Aufstieg und Untergang

Das von mir genannte Beispiel der Verfassung der Weimarer Republik zeigt doch, dass es reicht, bestimmte Fehler (z.B. in einer Verfassung) zu erkennen, deren Negativeffekte durch Fehlerbehebung vermieden werden können. Das Erkennen dieser Fehler anhand ihrer Folgen ist dann das "Lernen aus der Geschichte".

Ich habe nicht bestritten, daß Politiker auf die Fehler der jüngsten Vergangenheit reagieren. Und das mag man auch "Lernen aus der Geschichte" nennen.

Die Gründungsväter der Bundesrepublik, lebten allerdings in einer Zeit, in der die gesellschaftlichen Strukturen der Weimarer Republik noch sehr präsent waren. Das ermöglichte ihnen, Schlüsse zu ziehen, und folgerichtige Maßnahmen zu ergreifen. Obwohl ich bezweifle, daß sie alle Mechanismen damals schon voll umfassend verstanden hatten. Und das obwohl einige von ihnen keine Politiker waren.

Dem OP ging es allerdings darum aus dem Aufstieg und Untergang des römischen Reiches zu lernen. Und das halte ich für nicht möglich, da die Strukturen des römischen Reiches vollkommen Andere waren. Daher beruhen auch die Ursachen für Aufstieg und Untergang auf Prozessen, die es heute so nicht mehr gibt.

Auf einem hohen Abstraktionsniveau geht das natürlich immer. So werden etwa "Landlords and Warlords" als ein Element für die Desintegration des weströmischen Staates lange vor Augustulus gesehen. Man könnte zu den Landlords auch sagen: "die Reichen wurden immer reicher und die Armen wurden immer ärmer". Das ist sicher richtig und genau diese Phrase hört man auch heute wieder. Aber die Ursachen für diese Entwicklung wie auch die Wirkungen waren im weströmischen Reich ganz Andere als im modernen Kapitalismus. Es gibt Autoren populärwissenschaftlicher Werke, die solche Analogien beschwören und aus dieser "Lehre der Geschichte" den Untergang des Abendlandes prophezeien. Aber ernst nehmen, kann ich sie nicht.

Ein weiteres Beispiel wäre "Overstretching". Das römische Reich war an die Grenzen der Expansion gestossen oder hatte diese Grenzen bereits überschritten, was zu seinem Untergang beitrug. Auch für die moderne EU wird angemahnt, daß sie zu schnell zu stark gewachsen ist und an dieser Größe scheitern könnte. Allerdings sind die Gründe, warum die EU mit der Technologie des 21ten Jhdts. zu groß sein könnte, ganz Andere. Und damit wären auch die Ursachen, warum Größe zum Untergang der EU führen könnte, ganz Andere. Es macht also auch für die EU nur wenig Sinn aus dem Beispiel Roms lernen zu wollen.

Auch für die römische Republik sagt man, sie sei unter Anderem an ihrer Größe gescheitert. Das Gleiche sagt man für den Untergang des Römischen Reiches 500 Jahre später. Nur die Gründe, warum die Republik zu groß war, waren ganz Andere. Und Größe hatte so auch 500 Jahre später ganz andere schädliche Folgen als in der Republik. Das Ergebnis war in beiden Fällen der Untergang. Nur eben nicht vergleichbar. Und das schon nach nur 500 Jahren und nicht 1500 Jahren.

Ich halte "Lernen aus der Geschichte" für wissenschaftlich nicht haltbar, wenn wir auch nur in etwas größeren Zeiträumen denken. Wissenschaft beruht auf Theorien. Eine Hypothese wird aber nur zur Theorie, wenn man sie zweifelsfrei beweisen kann, oder sie allen Angriffen widersteht. Eine Theorie des Lernens aus der alten Geschichte wäre aber viel zu einfach erfolgreich anzugreifen.
 
