Sprache als Identifikationsmerkmal

Aedilredus

Neues Mitglied
Liebe Historiker,

ein Buch über deutsche Geschichte behauptet:

Mittelalterlichen Menschen habe die eigene Sprache nicht viel bedeutet. Niemand wäre auf die Idee gekommen, das (Heilige Römische) Reich über Sprache zu bestimmen, also Deutschland darüber zu definieren, wo deutsch gesprochen wurde. Sprache tauge wenig zur ethnischen oder politischen Identifikation in der Vormoderne. Dass sich in der Sprache das Volk manifestiere, sei ein eher romantischer Gedanke.

Mich interessiert nun:

Ist diese Behauptung belastbar? Wenn ja, ab wann und warum hat sich die Einstellung der Menschen hierzulande geändert?

Falls jemand Lust hat, mir zu antworten, freue ich mich!

Aedilredus
 
Hierzu sind 2 Aspekte zu nennen.

Zum einen war das Reich nicht national oder ethnisch definiert. Es war einfach das Römische Reich. Verschiedene Ethnien lebten in ihm. Es war eher durch Tradition, durch Religion und durch Rechtsverhältnisse bestimmt. Es ging auch um die gerechte oder christliche Weltordnung. Darüber sind Bücher geschrieben worden, also geh lieber davon aus, dass das nur eine arge Verkürzung ist.

Wenn es Dir um den 2. Aspekt geht, ist es mindestens ebenso schwierig. Dazu gab es aber schon einmal einen Thread, in den Du Dich einlesen, und wo Du weitere Fragen stellen kannst: 1. erwähnter Deutscher.

Das folgende habe ich damals geschrieben, doch auch wenn es wie eine Antwort auf Deine Frage wirkt, solltest Du lieber den ganzen Thread lesen:

Seit wann das Land als Deutschland und die Bewohner als Deutsche bezeichnet wurden, ist unbekannt. Im Annolied wird jedenfalls um 1080 gesagt: „Diutschin sprechin Diutschin liute in Diutschemi lande.“ In heutigem Deutsch: „Deutsch sprechen deutsche Leute in deutschen Landen.“ (Im Mittelhochdeutschen wird althochdeutsch 'iu' wie 'ü' ausgesprochen. )
 
Der verlinkte Thread scheint mir eher ein anderes Thema zu behandeln. Es geht mir nicht um die Frage, seit wann die Deutschen Deutsche sind oder sich als solche fühlen. Es geht mir darum, von wann an der Umstand, dass man dieselbe Sprache spricht, zu einem (sei es auch schwachen) Gefühl einer gemeinsamen Identität führt.

Das interessiert mich auch, aber nicht nur, vor dem Hintergrund der Etymologie des Wortes "deutsch", was, wenn ich richtig informiert bin, am Ende so viel bedeutet wie: "die in der Sprache des Volkes sprechen". Soweit ich informiert bin, ist damit gemeint, dass sie kein Latein gesprochen haben (und überhaupt keine romanischen Sprachen). Trotzdem war damit doch das gesprochene diutisc identitätsstiftend, was dann aber mit den eingangs erwähnten Aussagen nicht kompatibel zu sein scheint.
 
Der verlinkte Thread scheint mir eher ein anderes Thema zu behandeln. Es geht mir nicht um die Frage, seit wann die Deutschen Deutsche sind oder sich als solche fühlen. Es geht mir darum, von wann an der Umstand, dass man dieselbe Sprache spricht, zu einem (sei es auch schwachen) Gefühl einer gemeinsamen Identität führt.

1. Nein, er betrifft das Thema durchaus.

2. Was ist denn bitte eine "gemeinsame Identität"? Wie wird denn überhaupt "Realität" "konstruiert, die sich auf "Identität" auswirkt? Um mal mit Berger und Luckmann (Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit) einzusteigen. Den Rest der Litanei zur "Interpretation of Cultures" (vgl. Geertz und viele andere) schenke ich mir, obwohl genau diese Aspekte das Verständnis von individueller und kollektiver Identität erst ermöglichen.

