Thomas Manns Bedeutung für die dt. Literatur?

Jane Eyre

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Ich frage mich wie prägend Thomas Mann und seine Werke für die Deutsche Literatur waren.
War sein Einfluss groß?...
 
Nun, diese Frage ist sicher in einem Literaturforum besser aufgehoben, aber weil ich kuerzlich folgendes interessantes las, darf ich Dir das hier vermitteln:

"Mann scheine zu wissen, «dass er ziemlich flach ist, und meint sich durch Ironie retten zu können, sich selbst». Das Generalprädikat lautet: «eigentlich nur affig»."

Das hat mich ueberrascht!

Das schrieb Martin Meyer von der NZZ zu MAX FRISCH in:

Das «Berliner Journal»: Der freudlose Schriftsteller - Literatur Nachrichten - NZZ.ch
 
dass der eine Literat über den anderen gelegentlich keine Freundlichkeiten verfasste, ist wohl so alt wie die Literatur selber :)

z.B. Arno Schmidt schrieb an Alfred Andersch, der zu dieser Zeit Rundfunkredakteur war "Gott hat ihn nicht zum produzieren vorgesehen, aber sagen Sie es ihm nicht" - gemeint war damit Martin Walser :)

es gab auch Anfang der 70er (ungefähr) eine Umfrage unter Literaten, was sie von Thmas Mann halten - die Antworten fielen unterschiedlich aus...

ich wage mal eine etwas pythische Prognose: aus der Weltliteratur werden Buddenbrooks, Zauberberg, Tonio Kröger, Doktor Faustus und der Erwählte wohl nicht rausgekickt werden :)
 
Irgendein Witzbold hat mal gesagt, Schriftsteller seien untereinander ungefähr so sozial wie Spinnen.
 
Sehe ich auch so, dass die genannten Werke Manns (Zauberberg etc.) sicher so schnell nicht aus dem Kanon fliegen werden ....
Uebrigens war der "Gottvater" der Literaturkritik > Marcel RR
ein gluehender Verehrer Thomas Manns. Wie er zu Frisch stand, muesste ich noch rausfinden :)
 
Sehe ich auch so, dass die genannten Werke Manns (Zauberberg etc.) sicher so schnell nicht aus dem Kanon fliegen werden ....

Outet man sich als Banause, wenn man zugibt, dass Der Zauberberg das langatmigste Stück belletristischer Literatur war, durch das man sich je durchgekämpft hat? :fs:
 
Outet man sich als Banause, wenn man zugibt, dass Der Zauberberg das langatmigste Stück belletristischer Literatur war, durch das man sich je durchgekämpft hat? :fs:
(sprichst du für eine größere anonyme Gruppe - "man" - oder von dir selber?) ;)
da es auf diese Frage nur zwei mögliche Antworten gibt: ja (aber mach dir nichts draus: ich Banause finde den kompletten Hesse stinglangweilig und öde) :)
 
(sprichst du für eine größere anonyme Gruppe - "man" - oder von dir selber?) ;)

Das hängt von der Antwort, die ich erhalte, ab. :devil:

da es auf diese Frage nur zwei mögliche Antworten gibt: ja
Dann spreche ich natürlich nicht von mir selbst...


(aber mach dir nichts draus: ich Banause finde den kompletten Hesse stinglangweilig und öde) :)
Als wir Unterm Rad in der JG 8(?) lasen, war ich vermutlich der einzige meiner Klasse, der das Buch spannend fand, aber das ging mir selbst später im Deutsch-LK so: Ich war immer der erste, der die Lektüren durch hatte. Und das lag sicher nicht daran, dass ich ein Streber gewesen wäre.
Den Steppenwolf habe ich auch noch irgendwo in einer hinteren Reihe stehen, aber noch nie gelesen.
Den Zauberberg fand ich aber unheimlich nervtötend. Einem selbstverliebten, kleinbürgerlichen Hypochonder wie Hans Castorp mit seinen unbedeutenden Pseudoproblemchen "zuzulesen" empfand ich immer als Zeitverschwendung.
 