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Ohne den gesamten Thread durchzulesen (bis auf einige Texte) möchte ich behaupten, das man den Untergang verschiedener Kulturen nicht miteinander vergleichen könnte. Jedes Imperium hatte seine eigene Struktur und Abläufe, die zum Untergang geführt haben. Sicher gleichen sich einige wenige Punkte, aber dennoch waren die Abläufe recht unterschiedlich.
Das ist aber nur meine Meinung
 
Ein weiteres Beispiel wäre "Overstretching". Das römische Reich war an die Grenzen der Expansion gestossen oder hatte diese Grenzen bereits überschritten, was zu seinem Untergang beitrug.
Eine Behauptung, die zwar öfters mal geäußert wird, ich aber trotzdem nicht nachvollziehen kann. Seine Ausdehnung erreichte das Römische Reich im Wesentlichen bereits unter Augustus, in den folgenden hundert Jahren kamen - neben der Umwandlung einiger Klientelstaaten in Provinzen - im Wesentlichen nur noch Britannien und Dakien dazu. Das Reich überstand dann aber sogar das höchst turbulente 3. Jhdt. mit seinen unzähligen Bürgerkriegen und wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Krisen und hielt bis Anfang des 5. Jhdts. Das sind, wenn man von Augustus an rechnet, vier Jahrhunderte, oder, wenn man von Trajan an rechnet, immer noch drei Jahrhunderte. (Um das mal zu verdeutlichen: Das ist etwa die Zeit vom Beginn des Dreißigjährigen Krieges bzw. vom Spanischen Erbfolgekrieg bis heute.) Da hat es also ganz schön lange gedauert, bis das "Overstretching" zum Untergang des Reiches beitrug.
[Dass Größe nicht unbedingt ein Problem sein muss, zeigt auch das Beispiel China: Zwar ist es im Laufe seiner Geschichte immer wieder vorübergehend zerfallen, aber seit dem späten 13. Jhdt. existiert es im Wesentlichen durchgehend. (Und China ist noch heute keineswegs so homogen, wie es für Außenstehende den Anschein hat, und war es in der Vergangenheit erst recht nicht.)]
Das Römische Reich fiel auch nicht etwa auseinander, weil es der Zentralmacht aufgrund einer "Überdehnung" nicht mehr gelungen wäre, alle Gebiete unter Kontrolle zu halten, sie sich also verselbstständigt hätten, sondern weil diese von auswärtigen Völkerschaften übernommen wurden. Hier ist nicht der Ort, die Ursachen zu erörtern, warum die Grenzen im 5. Jhdt. nicht mehr erfolgreich gesichert werden konnten, obwohl dies im 3. Jhdt. trotz zahlloser Bürgerkriege noch weitgehend gelungen war, aber allein der Umstand, dass die Grenzverteidigung jahrhundertelang trotz interner Probleme sehr wohl funktionierte, zeigt doch wohl hinreichend, dass die Ausdehnung an sich nicht das Problem war. Zu großräumigen Aufständen gegen die römische Herrschaft, die die Zentralgewalt wegen der Ausdehnung des Reiches überfordert hätten, kam es nach Augustus auch nicht mehr. (Kleinräumige Erhebungen wie in Iudaea waren keine Bedrohung für den Bestand des Reiches.)