Und in dieser konstruierten politischen oder sozialen "Realität", die man auch als "Diskurs" im Sinne von Foucault deuten könnte, drücken sich u.a. Herrschaftsbeziehungen aus, die die Strukturen des Feudalismus widerspiegeln. Und somit stellt sich die Frage, wer definierte zu welchem Zeitpunkt was? Und wer hörte zu und - also die deutliche Mehrheit der Bevölkerung, also die Landbevölkerung oder die Handwerker - interessierte das zu diesem Zeitpunkt nicht im geringsten.

Und an diesem Punkt kommen wir zum tausendsten Mal an das Problem, dass es im HRR keinen politischen oder sozialen Akteur gab, der ein nationalstaatliches deutsches politisches oder sonstiges Wertesystem formuliert hatte. Und es war ja noch deutlich verheerender. Es war durch die Kleinstaaterei ein hochgradig fragmentiertes politisches Bewußsein vorhanden, das zudem durch die feudalen Hierarchien zusätzlich stratifiziert wurde.

Und noch entscheidender wäre, wie hätte er - also der "Agent" - es auch bei der Fragmentierung der Kommunikation im HRR kommunizieren sollen. Abgesehen davon, dass eine sehr kleine kulturelle oder politische Elite es hätte rezipieren und kommentieren können.

Ansonsten wird man bei dem Thema wohl kaum um eine halbwegs engagierte Literatursichtung herumkommen und ich schenke mir im ersten Schritt den Verweis auf die umfangreiche angelsächsische Literatur.

Somit wäre zuerst L. Niethammer: Kollektive Identität zu nennen und ebenfalls A. Dörner: Politischer Mythos und symbolische Politik.

Als Reader wohl noch immer wichtig von Giesen und Berding "Nationale und kulturelle Identität" (Bd. 1) und Nationales Bewußtsein und kollektive Identität (Bd. 2).
 
Zuletzt bearbeitet:
Nun, das ist einfacher:
Da sich die germanischsprachigen Ethnien schon früh von 'Welschen' und 'Wenden' abgrenzten -diese Abgrenzung ist nolens volens ein Selbstzeugnis-, ist diese Identität älter als die Deutsche Sprache. Übrigens, ohne dass diese Identität ein einheitliches 'Volk' hervorgebracht hätte.

Ist eine Sprache überhaupt denkbar, ohne dass sich die Sprecher als Gruppe fühlen? (Ich rede hier zunächst von der Muttersprache.)

Heiliges Römisches Reich und Deutschland sind zwei unterschiedliche Begriffe und keinesfalls Synonyme. Die gemeinsame Deutsche Sprache hat zweifellos die Bildung einer deutschen Ethnie mit bedingt. (Siehe obiges Zitat.) Aber das hatte nichts mit dem Heiligen Römischen Reich zu tun. Wie auch? Das Römische Reich war älter als die Deutsche Sprache und man berief sich auf die Kontinuität. Ja, man muss sagen, dass das Heilige Römische Reich wahrscheinlich älter als die deutsche Ethnie war. Vor dem Annolied gibt es zumindest kein eindeutiges Selbstzeugnis in dieser Frage.

EDIT: Den Post habe ich ohne Kenntnis des Posts #4 von thanepower geschrieben. Ich beharre natürlich weiterhin darauf, dass die Anwendung des Begriffs Nation auf Verhältnisse vor dem 18. Jh. anachronistisch ist.
 
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..., vor dem Hintergrund der Etymologie des Wortes "deutsch", was, wenn ich richtig informiert bin, am Ende so viel bedeutet wie: "die in der Sprache des Volkes sprechen". [...] Trotzdem war damit doch das gesprochene diutisc identitätsstiftend, was dann aber mit den eingangs erwähnten Aussagen nicht kompatibel zu sein scheint.

Oder meinst Du die Übersetzung 'volkssprachig' und schließt aus der Bezeichnung auf die Existenz eines entsprechenden Volkes?

Das kann klar verneint werden. Den Begriff haben Geistliche in die Welt gesetzt. Es war wohl eher das 'Gemeine Volk' oder das 'ungebildete Volk' gemeint, als dass eine spezielle Ethnie ins Auge gefasst wurde. Das hätte auch rein logisch Probleme gegeben. Die Sachsenkriege waren noch im Gange. Bayern sahen sich bestimmt nicht als eines Volks mit den Franken. Diese wiederum sprachen ein halbes Jahrhundert später 2 Sprachen, von denen nur eine 'diutisc' war. Das dürften genug Gegenbeispiele sein.
 