Den Steppenwolf habe ich auch noch irgendwo in einer hinteren Reihe stehen, aber noch nie gelesen.
...mach einen großen Bogen um das Glasperlenspiel (das ist das Maximum an Langeweile!)...

aber retour zum Mann, Thomas: Sprache, Erzählstruktur und Erzähltechnik gerade im Zauberberg sind eine echte Wohltat - man merkt dann, wie mies so manche Unterhaltungsliteratur sprachlich/erzählerisch ist. Freilich muss das einem ja nicht gefallen: de gustibus usw.
 
o-t (Jäger-, Angler- oder besser Schülerlatein...)
Als wir Unterm Rad in der JG 8(?) lasen, war ich vermutlich der einzige meiner Klasse, der das Buch spannend fand, aber das ging mir selbst später im Deutsch-LK so: Ich war immer der erste, der die Lektüren durch hatte.
sowas kommt manchmal vor, ist kein Beinbruch -- das erinnert mich jetzt daran, dass nur mir Storms Hans und Heinz Kirch gefallen hatte (war Lektüre in der 8. oder 9.) und alle anderen bäh-bäh jammerten.
 
Den Steppenwolf habe ich auch noch irgendwo in einer hinteren Reihe stehen, aber noch nie gelesen.

Dann hast du leider einen Geniestreich verpasst. Was Mann betrifft, schätze ich den ´Faustus´ (an dessen musiktheoretischen Passagen Adorno Anteil hatte) und den ´Tod in Venedig´ (weniger den etwas übertrieben schwulen Film) am meisten. Natürlich setzen die drei genannten Texte ein Leserinteresse an Kunst und Philosophie voraus. Ganz allgemein hat sich die Situation des Romanlesens in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert, weil seit den 60/70ern im Zuge der Pop-Revolution im Verein mit der alles durchdringenden Medialisierung ein bunteres, aber auch hektischeres Lebensgefühl entstanden ist, das sich mit der ín diesem Thread beklagten Langatmigkeit vieler älterer Romane nicht verträgt. Im Romansektor florieren heute Crime, Fantasy und Romance, die auf das moderne Lebensgefühl abgestimmt sind. Grass, Walser und Konsorten sind dagegen Fetischware für akademische Literatureierköpfe, die Langweiligkeit für ein Zeichen literarischen Niveaus halten. Man kann Reich-Ranicki nur zustimmen, wenn er schreibt (am 10.10.1991):

Wenn ich die deutsche Literatur der letzten zwanzig Jahre lese, die ist ja unerhört unerotisch. Da war zum Beispiel der große Thomas Bernhard - vollkommen unerotisch. Oder Grass: eigentlich immer unerotisch. Siegfried Lenz - immer. Martin Walser - beinahe immer. Wenn sich das deutsche Volk nach seinen Schriftstellern von heute richten würde, es würde sich überhaupt nicht mehr vermehren. Da sieht man, wie gering der Einfluss dieser Schriftsteller ist.

Unerotisch - das kann man von Mann und Hesse sicher nicht behaupten, ganz im Gegenteil. Mann, bekanntlich homosexuell, hat noch mit 75 Jahren zugegeben, starke sexuelle Regungen zu empfinden, die sich in seinem Werk ja oft thematisch niedergeschlagen haben, vor allem im ´Tod in Venedig´. In Hesses spirituellem Roman ´Der Steppenwolf´ tritt (heterosexuelle) Erotik noch viel offener auf, sie ist eines der Hauptthemen des Buches.
 
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Ich glaube, dass da viel übertrieben wird. Ich habe mich bei den bekannteren, anspruchsvolleren Autoren des 20. Jh. nur mal an den "Steppenwolf" rangetraut - ausgenommen das, was man halt lesen musste.
Ich habe den Eindruck, dass das, was hängen bleibt, also Allgemeingut wird, oftmals unterhaltsam und auch irgendwie gut ist und das betrifft das 20. Jh. genauso wie alle andere. Wenn ich mich so umhöre im Freundeskreis so ist doch z.B. der Kinderbuch- und Jugendbuchsektor einer, der durchaus viel gelesen wird und wo man garnicht mit der Schule (Pflichtlektüre!) drohen muss. Irgendwie denke ich, dass vom 20. Jh. "Der Grüffelo", "Pipi Langstrumpf" und sowas am ehesten überdauern wird und das ist doch garnicht mal so schlecht, wenn man das über "unser" Jahrhundert sagen kann: die hatten Humor und schrieben damals schöne Kinder- und Jugendbücher.

Wenn man mal wirklich große Mengen Literatur eines anderen Jahrhunderts gelesen hat - wie ich es beim 18.Jh. getan habe - kriegt man schon den Eindruck, dass sich nicht so viel geändert hat. Es gibt die gefeierten, anspruchsvollen Autoren, die nicht unbedingt unterhaltsam sind und nicht unbedingt viel gelesen wurden ebenso wie reißerische Schundliteratur. Von 30 gedruckten Theaterstücken ist vielleicht eine Handvoll gut - die meisten sterbenslangweilig.
 