Auch für die moderne EU wird angemahnt, daß sie zu schnell zu stark gewachsen ist und an dieser Größe scheitern könnte. Allerdings sind die Gründe, warum die EU mit der Technologie des 21ten Jhdts. zu groß sein könnte, ganz Andere. Und damit wären auch die Ursachen, warum Größe zum Untergang der EU führen könnte, ganz Andere. Es macht also auch für die EU nur wenig Sinn aus dem Beispiel Roms lernen zu wollen.
Hier ist durchaus interessant, dass dem römischen Reich seine anfangs enorme und auch später durch die Romanisierung nie ganz überwundene ethnische, sprachliche, religiöse, soziale, wirtschaftliche und währungspolitische Inhomogenität weniger zu schaffen machte als der EU bereits nach 60 Jahren. (Vielleicht präziser: Zu schaffen machte es ihm vielleicht schon, allerdings wurden die Auswirkungen weniger deutlich.) Was kann man daraus lernen? Wenig (denn eine Umwandlung der EU in ein zentral gelenktes Kaiserreich nach antikem Vorbild ist nicht machbar und wohl auch nicht wünschenswert) bis gar nichts, weil die EU ganz anders aufgebaut ist und funktioniert als das römische Reich und zu einem Gutteil auch andere Ziele verfolgt. (Denn das römische Reich war eben, auch wenn es heute immer wieder mal gerne so dargestellt wird, ebensowenig ein Vorläufer der heutigen europäischen Einigung wie das Frankenreich.)
Im Übrigen gehen die heutigen Hauptprobleme der EU nicht von Staaten aus, die im Zuge der letzten "Expansionswellen" eingegliedert wurden, sondern von Staaten, die seit mindestens den 80ern dabei sind und bereits der EU der 12 (also nicht einmal halb so viele Mitglieder wie heute) angehörten. Schon insofern ist es nicht sinnvoll, Probleme und mögliche Untergangsszenarien der EU auf ihre "Größe" zurückzuführen und in weiterer Folge aus allfälligen Problemen des römischen Reiches aufgrund seiner Größe "lernen" zu wollen.
Da die heutigen Probleme der EU u. a. eher mit ihrer Inhomogenität zu tun haben, müsste man eher Vergleiche damit ziehen, wie das römische Reich seine Inhomogenität handhabte, was aber wenig fruchtbar und sinnlos ist, weil sich die EU eben fundamental vom römischen Reich unterscheidet.
 
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Eine Behauptung, die zwar öfters mal geäußert wird, ich aber trotzdem nicht nachvollziehen kann. Seine Ausdehnung erreichte das Römische Reich im Wesentlichen bereits unter Augustus, in den folgenden hundert Jahren kamen - neben der Umwandlung einiger Klientelstaaten in Provinzen - im Wesentlichen nur noch Britannien und Dakien dazu. Das Reich überstand dann aber sogar das höchst turbulente 3. Jhdt. mit seinen unzähligen Bürgerkriegen und wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Krisen und hielt bis Anfang des 5. Jhdts.

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Da hat es also ganz schön lange gedauert, bis das "Overstretching" zum Untergang des Reiches beitrug.

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Das Römische Reich fiel auch nicht etwa auseinander, weil es der Zentralmacht aufgrund einer "Überdehnung" nicht mehr gelungen wäre, alle Gebiete unter Kontrolle zu halten, sie sich also verselbstständigt hätten, sondern weil diese von auswärtigen Völkerschaften übernommen wurden.

Ich denke schon, daß die Größe des römischen Reiches zum Problem wurde. Allerdings erst als andere Probleme dazu kamen. Die Römer verloren die Kontrolle über die grenznahen germanischen Stämme, die sich nochzudem zu größeren Stammesverbänden entwickelt hatten und teilweise selbst unter Druck kamen. Dazu kam die Machtübernahme durch die Sassaniden im Osten. Dieser Prozess dauerte in der Tat über zwei Jahrhunderte.

Und jetzt erst wurden Größe, die Länge der Grenzen, die großen Entfernungen und die relativ kleine römische Armee zum Problem. Man konnte eben mit den gegebenen Mitteln keinen 2-Fronten-Krieg führen. Provinzen mussten ungeschützt bleiben, was wiederum zu Usurpationen führte, was die Lage noch weiter verschlimmerte. Wobei die interessantere Frage eher ist, warum es überhaupt zu diesem Verlust an Kontrolle, insbesondere an den Nordgrenzen kommen konnte.

Richtig ist, daß das römische Reich niemals existentielle Probleme hatte die vielen internen Völkerschaften unter Kontrolle zu halten.

Hier liegt auch ein Unterschied zwischen "Größe" der EU und "Größe" des römischen Reiches. Die Größe macht der EU eben nicht zu schaffen, weil ihre Grenzen zu Russland nun länger wären. Sondern weil aufgrund ihrer Verfassung mit zusätzlichen Mitgliedern die Entscheidungsprozesse erschwert wurden. Also eine vollkommen andere, mit dem römischen Reich nicht vergleichbare Situation. Ursachen und Wirkungen sind vollkommen verschieden, obwohl in beiden Fällen der Begriff "Größe" zur Anwendung kommt.
 
