Das Spekulieren, was denn nun Marx an aktueller Bedeutung für uns haben könnte, was zumindest R. Jaeggi im Rahmen eines Readers kompetent versucht [3], soll dahin gestellt bleiben.
Dennoch: Die DDR wird nahezu übereinstimmend in der entsprechenden Fachliteratur als autoritärer, totalitärer bzw. post-stalinistischer „Staatssozialismus“ bezeichnet [7].
Die Entwicklung zu diesem Endstadion der Degenation unter Honecker folgte dabei einem längerfristigen historischen Prozess, in dessen Kern eine autoritäre Vorstellung von Modernisierungsprozessen in den dreißiger Jahren stand. Diese Ideologie der Verbesserung von Lebenschancen der Arbeiterschaft stand dabei im Zentrum der Arbeits- und Sozialpolitik von Stalin in den dreißiger Jahren, wie Hoffman es sehr prägnant beschreibt [2a und 2b]. Sodass es zu diesem Zeitpunkt in der UdSSR auf der einen Seite Anstrengungen unternommen worden sind, die Krankenversorgung etc. zu erhöhen, um die Sterblichkeitsrate zu reduzieren und gleichzeitig starben in den Lagern Hunderttausende.
Dieses stalinistische Erbe wurde mit der Gründung der DDR implantiert und bildete einen Teil des Selbstverständnisses der Partei und ihrer Rolle bei der Organisation aller Bereiche durch die SED, wie bei Wolle beschrieben [9] und ist damit auch der Grundstein für ihr Scheitern [1].
Konzentriert man sich in der Darstellung der Entwicklung in der DDR auf die Phase unter Honecker, dann verschärfte sich in den siebziger Jahren in Europa insgesamt und auch in der DDR der Druck auf die Parteien, sich zu legitimieren und beim Bürger die notwendige Loyalität zu erzeugen (vgl. dazu die Ausführungen bei Meuschel [7,S. 229 ff]). Die Ursache für den erhöhten Legitimationsbedarf resultierte daraus, dass die Zielerreichung – als Reformprojekt – einer „“kommunistischen Gesellschaft der Gleichen und Freien“ [7, S. 230] unter Ulbricht nicht erreicht worden ist.
Das Nichterreichen der Utopie und das zunehmende Stocken der sozioökonomischen Dynamik der DDR-Wirtschaft konfrontierte die SED mit der Erkenntnis, dass sie einen doppelten „Utopieverlust“ politisch zu kompensieren hatte. „Angesichts des doppelten Utopieverlusts, der die Glaubwürdigkeit der zentralen legitimatorischen Werte auszuhöhlen drohte, stand die Parteiherrschaft im Schatten der Finalitätskrise.“ [7,S. 230]
Vor diesem Hintergrund mußte die SED eine Sinnstiftung dieseits der Utopie leisten und somit blieb die soziale Gleichheit die zentrale normative Kraft. Unabhängig von der Frage des anti-faschistischen historischen Konsens von Teilen der Gesellschaft.
Die Strategie, die man von Seiten der SED unter Honecker einschlug zielte auf die Verbesserung der Lebensbedingungen ab. Und in diesem Sinn bot die SED ihren Bürgern einen „sozialen Kontrakt“ an. „Sie (die SED) strebte den fortwährenden Verzicht auf Selbsttätigkeit seitens der Herrschaftsunterworfenen an; diese sollten im Gegenzug lediglich die parteistaatliche Fürsorge, Orientierungswissen und Zukunftsgewißheit erwarten dürfen. [7, S. 235]. Dieses politische Abhängigkeitsverhältnis weist, so Meuschel, „Züge eines diktatorischen Wohlfahrtsstaats“ auf.
Die Probleme, die dann zur Implosition des DDR-Staatssozialismus geführt haben, liegen einerseits auf der Ebene der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik, bei der so Kopstein auch die Arbeiter als „Vetoplayer“ einen negativen Einfluss hatten [4], die zu einem Niedergang der volkswirtschaftlichen Infrastruktur führten, wie Kusch zeigte [5]. In diesem Sinne wurde der Wohlfahrtsstaat der DDR und somit ihre politische Legitimität durch den Raubbau an der Wirtschaftskraft der DDR finanziert. Dennoch erklärt dieses System zumindest teilweise, dass das politische System trotz massiver Systemkonkurrenz zum Westen eine gewisse Stabilität aufwies [8].
Andererseits verschärfte sich der Generationskonflikt, der dazu führte, dass gerade aus dem Umfeld enttäuschter junger Erwachsener eine immanente Kritik an der autokratischen Führung der SED aus dem Umfeld der Krichen etc. formuliert worden ist und die Legitimationsprobleme verschärften, da die Loyalität der Bürger untergraben wurde. [7, S. 240ff]
Dass überambitionierte Rüstungsprojekte das Ihrige dazu beigesteuert haben, sei am Rande erwähnt.
Letztlich wirkte sich das stalinistische Vermächtnis eines allmächtig agierenden Staates negativ für die DDR aus. Der Staatssozialismus konnte gewisse Formen der sozialen Absicherung bereitstellen und Formen der sozialen Gleichheit entwickelt und somit Aspekte einer "sozialistischen Gesellschaft" realisieren, aber hat dabei die komplexe Interaktion mit ökonomischen Aspekten nicht in den Griff bekommen. Und somit ist dieses „sozialistische Experiment“ eines „Staatssozialismus“ mehr oder minder friedlich an seinen eigenen Widersprüchen und Hybris gescheitert.
1. Glaeßner, Gert-Joachim (1993): Am Ende des Staatsozialismus - Zu den Ursachen des Umbruchs in der DDR. In: Hans Joas und Martin Kohli (Hg.): Der Zusammenbruch der DDR. Soziologische Analysen. 1. Aufl., Erstausg. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 70–92.
2a.Hoffmann, David L. (2003): Stalinist values. The cultural norms of Soviet modernity, 1917-1941. Ithaca: Cornell University Press.
2b.Hoffmann, David L. (2011): Cultivating the masses. Modern state practices and Soviet socialism, 1914-1939. Ithaca, N.Y.: Cornell University Press.
3.Jaeggi, Rahel; Loick, Daniel (Hg.) (2013): Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis. 2. Auflage. Berlin: Suhrkamp
4.Kopstein, Jeffrey (2009): The Politics of Economic Decline in East Germany, 1945-1989. Chapel Hill: The University of North Carolina Press.
5.Kusch, Günter (1991): Schlussbilanz-DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik. Berlin: Duncker & Humblot.
6.Malycha, Andreas; Winters, Peter Jochen (2009): Die SED. Geschichte einer deutschen Partei., München: Beck
7.Meuschel, Sigrid (1992): Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR, 1945-1989. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp
8.Port, Andrew I. (2010?): Die rätselhafte Stabilität der DDR. Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland. Berlin: Links
9.Wolle, Stefan (2015): Die DDR. Eine Geschichte von der Gründung bis zum Untergang. Berlin: Ch. Links Verlag.