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Grass, Walser und Konsorten sind dagegen Fetischware für akademische Literatureierköpfe, die Langweiligkeit für ein Zeichen literarischen Niveaus halten.
(dass die Blechtrommel langweilig und unerotisch*) sei, ist mir neu - man muss nicht alle Statements des literaturkritischen Sabbergreises ernst nehmen...)

@Chan was das hektische Lebensgefühl nach dem zweiten Weltkrieg betrifft, so sind dessen erzählerische Produkte ehrlich gesagt lahm und schlaff im Vergleich zu den Erzähltechniken von Dos Passos Manhattan Transfer, Döblin Berlin Alexanderplatz, Joyce Ulisses und auch Mann Zauberberg

Gerade im Zauberberg ist die Akzeleration der erzählten Zeit und der Erzählzeit einzigartig - das erstaunliche dabei ist, dass das in einem reflektierenden personalen Erzählen stattfindet (es ist keinesfalls eine auktoriale Erzählinstanz, aber auch keine perspektivische der einzelnen Figuren) und dieses direkt an den Leser gerichtete personale Erzählen verflicht virtuos brillante Dialoge mit modernen Techniken wie Bewußtseinsstrom, erlebte Rede und Sekundenstil (Zeitstauung), leistet dabei die erwähnte Beschleunigung, und doch ist es immer polyphon gehalten mit seiner distanzierenden Ironie und seinem gleichzeitigen direkten geschichtenerzählen.

@ElQ ...die Pseudoproblemchen des unbedarften Bubis namens Castorp haben dich gelangweilt - hm, Flaubert träumte davon, einen Roman ohne Handlung zu schreiben, was ihm nie gelang - - - vielleicht liest du mit Blick auf die sprachliche/erzählerische Schönheit mal die Kapitel "Totentanz", "als Soldat und brav" und "die große Gereiztheit"
__________
*) dass "erotisch" seit neuestem ein Qualitätskriterium der Erzählkunst sein soll, wird sich in keiner literaturwissenschaftlichen Publikation verifizieren lassen - - oder soll "der Mond ist aufgegangen" nun ein schlechtes Gedicht sein, weil dort weder der Mond noch der schwarze Wald vehement besprungen werden? :rofl::rofl::rofl::rofl:
 
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Literatur der letzten 20 Jahre unerotisch.
Leider wird dafuer in fast jedem Film im Fernsehen "gepimpert".

Gemeint sind die 20 Jahre vor 1991 (Zeitpunkt des Reich-Ranicki-Statements). Die von dir beklagte Häufigkeit von Sexszenen im TV verdankt sich der implizit oder explizit an Drehbuchautoren gestellten Forderung, solche Szenen in den Plot einzubauen. Manche Regisseure lösen diese Aufgabe gut, andere weniger. Vielleicht spielst du auf solche Szenen vor allem in deutschen Produktionen wie z.B. "Tatort" an, wo sie in der Tat aufdringlich und unelegant wirken, weil mit deutschen Schauspielern kein wirklich guter Film zu machen ist; ihr Spiel und ihre Sprechweise wirken, im Unterschied zu ihren Kollegen in den USA, England und Frankreich, meist sehr hölzern und aufgesetzt. Aber ich komme vom Threadthema ab.

(dass die Blechtrommel langweilig und unerotisch*) sei, ist mir neu - man muss nicht alle Statements des literaturkritischen Sabbergreises ernst nehmen...)

Genau genommen schließt RR die "Blechtrommel", die er übrigens für den einzigen - ich zitiere - "sensationellen" Roman von GG hielt, in sein Verdikt nicht ein, da er sich nur auf die 20 Jahre vor 1991 bezieht.
@Chan was das hektische Lebensgefühl nach dem zweiten Weltkrieg betrifft, so sind dessen erzählerische Produkte ehrlich gesagt lahm und schlaff im Vergleich zu den Erzähltechniken von Dos Passos Manhattan Transfer, Döblin Berlin Alexanderplatz, Joyce Ulisses und auch Mann Zauberberg.

Ich bezog mich auf die Zeit ab den 70ern und vor allem ab den 80ern und 90ern (Medialisierung), nicht auf die Zeit "nach dem 2. Weltkrieg". Deine Beispiele umfassen übrigens auch nichtdeutsche Literatur und erweitern insofern das Thema ganz erheblich. Ich schrieb:

... weil seit den 60/70ern im Zuge der Pop-Revolution im Verein mit der alles durchdringenden Medialisierung ein bunteres, aber auch hektischeres Lebensgefühl entstanden ist, das sich mit der ín diesem Thread beklagten Langatmigkeit vieler älterer Romane nicht verträgt.

