungen (militärisch-politische "Zusage" an ÖU zur Deckung des Vorgehens sowie Initiierung des Ultimatums) offiziell zurückgewiesen hat und welche Schlüsse/Bewertungen wurden aus der offiziellen Zurückweisung durch die französische und russische Seite intern gezogen?
 
zu 2.: Berchthold selbst hatte geplaudert. Gegenüber Graf Heinrich von Lützow hatte er am 13.Juli von seinen Plänen berichtet.
Lützow widerum informierte am 15.Juli den britischen Botschafter de Bunsen. de Bunsen erhielt Kenntnis von dem geplanten Ultimatum und der Absicht des Krieges. Er informierte am 16.Juli Grey.
Lützows Intention war die, das Grey die Russen und Franzosen zurückhalten solle.

Die Russen erfuhren am 16.Juli von der Sache. de Bunsen informierte in Wien auch den russischen Botschafter Schebeko. Dieser informierte Sasonow, "das die österreichisch-ungarische Regierung nach Abschluss ihrer Untersuchungen beabsichtige, an Belgrad bestimmte Forderungen zu stellen uner der behauptung, dass es eine Verbindung zwischen dem Attentat von Sarajewo und der panserbischen Bewegung innerhalb der Monarchie gebe."

McMeekin, Juli 1914, S.172ff
 
Vielen Dank dafür!


Ja, das ist das Berchthold/Lützow-Gespräch und die anschließende vage Note von Bunsen an Grey, die er einen Tag später an Nicolson deutlich relativiert:

"I cannot yet believe Austria will resort to extreme measures, but i think, we have an anxious time before us." Da er seine Quelle Lützow nannte, war das Problem, dass es sich hier nicht um eine "offizielle" Quelle handelte, sondern um einen Diplomaten im Ruhestand.

Die Frage war, ob hier ein förmliches Ultimatum (welche Frist?) oder eine schwächere diplomatische Forderung erhoben wird. Schmidts Verweis auf den deutlichen Tagebucheintrag der Gattin Bunsens geht fehl, weil Bunsen selbst die Meldung im Gegensatz dazu am 17. relativierte und diese kritische Deutung (=Ultimatum, annehmbar oder unannehmbar?)) nicht bestätigte.

Mombauers Kommentierung spricht von Spekulationen und unsicheren Erwartungen: London, Paris und Petersburg seien "reduced to guesswork". Einzig der französische Geheimdienst ging sicher am 17.7. (und 19.7.) definitiv von einem Ultimatum aus, informierte aber erst am 22.7. den Generalstab und der wiederum am 24.7. die politische Ebene (fast zeitgleich mit der Herausgabe des Ultimatums), also zu spät.

Der Kern zielte aber auf die Verbindung von 1. bis 3. ab, was aber auf die Spekulationen über ein Ultimatum ausdehnbar ist. Gab es aber vor dem 22.7. definitive Kenntnis vom Ultimatum und einem uneingeschränkten Rückhalt deutsch das Deutsche Reich (Blankoscheck?).

Was noch fehlt, ist das deutsche Dementi der "Mitarbeit" an der Note bzw. Kenntnis vom Ultimatum und das Dementi des Blankoschecks.

Der Sachstand bei den politischen Akteuren ist nach meinem Verständnis am 22.7.:
a) diverse Spekulationen über österreichische Note
b) stets verbunden mit der Vermutung, das Deutsche Reich sei vollständig eingebunden
c) Vermutung über uneingeschränkte Unterstützung und Zusage darauf durch das Deutsche Reich
 
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silesia schrieb:
Was noch fehlt, ist das deutsche Dementi der "Mitarbeit" an der Note bzw. Kenntnis vom Ultimatum und das Dementi des Blankoschecks.

Wurde das denn von einem Vertreter der Großmächte behauptet? Oder wurde das nur hinter vorgehaltener Hand weitergetragen?
 
Wurde das denn von einem Vertreter der Großmächte behauptet? Oder wurde das nur hinter vorgehaltener Hand weitergetragen?

Das ist mir noch nicht klar, und die "Stichwortsuche" ist mühsam.

Mir geht es dabei um Folgendes:

1. vor dem 23.7.1914 (und natürlich erst recht danach) bestand offenbar die feste Überzeugung von RUS/FRA und (abgeschwächt?) GB, dass das Deutsche Reich hinter der Positionierung von ÖU steckt.