Seit wann das Land als Deutschland und die Bewohner als Deutsche bezeichnet wurden, ist unbekannt. Im Annolied wird jedenfalls um 1080 gesagt: „Diutschin sprechin Diutschin liute in Diutschemi lande.“ In heutigem Deutsch: „Deutsch sprechen deutsche Leute in deutschen Landen.“ (Im Mittelhochdeutschen wird althochdeutsch 'iu' wie 'ü' ausgesprochen. )

Schon Einhard schreibt von den Bemühungen Karls des Großen: Inchoavit et grammaticam patrii sermonis. Außerdem begann er mit einer Grammatik seiner Muttersprache.

Zum Wort teutonicus:
Der älteste lateinische Beleg stammt aus dem Jahr 786, die ältesten deutschen Belege erst aus der Zeit um 1000: Notker III. von St. Gallen gebraucht mehrfach - aber auch noch immer selten genug - die Formulierung in diutiscun ("auf deutsch"), während in der Zeit davor ein Autor wie Otfried von Weißenburg im lateinischen Kontext zwar das Wort theodiscus verwendet, in seinen deutschen Versen aber immer in frenkisgon oder in frenkisga zungun sagt, vielleicht weil in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts das künstliche Wort noch nicht in die Volkssprache eingedrungen war.
Dieter Kartschoke/Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter
 
Zum Wort teutonicus:
Der älteste lateinische Beleg stammt aus dem Jahr 786, die ältesten deutschen Belege erst aus der Zeit um 1000: Notker III. von St. Gallen gebraucht mehrfach - aber auch noch immer selten genug - die Formulierung in diutiscun ("auf deutsch"), während in der Zeit davor ein Autor wie Otfried von Weißenburg im lateinischen Kontext zwar das Wort theodiscus verwendet, in seinen deutschen Versen aber immer in frenkisgon oder in frenkisga zungun sagt, vielleicht weil in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts das künstliche Wort noch nicht in die Volkssprache eingedrungen war.
Dieter Kartschoke/Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter

Teutonicus
und thiudiskus/deutsch sind allerdings zwei verschiedene Paar Schuh.

Was das eigentliche Threadthema angeht, so möchte ich mal nach Venedig schauen. Dort gab es den Fondaco (oder die Fondeca) dei/degli Tedeschi ("Te-des-ki" [von thiudisk]). In dieser mussten alle deutschen Händler ihre Waren stapeln. Wer wurde nun nach den venezianischen Statuten für deutsch gehalten?
...tuti Todeschi si de Alemagna bassa chome de lalta si subditi del imperador come de ogni alto signor Todescho et similiter Polani Ongari et Boemi
Übersetzung:
alle Deutschen aus Niederdeutschland wie aus Oberdeutschkand, wenn sie dem Kaiser oder einem anderen hohen deutschen Herrn unterworfen sind und gleichermaßen Polen, Ungarn und Böhmen.
 
Schon Einhard schreibt von den Bemühungen Karls des Großen: Inchoavit et grammaticam patrii sermonis. Außerdem begann er mit einer Grammatik seiner Muttersprache.

Zum Wort teutonicus:
Der älteste lateinische Beleg stammt aus dem Jahr 786, die ältesten deutschen Belege erst aus der Zeit um 1000: Notker III. von St. Gallen gebraucht mehrfach - aber auch noch immer selten genug - die Formulierung in diutiscun ("auf deutsch"), während in der Zeit davor ein Autor wie Otfried von Weißenburg im lateinischen Kontext zwar das Wort theodiscus verwendet, in seinen deutschen Versen aber immer in frenkisgon oder in frenkisga zungun sagt, vielleicht weil in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts das künstliche Wort noch nicht in die Volkssprache eingedrungen war.
Dieter Kartschoke/Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter

Mir ging es -eigentlich offensichtlich- um den Zusammenhang der Bezeichnungen von Sprache, Land und Leuten, nicht um das erste Vorkommen des Adjektivs.

Die 'frenkisgiu zunga' war ein althochdeutscher Dialekt, und besagt damit nichts über die Bekanntheit von 'diutisc'.
 