Ich will damit erklären, warum viele Leser - exemplarisch einige Threadteilnehmer - heute mit der ´Langatmigkeit vieler älterer Romane´ ihre Probleme haben, was ich auch nachvollziehen kann. Dass es in der Vorkriegsliteratur vereinzelt Pioniere eines futuristischen Stils gab (z.B. Dos Passos und Joyce), ändert daran nichts. Erwähnenswert ist auch das Vor- und Nachkriegswerk von Henry Miller, einer meiner Favoriten und ein Riesenfan von Hermann Hesse, sowie die sprachlich genialen Nachkriegs-Experimente des William S. Burroughs ("Naked Lunch"), der stilistisch von Dos Passos´ Cut-up-Technik beeinflusst war.

Darum geht es bei meinem Erklärungsversuch aber gar nicht, sondern um die mediale Lebenswelt, in der wir heute leben und von deren Vielfalt, Hektik und Erlebnisintensität wir geprägt sind, ob wir wollen oder nicht. Es ist für mein Empfinden ab den 1990ern und mit Sicherheit ab den 2000ern ein Punkt erreicht worden, an dem die kulturelle Tradition gegenüber dem Gegenwärtigen (und Zukünftigen) irreversibel in den Hintergrund getreten ist. Das gilt auch und vor allem für die literarische Tradition, die, anders als die Musik und die abstrakt-expressionistisch-surrealistische Malerei der Vorkriegszeit, ihre formalen Experimente meist in ein aus heutiger Sicht ´veraltetes´ Setting verpacken muss (Figuren und Plot). Als Beispiel (auch für ´Langatmigkeit´) zitiere ich den Beginn des 1. Kap. aus dem "Zauberberg":

http://www.cje.ids.czest.pl/biblioteka/Der%20Zauberberg%20Mann.pdf

Ein einfacher junger Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Davos-Platz im Graubündischen. Er fuhr auf Besuch für drei Wochen.
Von Hamburg bis dort hinauf, das ist aber eine weite Reise; zu weit eigentlich im Verhältnis zu einem so kurzen Aufenthalt. Es geht durch mehrerer Herren Länder bergauf und bergab, von der süddeutschen Hochebene hinunter zum Gestade des Schwäbischen Meeres und zu Schiff über seine springenden Wellen hin, dahin über Schlünde, die früher für unergründlich galten. Von da an verzettelt sich die Reise, die solange großzügig, in direkten Linien vonstatten ging. Es gibt Aufenthalte und Umständlichkeiten. Beim Orte Rorschach, auf schweizerischem Gebiet, vertraut man sich wieder der Eisenbahn, gelangt aber vorderhand nur bis Landquart, einer kleinen Alpenstation, wo man den Zug zu wechseln gezwungen ist. Es ist eine Schmalspurbahn, die man nach längerem Herumstehen in windiger und wenig reizvoller Gegend besteigt, und in dem Augenblick, wo die kleine, aber offenbar ungewöhnlich zugkräftige Maschine sich in Bewegung setzt, beginnt der eigentlich abenteuerliche Teil der Fahrt, ein jäher und zäher Aufstieg, der nicht enden zu wollen scheint. Denn Station Landquart liegt vergleichsweise noch in mäßiger Höhe; jetzt aber geht es auf wilder, drangvoller Felsenstraße allen Ernstes ins Hochgebirge. Hans Castorp - dies der Name des jungen Mannes - befand sich allein mit seiner krokodilsledernen Handtasche, einem Geschenk seines Onkels und Pflegevaters, Konsul Tienappel, um auch diesen Namen hier gleich zu nennen, - seinem Wintermantel, der an einem Haken schaukelte, und seiner Plaidrolle in einem kleinen grau gepolsterten Abteil; er saß bei niedergelassenem Fenster, und da der Nachmittag sich mehr und mehr verkühlte, so hatte er, Familiensöhnchen und Zärtling, den Kragen seines modisch weiten, auf Seide gearbeiteten Sommerüberziehers aufgeschlagen.


Wer sich bis hierhin durchgeboxt hat, ist entweder ein Fan von Thomas Mann oder extern motiviert (Beruf, Studium, Schule), sich mit diesem Werk zu befassen. Ich persönlich konnte den ´Doktor Faustus´ goutieren, weil mich sein Thema fasziniert (faustische Künstlerbiografie, viel Musiktheorie), und den ´Tod in Venedig´ wegen seines Schauplatzes Venedig, des geschilderten dramatisch-exaltierten Künstlerschicksals und last not least des geringen Seitenumfangs.