2. vor dem Ultimatum bestand offenbar die Überzeugung, es wäre eine Note zu erwarten, diese würde mglw. ultimativen Charakter haben und sei "gedeckt" durch das Deutsche Reich. Genaues wusste man nicht, außer Gerüchte und natürlich die Wiener Presse, nach der hartes Vorgehen erwartet wurde.

3. gibt es nun einen Hinweis, dass das Deutsche Reich einen Blankoscheck ausgestellt hat?

4. wenn das so wäre: mit welcher Lagebeurteilung fanden dann die Gespräche mit Poincare in Petersburg statt? Ungewissheit über den nächsten Schritt, mit Erwartung einer irgendwie ultimativ gearteten, deutsch initiierten Note? Beim Gespräch wurde letztlich "nur" das gegenseitige Beistands-Abkommen nochmal bestätigt, so wie in denTagen zuvor und auch laufend danach. Unklar war die Kette: Inhalt des "Ultimatums" - serbische Optionen als Reaktion darauf - russische Verwicklung in Abhängigkeit der serbischen Reaktion. Die "Bekräftigung" macht aber im Szenario einer Abschreckungsehr viel Sinn, wenn alle übereinstimmend davon ausgingen, dass die Krise eigentlich vom Deutschen Reich forciert würde. Für diesen "weichen" Nachweis (gegenüber dem noch härteren Verdacht auf Blankoscheck) gibt es Dutzende Hinweise in den Quellen.

5. McMeekin vertritt ja die letztlich nicht belegte These, es wäre Russland in der Julikrise überhaupt nicht um Serbien, sondern um die Dardanellen gegangen. Dabei versteigt er sich in abenteuerliche Sphären, so sieht er die Teilmobilmachung als letztlich auf das Schwarze Meer gerichtet, wegen der beiden mitmobilisierten Flottenteile. Das ist wegen der unklaren Position von Rumänien Unsinn, und die Baltikumflotte wurde handschriftlich vom Zar ergänzt, war vorher nicht diskutiert worden. Außerdem ist das vor dem Hintergrund Unsinn, dass die wesentlichen Rüstungsanstrengungen an Russlands Südflanke nur noch 2-3 Jahre erforderten. Mit diesem Zeithorizont ist die Eskalation "wegen der Dardanellen" aus einer Position der Schwäche heraus irrational.
 
3. gibt es nun einen Hinweis, dass das Deutsche Reich einen Blankoscheck ausgestellt hat?

In Hamilton & Herwig (Origins...) gibt es im Appendix A eine Chronologie von Megargee (ganz informativ die Abläufe) . Er beschreibt als Quelle für den 16.07. den italinienischen Außenminister. Dieser informiert den italiniensichen Botschafter in St. Peterburg und kuz danach soll Sazonow es ebenfalls gewußt haben. Wohl nicht direkt, sondern es wurde jemand in der "Linie" informiert und hat es nach oben kommuniziert.

Bei Lieven (Russia and the Origins of the First World War, S. 140-141) liegt die endgültige Formulierung des Ultimatums Sazonov am 24.07. um 10.00 morgens. Er ruft, das erste Mal !!!!, Nikolaus per Telefon an und teilt ihm den Text mit. In diesem Gespräch legt sich Sazonow fest, dass die Härte der Formulierung des Ultimatums nicht ohne Zustimmung ("Consent") der Deutschen formuliert worden sein kann. Wie er zu dieser Einschätzung gekommen ist, ist unklar.

In diesem Sinne ging Sazonow, bzw. dann in der Folge auch Nikolaus, wenngleich deutlich vorsichtiger !!, davon aus, dass es eine Art "Blankoscheck" durch das DR gegeben haben muss. Nur durch eine deutsche Rückendeckung konnte Ö-U im Süden gegen Serbien aufmarschieren und seine Grenze zu Russland relativ ungedeckt lassen.

OT: Es ist natürlich in diesem Kontext duchaus "pikant", dass Moltke Hötzendorf nach Ausbruch des allgemeinen Krieges mitteilte, dass man den "kleinen" Krieg gegen die Serben doch sein lassen solle und den Aufmarsch gegen Russland vorantreiben solle, um richtig Krieg zu führen. Serbien spielte nach dem 4. August keine Rolle mehr und den Anlass hatten die meisten auch schon vergessen oder nicht wirklich für relevant erachtet.