Zuletzt bearbeitet:
Die These, dass Sprache politisch und ethnisch im Mittelalter politisch keine Rolle gespielt habe, ist heute sehr populär, gerade in TV-Produktionen und neuen populärwissenschaftlichen Texten. Den Zeitgeist des 21. Jahrhunderts scheint sie ganz gut zu treffen.

Zur Überprüfung sollte man insbesondere die Regionen betrachten, in denen sich der deutsche Sprachraum mit anderen Sprachgebieten überschnitt. Das gilt insbesondere für die "Germania Slavica" bzw. die "deutsche Ostsiedlung" und Böhmen. Interessant sind auch noch die Schweiz, Lothringen und die Niederlande.

Es gibt einige Hinweise dafür, dass die deutsche Sprache und die slawischen Sprachen im Reich nicht als gleichwertig und die Bevölkerung nicht als gleichwertig. Besonders interessant ist der sogenannte "Wendenpassus", der der slawischen Bevölkerung den Eintritt ins Bürgertum erschwerte. Im Sachsenspiegel wird auch einiges über das Verhältnis von Deutschen und Slawen berichtet. Wirklich bemerkenswert ist die dortige Aussage, der König von Böhmen habe als Kurfürst keine Wahlrecht, weil er kein Deutscher sei.
Das Reich wurde zwar nicht über die Sprache definiert. Eine Diskriminierung anderssprachiger Bevölkerungsteile hat es teilweise gegeben. Das Thema ist allerdings sehr schwierig, weil es politisch immer noch belastet ist.
 
EDIT: Den Post habe ich ohne Kenntnis des Posts #4 von thanepower geschrieben. Ich beharre natürlich weiterhin darauf, dass die Anwendung des Begriffs Nation auf Verhältnisse vor dem 18. Jh. anachronistisch ist.

Kannst Du gerne machen und es ergibt sich vermutlich kein - gravierender - Widerspruch in unseren Sichten.

Möglichweise hast Du meine eigene Sicht nicht richtig interprtiert als ich neuere Forschungsansätze zur "Nationes"-Forschung bzw. zu sehr frühen unspezifischen Formen eines diffusen deutschen Nationalismus vorgestellt hatte (was eigentlich die Vertreter der frühen Nationalismus-These hätten machen müssen, um ihre eigene These zu untermauern)

Vielleicht magst Du den Beitrag von Planert (S. 25 ff) lesen, die eine durchaus hilfreiche "Konstruktion" als Erklärung in Form der "Sattelzeit" für den deutschen Nationalismus vorschlägt.

https://books.google.de/books?id=1uBW1aaHIfQC&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false
 
M.E.n. sind alle nach heutiger Lesart nationalistischen Regungen jener Zeit in Wahrheit auf die Religion reduzierbar; Gruppen wie die Wenden wurden eher durch ihr Neophytendasein belastet als durch ihre Stammeszugehörigkeit.
Nicht umsonst gilt das Mittelalter als das Zeitalter der Religionen. Ich behaupte, für die Europäer jener Tage war es wichtig, wer Christ war und wer nicht (ggf. noch, wie sehr christlich); ob dieser Christ nun Mährer war oder Klever und welcher Mundart er sich bediente, dürfte recht egal gewesen sein. Ein innereuropäischer Rassismus, wie er heutzutage in der Unterhaltungsliteratur auftaucht, ist meiner bescheidenen Ansicht nach daher Humbug. Beispielsweise wird in historischen Romanen wiederholt versucht, eine Art anti-polnischen Erbrassismus der Deutschen zu konstruieren. Demgegenüber bekämpfte der Deutsche Orden die Polen (und Litauer) nicht wegen ihrer ethnischen Abstammung, sondern ihrer zögerlichen Annahme des Christentums (später auch wegen recht weltlicher Territorialkonflikte).
Das HRRDN war, wie mehrere Foristen zu Recht betont haben, ein multiethnisches Gebilde. Im Verlauf seiner Geschichte wurde es von den verschiedensten Ethnien dominiert, einschließlich denen mit westslawischen Wurzeln wie etwa den Böhmen.
Überhaupt wird nach meiner Auffassung der Begriff der Feindschaft für jene Zeit überdehnt. Dass sich bis weit in die Neuzeit hinein nur wenige Nationalstaaten ausbildeten, liegt vornehmlich daran, dass nur wenige Völker durch eine auswärtige Bedrohung überhaupt zu Nationen vereint wurden. In Frankreich und dem Vereinigten Königreich bedurfte es dazu der normannischen Demütigung der Angelsachsen und des Hundertjährigen Krieges, in den Niederlanden der Neuzeit den Konflikt mit Spanien und der existenziellen Bedrohung durch die Nachbarmonarchien.
Schon die volatile Bündnispolitik der damaligen Herrscher scheint im Großen und Ganzen verhindert zu haben, dass nationalistische Regungen überhand nahmen. Warum sollten sie auch? Ich habe von einem braunschweiger Herrn gelesen, der im Jahr 1420 erst für die Franzosen, dann für die Engländer kämpfte, dann mit den Brandenburgern in Fehde lag, dann mit seinem brandenburgischen Fehdegegner in den Kreuzzug gegen die hussitischen Böhmen marschierte und zu guter Letzt das Jahr mit einer fröhlichen Belagerung einer polnischen Burg an der Seite des mährischen Adels abschloss. Das damals geltende, nennen wir es, Völkergewohnheitsrecht hatte eine recht emotionslose Sichtweise auf Konflikte, und ohne ernsthafte Feindschaft kann keine Überhöhung des eigenen Lagers und eine Abqualifizierung des anderen stattfinden, kurz gesagt, es bildet sich kein echter Nationalismus aus.
 