Ich denke schon, daß die Größe des römischen Reiches zum Problem wurde. Allerdings erst als andere Probleme dazu kamen.
Alles kann zum Problem werden, wenn nur genügend andere Probleme dazukommen.
Mit entsprechenden Problemen werden allerdings große wie kleine Reiche überrannt. Die kleinen sogar eher.

Und jetzt erst wurden Größe, die Länge der Grenzen, die großen Entfernungen und die relativ kleine römische Armee zum Problem. Man konnte eben mit den gegebenen Mitteln keinen 2-Fronten-Krieg führen. Provinzen mussten ungeschützt bleiben, was wiederum zu Usurpationen führte, was die Lage noch weiter verschlimmerte.
Dann hätte sich die Lage eigentlich wieder bessern müssen, als das Reich im Westen im Wesentlichen auf Italien, Noricum und Teile Dalmatiens zusammengeschrumpft war, denn die Grenze war dann ordentlich verkürzt. (Das Gebiet des Aegidius/Syagrius ging ohnehin faktisch eigene Wege.) Nur waren halt auch wirtschaftsstarke Gebiete und ein Großteil des Rekrutierungspools weg.

Das Hauptproblem sehe ich eher darin, dass die Römer fast immer im Zweifel lieber gegeneinander Krieg führten als gegen äußere Feinde. Für die meisten Kaiser hatte der Kampf gegen Rivalen Priorität gegenüber der Grenzsicherung. Um nur ein Beispiel zu nennen, zog der Kaiser Magnus Maximus mit einem Gutteil seiner Truppen gegen Kaiser Valentinian II., was prompt zu schweren Frankeneinfällen ins nur mehr notdürftig geschützte Gallien führte. (Auch die Schlacht von Adrianopel hätte vielleicht anders geendet, wenn Valens es nicht so eilig gehabt hätte, sie vor dem Eintreffen Gratians zu schlagen.) Die Schlacht am Frigidus hatte zwar keine so unmittelbaren Folgen, wirkte sich aber durch den Verlust wertvoller Truppen längerfristig verheerend aus. Zumindest der Einfall des Radagaisus konnte aber trotzdem noch gestoppt werden. Und der große "Rheinübergang" wäre vielleicht bewältigt worden, wenn nicht die Truppen der Kaiser Honorius und Konstantin III. lieber damit beschäftigt gewesen wären, gegeneinander zu kämpfen. Noch schlimmer, wenn die Eindringlinge sogar in den innerrömischen Machtkämpfen instrumentalisiert wurden wie die Vandalen von Bonifatius.
Das Problem sehe ich also nicht in den langen Grenzen oder der zu geringen Heeresgröße an sich, sondern in der verfehlten Nutzung der vorhandenen Kapazitäten. Im 3. Jhdt. war es noch möglich gewesen, dauernd gegeneinander Krieg zu führen und die Grenzen quasi noch im Nebenher zu schützen, aber im späten 4. und im 5. Jhdt. ging das dann nicht mehr, da man es zunehmend mit wesentlich größeren und organisierteren germanischen Verbänden zu tun hatte.

Hier liegt auch ein Unterschied zwischen "Größe" der EU und "Größe" des römischen Reiches. Die Größe macht der EU eben nicht zu schaffen, weil ihre Grenzen zu Russland nun länger wären. Sondern weil aufgrund ihrer Verfassung mit zusätzlichen Mitgliedern die Entscheidungsprozesse erschwert wurden.
Mit zunehmendem Wachstum wurden die Möglichkeiten für Mehrheitsentscheidungen allerdings massiv ausgeweitet, dazu noch die Möglichkeit geschaffen, dass nicht immer alle mitmachen müssen. Umgekehrt gab es auch schon in der vergleichsweise kleinen früheren EG/EU Schwierigkeiten mit den Entscheidungsprozessen, was letztlich oft in Kuhhändel wie den berühmten "Britenrabatt" mündete oder dass wieder irgendein Mitgliedsland irgendeine Agentur bekam.
 