4. wenn das so wäre: mit welcher Lagebeurteilung fanden dann die Gespräche mit Poincare in Petersburg statt?

Allgemein wird konstatiert, dass es erschreckend wenig Quellen dazu gibt. Genaues weiss man nicht. Außer, wie oben ja auch beschrieben, dass sich F und R gegenseitig ihrer Bündnistreue versichert haben.

Wobei noch unklar war, was überhaupt GB dazu meinen würde.

Dabei versteigt er sich in abenteuerliche Sphären, so sieht er die Teilmobilmachung als letztlich auf das Schwarze Meer gerichtet, wegen der beiden mitmobilisierten Flottenteile.

Diese Darstellung bei McMeekin schießt deutlich über das Ziel hinaus. Es ist ja gerade kennzeichnend für den Ausbruch des Konflikts, so Herwig (Why did it Happen?) und Hamilton (On the Origins of the Catastrophe in: Hamilton & Herwig: The Origins of the World War...), dass zu Beginn keine territorialen Ambitionen im Vordergrund standen.

Aus der Sicht von Ö-U (Tisza) wurde sogar aktiv das Einbeziehen weiterer Serben abgelehnt und KW II ging in seinen Stellungnahmen (beispielsweise vom 28.07. an Jagow) von "Faustpfändern" aus, ähnlich wie in Frankreich 1870/71.

Die Frage der Rolle der Dardanellen ist ein "altes Thema" (so Bobroff: War accepted but unsought. Russia`s growing militancy and the July Crisis 1914, in: The Outbreak of the First World War). In der Folge der Oktober-Revolution wurde von den Bolschewisten - M.N. Pokrovskii - eine Dokumentation vorgelegt, die die Eroberung als zentrale Motivation des Zarismus deklarierte.

In zwei aktuellen Studien von Luneva und McMeekin wird das Thema erneut aufgegriffen. Dabei stützt sich Clark (Sleepwalker) auf McMeekin, um daraus sein zentrales Argument zu gewinnen, warum Russland in 1914 überhaupt ein substantielles Interesse an einem Krieg gehabt haben könnte.

In Anlehnung an seine eigene Studie (Road to Glory: Late imperial Russia and the Turkish Straits) weist Bobroff diese Thesen zu der zentralen Rolle der Dardanellen als übertrieben zurück und stützt sein Urteil zusätzlich auf die Arbeit von Reynolds (Shattering Empires).

Bei Lieven (s.o.) oder Fuller (Strategy and Power in Russia 1600 1914) spielt die Frage der Dardanellen für die Juli Krise und die Bereitschaft von Russland in den Krieg zu ziehen, ebenfalls keine nennenswerte Rolle.
 
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Woher hat der denn Kenntnis von den Absichten des Ballhausplatzes erfahren?

Deine grundsätzlich Skepsis ist sicherlich angebracht, da die gesamte diplomatische Kommunikation zwischen Berlin und Wien am dritten Bündnispartner in Rom verbeigelaufen ist (vgl. Hamilton & Herwig: Italy, in: ders. The Origins of World war I)

Im Juli war der ital. Außenminister San Guiliano aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit in Fiuggi. Dort weilte auch der - "chatty" (mitteilsame) - deutsche Botschafter Hans von Flotow. Von ihm erführ Guiliano am 16.07, dass Ö-U beabsichtigte, Gewalt gegen Serbien anzuwenden.

Am 17.07 erfuhr er zudem, dass Ö-U ein Ultimatum an Serbien formulierte, die für Serbein unannehmbar wären und darin duch das DR unterstützt würde (vgl. FN 53).

Ab dem 21.07 kannten die Italiener die Details der geplanten Aktionen von Wien und Berlin und diese wurden unter anderem nach St. Petersburg telegrafiert.

Diese detaillierte Nachricht an die Botschaften wurde durch die Russen aufgefangen und dechiffriert. Sodass R und F ab dem 21.07. über die differenzierten Planungen "im Bilde" waren. Und sich das ursprünglich diffuse Bild seit dem 16.07. konkretisierte.

Und diese Informationen sicherlich auch die Gespräche zwischen der französischen und der russischen Delegation bestimmt haben.