Viele Regionen wiesen unterschiedliche Sprachen auf, welche sich jedoch mit der Zeit auf Grund der Verständigung untereinander, durch das Handel-treiben und anderen Interaktionen immer mehr ähnelten. Zur Verständigung untereinander wurden die lokalen Sprachen angepasst und vereinheitlicht.
 
Es war eher so, dass für überregionale Verständigung eine lingua franca genutzt wurde, wie das Mittelniederdeutsche, dass ja eben kein Alltagsdialekt war. Später wurde es dann durch das Hochdeutsche ersetzt. Das niederdeutsche Dialektkontinuum blieb jedenfalls erhalten, wo die Sprache noch bekannt ist.

Ein Versuch, die Idee eines Sprachkontinuums auf die mittel- und oberdeutschen Dialekte anzuwenden, ist mir nicht bekannt.
 
Ergänzend zu Riothamus:

Im Hinblick auf den Handel kommt ja noch hinzu dass dieser abseits der großen handelsstraßen in weiten Teilen auch eine lokal beschränke Angelegenheit blieb. Ein wirklich gut ausgebautes Straßensystem gab es nicht, die Flüsse waren in weiten Teilen auch nur stellenweise schiffbar, so dass sich die Reichweite im hinblick auf den Transport, gerade im Binnenland und wenn es sich um verderbliche Ware handelte, häufig in Grenzen hielt.

Zudem sind Sprachgrenzen ja selten wirklich schaft, so dass man für die Grenzgebiete mitunter auch eine mindestens in Teilen bilinguale Bevölkerung wird annehmen können, so dass auf regionaler Ebene jenseits der Sprachgrenzbereiche Verständigung auch auf diesem Wege möglich war.
 
Da ich erst jetzt auf diesen Thread gestoßen bin ...

Zunächst:
der Mensch ist ein Gemeinschafts- oder Sozialwesen. Allerdings ist dieser Gemeinschaft immer auch eine Differenzierung zwischen "wir" und "die anderen" inhärent.