Dann hätte sich die Lage eigentlich wieder bessern müssen, als das Reich im Westen im Wesentlichen auf Italien, Noricum und Teile Dalmatiens zusammengeschrumpft war, denn die Grenze war dann ordentlich verkürzt. (Das Gebiet des Aegidius/Syagrius ging ohnehin faktisch eigene Wege.) Nur waren halt auch wirtschaftsstarke Gebiete und ein Großteil des Rekrutierungspools weg.

Korrekt, die kurzen Grenzen nützten Nichts mehr, als man Wirtschaftskraft und weite Teile der Armee verloren hatte. Wobei die Grenzen durch den Verlust des Mare Nostrums eher noch länger wurden. Was die Vandalen schnell aufzeigten.

Das Hauptproblem sehe ich eher darin, dass die Römer fast immer im Zweifel lieber gegeneinander Krieg führten als gegen äußere Feinde.
Alles richtig, was du zum Thema Usurpation und Bürgerkrieg anführst. Ich würde sogar sagen, daß war nicht ein Hauptroblem, sondern das größte Problem.

Aber eben nur Eines von vielen Problemen. Zu denen selbstverständlich auch die Länge der Grenzen gehörte.

Sind wir uns denn sicher, daß ohne die Schlacht am Frigidus die wegen der Gothen nicht abgezogene gallische Armee noch am Rhein stehen würde und in der Lage gewesen wäre, die Vandalen, Alanen und Sueben zurückzuschlagen? Schwer zu sagen. Und dann? Wer kommt als Nächstes? Hätte das die Fall des WRE verhindern können? Da kamen ja noch einige andere massive innere Problem dazu, die zur Desintegration des Staates führten als nur die Bürgerkriege.

Aber ich denke, wir sind uns so weit einig, daß man aus dieser komplexen und sehr spezifischen Situation keine allgemeingültigen Lehren ziehen kann.
 
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Korrekt, die kurzen Grenzen nützten Nichts mehr, als man Wirtschaftskraft und weite Teile der Armee verloren hatte. Wobei die Grenzen durch den Verlust des Mare Nostrums eher noch länger wurden. Was die Vandalen schnell aufzeigten.
Ein guter Aspekt, an den ich gleich anknüpfen möchte: Die zunehmende Ausdehnung eines Reiches führt auch dazu, dass nach und nach echte oder potentielle Feinde neutralisiert werden. Zwar warten häufig jenseits der eliminierten Feinde neue, aber im Mittelmeer war das nicht der Fall: Nach der Unterwerfung Ägyptens hatte Rom im Mittelmeer keine Konkurrenz mehr zur See, und nachdem sämtliche Ufer (mit Ausnahme von Teilen des Schwarzen Meeres) unter römische Herrschaft geraten waren, stand auch nicht mehr zu befürchten, dass im Mittelmeer eine neue Seefahrernation aufkommen könnte, die Italien vom Meer her bedrohen könnte. Rom unterhielt zwar weiterhin Mittelmeerflotten, brauchte sie aber lange Zeit kaum noch. Hätte sich hingegen das Reich nicht so weit nach Osten ausgedehnt, wäre der Nahe Osten vielleicht früher oder später unter die Herrschaft der Parther, jedenfalls aber ziemlich sicher unter die der Sassaniden gefallen, wobei zumindest bei letzteren (die bewusst den Achaimeniden nacheiferten) zu vermuten gewesen wäre, dass sie eine eigene Seemacht im Mittelmeer aufbauen. (Das dürfte auch der hauptsächliche Hintergrund für die langwierigen und wechselvollen Kriege zwischen Ostrom und den Persern um Kolchis im 6. Jhdt. gewesen sein: Die Perser wollten einen Seestützpunkt am Schwarzen Meer, was die Römer unbedingt verhindern wollten, damit nicht eines Tages eine persische Flotte vor Konstantinopel auftaucht.) Rom hätte dann also nicht nur seine Landgrenzen verteidigen, sondern auch noch zur See Krieg führen müssen. Das blieb ihm durch seine Ausdehnung rund ums Mittelmeer (die lange Grenzen bewirkte) erspart, und die Ressourcen konnten anderweitig eingesetzt werden. (Die insbesondere gotischen Piraten des 3. Jhdts. im Schwarzen Meer und der Ägäis waren zwar eine Plage, aber keine Bedrohung für Italien. Kritisch wurde es erst, als sich die Vandalen in Afrika festsetzten.)