In diesem Sinne kann man vermuten, dass diese Gespräche sehr konkret ausgerichtet waren auf die Gefahr eines lokalen Krieges auf dem Balkan und der Gefahr für eine Europäisierung des Krieges.


Als Quelle für FN 53 wird angeführt:
- Bosworth: Italy. Least of Great Powers, S. 386
- Renzi: In the shadow of the sword, S. 61-62
 
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Danke für diese ausführlichen Informationen.

Jetzt stellt sich aber für mich die Frage, woher von Flotow die Informationen hatte?
 
Er beschreibt als Quelle für den 16.07. den italinienischen Außenminister. Dieser informiert den italiniensichen Botschafter in St. Peterburg und kuz danach soll Sazonow es ebenfalls gewußt haben. Wohl nicht direkt, sondern es wurde jemand in der "Linie" informiert und hat es nach oben kommuniziert.
Im Juli war der ital. Außenminister San Guiliano aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit in Fiuggi. Dort weilte auch der - "chatty" (mitteilsame) - deutsche Botschafter Hans von Flotow. Von ihm erführ Guiliano am 16.07, dass Ö-U beabsichtigte, Gewalt gegen Serbien anzuwenden.

Am 17.07 erfuhr er zudem, dass Ö-U ein Ultimatum an Serbien formulierte, die für Serbein unannehmbar wären und darin duch das DR unterstützt würde (vgl. FN 53).

Ab dem 21.07 kannten die Italiener die Details der geplanten Aktionen von Wien und Berlin und diese wurden unter anderem nach St. Petersburg telegrafiert.

Diese detaillierte Nachricht an die Botschaften wurde durch die Russen aufgefangen und dechiffriert. Sodass R und F ab dem 21.07. über die differenzierten Planungen "im Bilde" waren. Und sich das ursprünglich diffuse Bild seit dem 16.07. konkretisierte.

Der italienische Außenminister San Guiliano informierte am 16.7. morgens seine Botschafter über die Gespräche mit Flotow, wonach ÖU Forderungen an Serbien stellen werde (speziell: staatliches Vorgehen gegen pan-serbische Propaganda) und ggf. Gewalt anwenden werde. Neben der Information von Flotow gab es gleichlautende Vermutungen in Italien aus "Wiener Kreisen", vorwiegend wohl Presse.

Sazonow war bis 18.7. abwesend, und informierte sein Außenministerium über ein Gespräch mit dem italienischen Botschafter Carlotti (vom 16.7.), in dem ihn Carlotti über die beabsichtigte Note (unklaren Inhalts, aber mit Androhung von Gewalt) an Serbien unterrichtet hat. Völlig konträr dazu waren die Auskünfte des Botschafters von ÖU, der von "völlig friedlichen Absichten ÖUs" berichtete. Der scharfe Gegensatz stärkte Sazonows Mißtrauen.

Von den neuen italienischen Nachrichten erfuhr Sazonow am 22.7. Demnach sei San Guiliano davon überzeugt: "that Austria was preparing a great blow and aims to annihilate Serbia". Parallel wurde San Guiliano aber auch von französchen Diplomaten zitiert, man müssen auf ÖU einwirken, damit nur akzeptable Bedingungen an Serbien gestellt werden, oder sich Maßnahmen auf das Territorium von ÖU beschränken (er schlug die "Schließung serbischer Clubs" zB in Wien (sic!) vor).

Die Gespräche mit Poincare müssen in dem Zeitpunkt der Information Sazonows bereits gelaufen sein, denn er wurde vom Zar am 22.7. um 18 Uhr verabschiedet, während der über diese neue Nachricht sehr aufgeregte Sazonow erst am 23.7. morgens um 4 Uhr die Meldung an seine Botschaften weiterkabelte, speziell an seinen russischen Botschafter in Wien Shebeko, wonach er "credible information" habe, "Austria is planning to undertake measures against Serbia". Für dieses Telegramm morgens um 4 Uhr ist Sazonow ins Büro geeilt, vermutlich wird man (Schlling, der für die Dechiffrierungen zuständig war) ihn also in der Nacht informiert haben.