Zum Vergleich eine Passage aus Henry Millers "Sexus" von 1949, die sicher noch Dos Passos in den Schatten stellt:

Ich werde geradewegs in ihre Wohnung gehen, läuten
und eintreten. Hier bin ich, nimm mich
– oder stich mich tot! Stich mich ins Herz, stich mich ins
Hirn, stich mich in die Lunge, die Nieren, die Eingeweide,
die Augen, die Ohren! Wenn nur ein Organ am Leben
bleibt, bist du verloren – verdammt für immer, die Meine zu
sein in dieser Welt, der nächsten und in allen kommenden
Welten. Ich bin ein Desperado der Liebe, ein Skalpjäger, ein
Totschläger. Ich bin unersättlich. Ich esse Haare, schmutzi-
ges Ohrenschmalz, trockene Blutklumpen, alles und jedes,
was von dir stammt. Zeig mir deinen Vater mit seinen Pa-
pierdrachen, seinen Rennpferden, seinem Freibillett für die
Oper: Ich werde alle in mich hineinstopfen, mit Haut und
Haaren verschlingen. Wo ist der Stuhl, auf dem du sitzt, wo
dein Lieblingskamm, deine Zahnbürste, deine Nagelfeile?
Zeig sie her, damit ich sie auf einen Sitz verschlinge. Du
hast eine Schwester, schöner als du, sagst du. Zeig sie mir –
ich will ihr das Fleisch von den Knochen lecken.
Hin zum Meer, zum Marschland, wo ein kleines Haus ge-
baut wurde, um ein kleines Ei auszubrüten, das man, nach-
dem es Gestalt gewonnen hatte, Mara taufte. Dass ein dem
Penis eines Mannes entschlüpfter Tropfen etwas so Über-
wältigendes hervorbringen konnte! Ich glaube an Gott den
Vater, an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, an die
Heilige Jungfrau Maria, den Heiligen Geist, an Ada Cadmi-
um, an Chromnickel, die Oxyde und Quecksilberchrome, an
Wasservögel und Wasserkresse, an epileptische Anfälle, die
Beulenpest, an Dewachan, an planetarische Konjunktionen,
an Hühnerspuren und Speerwerfen, an Revolutionen, Ak-
tienstürze, Kriege, Erdbeben, Zyklone, an Kali Juga und an
Hula-hula.


(...)

Deine formale Analyse des "Zauberberg" ist gewiss zutreffend:

Gerade im Zauberberg ist die Akzeleration der erzählten Zeit und der Erzählzeit einzigartig - das erstaunliche dabei ist, dass das in einem reflektierenden personalen Erzählen stattfindet (es ist keinesfalls eine auktoriale Erzählinstanz, aber auch keine perspektivische der einzelnen Figuren) und dieses direkt an den Leser gerichtete personale Erzählen verflicht virtuos brillante Dialoge mit modernen Techniken wie Bewußtseinsstrom, erlebte Rede und Sekundenstil (Zeitstauung)...

... setzt für den Nachvollzug aber ein leserisches Engagement voraus, das in Anbetracht der über 900 Seiten sowie des schon angedeuteten veralteten Settings nur eine kleine Minderheit heutzutage noch aufbringen kann. Der ironische Grundton geht auf Manns Absicht zurück, nach dem elegischen ´Tod in Venedig´ von 1911 dem Todesthema einen ironischen Aspekt abgewinnen zu wollen.

*) dass "erotisch" seit neuestem ein Qualitätskriterium der Erzählkunst sein soll, wird sich in keiner literaturwissenschaftlichen Publikation verifizieren lassen - - oder soll "der Mond ist aufgegangen" nun ein schlechtes Gedicht sein, weil dort weder der Mond noch der schwarze Wald vehement besprungen werden?

(1)
Hier verwechselst du Erotik mit Sexualität. Diese ist offen physisch, jene kann auch zwischen den Zeilen, als Subtext, mitschwingen, Beispiel "Der Tod und das Mädchen" von Matthias Claudius, wo der Tod zum Mädchen eine verklausuliert erotische Beziehung unterhält (sog. Todeserotik).

(2)
Es geht in diesem Thread weniger um kurze Gedichte als um Romane (bzw. Erzählungen), in denen das Leben eines Protagonisten detailliert ausgebreitet wird und insofern auch das Sexuell-Erotische, ein zentraler Aspekt des menschlichen Daseins, zu behandeln ist. Letzteres wissen wir doch spätestens seit Freud.
 
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