Aber eben nur Eines von vielen Problemen. Zu denen selbstverständlich auch die Länge der Grenzen gehörte.

Sind wir uns denn sicher, daß ohne die Schlacht am Frigidus die wegen der Gothen nicht abgezogene gallische Armee noch am Rhein stehen würde und in der Lage gewesen wäre, die Vandalen, Alanen und Sueben zurückzuschlagen? Schwer zu sagen. Und dann? Wer kommt als Nächstes? Hätte das die Fall des WRE verhindern können? Da kamen ja noch einige andere massive innere Problem dazu, die zur Desintegration des Staates führten als nur die Bürgerkriege.
Auch hier möchte ich darauf hinweisen, dass die Römer durch die Ausdehnung ihres Reiches auch potentielle Bedrohungen ausgeschaltet haben. Was wäre z. B. passiert, wenn Gallien nie unterworfen worden wäre? Dann hätten sich die Römer zwar die Sicherung der Rheingrenze erspart, aber die freien gallischen Stämme wären vielleicht (z. B. wegen des Drucks durch die über den Rhein drängenden Germanen) selbst zur Bedrohung geworden und (wie bereits im 5. und 3. Jhdt. v. Chr.) in Italien eingefallen. Auch von anderer Seite, von Illyrien, her hätte aus ähnlichen Gründen Ungemach drohen können, und auch vom Norden. Sich die lange Donaugrenze zu ersparen hätte den Römern das Leben also nicht unbedingt leichter gemacht. Hingegen hatten sie nie ernsthafte Probleme, einmal unterworfene und befriedete Völker dauerhaft unter ihrer Herrschaft zu halten. Eine Überdehnung in der Form, dass den Römern die Kontrolle über ihr Reich entglitten wäre, fand nicht statt. Gefährlich waren nur die Bedrohungen von jenseits der eigenen Grenzen.

Ich stimme Dir zu, wären z. B. die Goten bei Adrianopel vernichtet und der "große Rheinübergang" erfolgreich abgewehrt worden, wäre über kurz oder lang vermutlich das nächste Problem aufgetreten - und dann das nächste und das nächste, bis die Römer irgendwann vermutlich doch noch gescheitert wären. Aber es ging bei vielen Reichen letztlich nur darum, den Untergang möglichst lange hinauszuzögern.
Unterm Strich bin ich der Ansicht, dass seine große Ausdehnung dem römischen Reich mehr Vorteile als Nachteile brachte - nicht nur wegen der Ausschaltung zahlreicher möglicher Bedrohungen, sondern auch wegen des breiten Rekrutierungspools, des großen Wirtschaftsraums mit für die Wirtschaft wichtigen Gebieten etc. (Wären z. B. Sizilien, Africa und Ägypten nie römisch geworden, wäre die Getreideversorgung Italiens stets fragil geblieben. In Rom wären vielleicht deutlich öfters Hungersnöte, inflationäre Entwicklungen und daraus resultierend politische Krisen aufgetreten.)
(Auch hier passt ein Vergleich mit der EU allerdings nicht: Das römische Reich war keine Union formal gleichberechtigter Völker mit dem ideellen Anspruch, den Wohlstand aller zu verwirklichen, sondern die unterworfenen Territorien hatten Rom zu dienen. Dass sie durch den langen Frieden und die innere Sicherheit und Ordnung durchaus auch profitierten, war nicht das primäre Ziel: Primär sollten Abgaben nach Rom fließen und sich die Römer im ganzen Reich frei bewegen und wirtschaften können. Ägypten hingegen hätte vielleicht noch mehr floriert, wenn es seine landwirtschaftlichen Überschüsse auf dem freien Markt verkaufen und exportieren können hätte.)

Aber ich denke, wir sind uns so weit einig, daß man aus dieser komplexen und sehr spezifischen Situation keine allgemeingültigen Lehren ziehen kann.
Ja.
 
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