Sazonow verlangte von Shebeko, Wien sofort "freundlich, aber ganz bestimmt" auf die "gefährlichen Konsequenzen" hinzuweisen, sofern die Maßnahmen ÖU Forderungen enthielten, die unannehmbar seien. Wien sei auch darauf hinzuweisen, dass sowohl Frankreich als auch Russland die Beseitigung Serbiens nicht hinnehmen würden. Er kündigte Shebeko außerdem an, dass Frankreichs Botschafter in Wien eine identische Warnung in Kürze abgeben würde. [Dabei muß es sich um eine Erwartung gehandelt haben, aufgrund der miot Poincare geführten Gespräche]
 
Danke für diese ausführlichen Informationen.

Jetzt stellt sich aber für mich die Frage, woher von Flotow die Informationen hatte?

Sehr wahrscheinlich hatte er ähnlich wie sein Kollege in Rumänien die Aufgabe, bei den "Partner" Italien und Rumänien das Maß der Unterstützung für ein hartes Vorgehen von ÖU, gedeckt durch das DR, abzutesten.

Mombauer, Dok. 140, führt die Serie von Indiskretionen Flotows auf diese Instruktion vom 8.7.1914 zurück. Mit anderen Worten: Flotow "dachte mal laut nach", in Anwesenheit des italienischen Außenministers, und testete die Reaktionen ab. Abgesprochen war zwischen ÖU und DR, dass Italien und Rumänien nicht offiziell über das Vorgehen unterrichtet werden sollten (Telegramm 8.7.1914), damit blieb den Botschaften keine andere Möglichkeit als kleine Indiskretionen, die "inoffiziell" Informationen durchschleusten, um aus der Reaktion zu sehen, wie weit man gehen kann.
 
Was mich irritiert, ist, das Afflerbach in seinem monumentalen Werk zum Dreibund dies nicht erwähnt. Immerhin wird die Julkrise dort behandelt. Im Gegenteil, er führt aus, das die italienische Regierung nicht informiert wurde und nicht wußte, was sich in Wien zusammenbraute. Das ist aber schon aufgrund Flotows "lauten Nachdenken" doch gar nicht mehr haltbar. Erst nach Übergabe des Ultimatums, so Afflerbach, erhielt die italiensche Regierung den Text desselben und übermittelte diesen sofort nach Petersburg.
 
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Was mich irritiert, ist, das Afflerbach in seinem monumentalen Werk zum Dreibund dies nicht erwähnt. Immerhin wird die Julkrise dort behandelt. Im Gegenteil, er führt aus, das die italienische Regierung nicht informiert wurde und nicht wußte, was sich in Wien zusammenbraute. Das ist aber schon aufgrund Flotows "lauten Nachdenken" doch gar nicht mehr haltbar. Erst nach Übergabe des Ultimatums, so Afflerbach, erhielt die italiensche Regierung des Text desselben und übermittelte diesen sofort nach Petersburg.

Das ist unter dem Aspekt plausibel, dass die italienische Regierung lediglich über solche Spekulationen verfügte, nicht jedoch über definitive Auskünfte.

In der Folge war die politische Wertung in rom nicht anders als Paris, London oder Petersburg: man erwartete eine diplomatische reaktion, und tappte letztlich über den Inhalt im Dunkel.

Was aber wesentlich ist: an die Regierungen von ÖU und DR wurde (auch von der italienischen Regierung) klar signalisiert, dass bei einer existentiellen Bedrohung Serbiens Russland nicht abseits stehen werde, und bei einer Involvierung Russlands auch Frankreich zwingend hineingezogen würde.
 
Wenn also Sasonow möglicherweise von den genauen Absichten des Ballhausplatzes wußte, dann ergibt der Versuch der Einschüchterung mittels Mobilmachung Sinn. Bedingt auch die Aussage von Sasonow, das bedeute noch nicht Krieg. Allerdings im Sinne der "Abschreckung" hätte dann doch wohl offen mobilisiert werden müssen, um eine möglichst zügige Wirkung zu erreichen.
 
Hamilton/Herwig, in Decisions for War 1914/17, fassen die Warnungen der 24 Stunden vor dem Ultimatum wie folgt zusammen, S. 106:

"Foreign Minister Sazonov, hastily returned from his estate, was not surprised when the Habsburg ambassador, Count Friedrich Szapary, presented him the formal text of the ultimatum Vienna had dispatched to Belgrade at 10 a.m. on 24 July. During the twenty-four hours preceding Austria’s demarche, Sazonov had received six warning indicators about the turn Austrian policy was about to take. The Foreign Ministry’s camera noir (its cryptographic section) provided two alerts that Vienna was on the brink of taking action. On 23 July Sazonov had read Count Szapary’s “secret” report to Austrian Foreign Minister Count Leopold Berchtold concerning the mood in Russia, as well as news from Szapary’s counterpart in Berlin on the German Foreign Ministry’s position on the crisis.
From Russia’s diplomatic agents in other capitals, Sazonov acquired further alarming news. His charge ́ in Vienna reported circulation there of a “sharp note” to be presented in Belgrade that day, underscored by Szapary’s urgent telephoned request to Sazonov on the evening of 23 July for an early appointment the next morning.

From the Italian ambassador in Petersburg, Sazonov heard that Austria intended to present Serbia with “an unpleasant ultimatum” that very day. By cable that evening, from the Russian charge ́ in Belgrade, he learned that Vienna had, in fact, presented Belgrade with an ultimatum having a forty-eight hour deadline. Count V. N. Strandtmann in the Serbian capital cabled Petersburg that the Austrian minister had not only delivered the ultimatum, but had also verbally informed the Serbs that the Austro-Hungarian Empire intended to break off diplomatic relations if Serbia did not meet its demands within the mandated time. In other words, Russia’s principal foreign policy decision-maker and the tsar’s closest adviser were well informed from a variety of sources about the events precipitating the crisis."
 
Auf welche Quellen stützen sich Hamilton/Herwig?

Decisions for War ist eine wertende Zusammenfassung der Literatur. Sie stützen sich auf ihr eigenes "Origins of the War" mit den dortigen Quellenangaben und geben weitergehende Literaturempfehlungen.

Sucht man die primäre Quelle, bleibt einem nur das Querlesen in den Monographien und in den Quellensammlungen.
 
Christopher Clark hat das Werk "Decisions for War 1914/17" von Hamilton/Herwig für die Schlafwandler verwendet. Aber diese wichtigen Informationen, haben dort keine Verwendung bzw. Berücksichtigung gefunden.

Die Frage ist: Warum?
 
Christopher Clark hat das Werk "Decisions for War 1914/17" von Hamilton/Herwig für die Schlafwandler verwendet. Aber diese wichtigen Informationen, haben dort keine Verwendung bzw. Berücksichtigung gefunden.
Die Frage ist: Warum?

Alle Historiker, die sich mit dieser Vorgeschichte des Ultimatums beschäftigt haben, veranstalten ein Rätselraten über den Umfang des "Wissens" über die kommende ÖU-Note an Serbien.

Fakt ist, dass es keine Quelle gibt, nach der man definitiv vom worst-case ausging. Die Erwartungen reichten "von-bis". Schmidt zB versucht "nachzuweisen", dass Poincare nur vom worst-case ausging, und vermischt das leider mit der Frage, ob sich bei Poincare auch eine Spekulation findet, es könne beim Ultimatum ein worst-case eintreten. Gleiches gilt für McMeekin und Sazonow.

ME kann man nach den Quellen nur davon ausgehen, dass alle Varianten der möglichen Note besprochen wurden, bis hin zm Fall des "unannehmbaren Ultimatums".

Theoretisch haben wir hier einen Fall der Entscheidungen unter Unsicherheit. Man muß nicht spieltheoretisch Ansätze bemühen, um zu schließen, dass die Akteure in Petersburg auf diese Unsicherheitslage reagiert haben. Selbst wenn der Nachweis gelänge, bei hätten sozusagen schon am 18.7. das Ultimatum "in den Händen gehalten", bleibt doch die Reaktion gleichermaßen "rational":

Man warnt vorgeblich Wien vor einer Beseitigung Serbiens, versichert sich gegenseitig im Zweiverband des Beistands (aus Frankreichs Sicht eine Worthülse, ein großer Bluff, wenn es nämlich nicht gelänge, Rückendeckung von Großbritannien zu erhalten, was zu dem Zeitpunkt unsicher war!) und droht damit indirekt dem vermeintlichen Drahtzieher Deutschland mit einer "festen Haltung".

Um es mit dem Unwort zu beschreiben: das war offensichtlich "alternativlos", wenn man kalkulierte, ÖU/DR von einer weiteren Eskalation abzuhalten.
 
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