Auf welchen Kriterien diese Abgrenzung beruht, ist sehr unterschiedlich.
  • Das können beispielsweise religiöse Kriterien sein (wir Christen gegen die anderen vom Islam, orthodox vrs. katholisch, katholisch vrs. evangelisch - 30jähriger Krieg - oder auch Sunniten gegen Schiiten). Wie sehr religiöse Gemeinsamkeiten auch heute noch zur Abgrenzung dienen und (trotz gemeinsamer Sprache) zur eigenen Staatenbildung führen, konnten wir beim Zerfall Jugoslawiens beobachten.
  • Das können übernationale Zugehörigkeiten zu einem Herrscherhaus sein (Österreich-Ungarische Donaumonarchie),
  • das können Sportgemeinschaften sein (Fußballfans verschiedener Clubs) oder auch
  • sprachliche Gemeinsamkeiten (wobei im Fall "deutsch" dann Österreich und die Schweiz trotz der sprachlichen Nähe wieder zu "den anderen" gehören) .
  • Das "wir" ist etwa bei den Chinesen nicht durch eine gemeinsame Sprache bedingt (die unterschiedlichen Dialekte haben sich so weit auseinander entwickelt, dass sich etwa Nord- und Südchinesen nicht mehr verständigen können, dazu kommen anders sprachliche Völker insbesondere im Süden Chinas) sondern durch eine gemeinsame kulturelle Identität.
  • Ähnliches entwickelt sich auf europäischer Ebene - "wir Europäer" teilen trotz unterschiedlicher Sprachzugehörigkeit eine gemeinsame kulturelle Entwicklung (man erinnere sich nur an die Stilrichtungen im Kirchenbau), gemeinsame Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die sich in der französischen Revolution etabliert haben, und grenzen uns damit von autokratischen Regimen oder autoritären Regierungen ab.

Konkret:
Für Deutschland und die Deutschen möchte ich das "wir Deutsche" erst mit der Vereinigung unter Bismarck beginnen lassen. Vorher waren es primär z.B. Badener, Bayern oder Preußen, Österreicher die sich untereinander als "Einheit" verstanden (und in Bayern dann auch noch die katholischen Altbayern - mia san mia - gegen die protestantischen Franken).
Diese Gemengelage ist dann nach der Teilung Polens z.B. auch im preußischen Kulturkampf (protestantische Preußen gegen katholische Polen) kumuliert. In dieser Zeit hat sich bei uns langsam die Sprache als verbindendes "wir" durchgesetzt.
Ähnlich ist das in den Nationalstaaten wie Ungarn, Polen, Tschechien oder der Slowakei, die ihre nationale Identität nach Jahrzehnten der "Fremdherrschaft" über die gemeinsame Sprache definieren und sich damit auch von anderen europäischen Völkern abgrenzen.
Das ist auch kein Wunder - der Mensch "denkt in Sprache". Gedanken und Ideen, auch Gemeinsamkeiten und Verbindendes, lassen sich über die Sprache kommunizieren.

Unterschiedlicher Entwicklungsstand:
In anderen Ethnien ist diese sprachlich basierende "Wir-Findung" erst in unterschiedlichen Stadien des Entstehens. Ich denke z.B. an die Araber, die nach Jahrzehnten der Unterbrechung jetzt wieder die eigene "Identität" gegen die türkische Intervention (Libyen, Syrien, Irak) entdecken und entwickeln - oder, weil wir gerade bei der Türkei sind, an die Ansätze einer gemeinsamen "turanischen" Identität der turksprachigen Bevölkerung bis nach Zentralasien.

Anderswo ist trotz sprachlicher Gemeinsamkeit diese "wir-Identität" (wie bei uns vor Bismarck) auf den jeweiligen Staat beschränkt (Kolumbien vrs. Venezuela) - oder wie in Afrika im Zuge der kolonialen Grenzziehung völlig konfus. Das "wir" beschränkt sich dort vielfach auf Stammeszugehörigkeiten, die aber quer durch mehrere Staaten verlaufen.
 
Hätte die Sprache im Mittelalter ein allgemeines Identifikationssymbol dargestellt, scheint mir, hätten Entwicklungen wie die Überführung der Volks- in Literatursprachen nicht erst im Spätmittelalter begonnen.

Ich schreibe «begonnen», weil ein Verlangen nach Literatur in der Volkssprache ein wichtigerer Meilenstein auf dem Weg hin zur sprachlichen Identität zu sein scheint als das bloße Vorhandensein solcher Werke.

Immerhin wissen wir von Dante Alighieri und seinen geistigen Mitstreitern in Italien und anderswo, dass seine bzw. ihre Vision sich zwar durchsetzte, aber nicht gerade im Sturm.

Die Gebildeten hielten lange dem Lateinischen die Treue, und sie waren nicht wenige. (So nimmt Cleugh für das Florenz des 15. Jahrhunderts eine Alphabetisierungsrate von gegen 40% an; aber selbst in ärmeren, kulturell weniger fruchtbaren Gegenden fand sich mehr Bildung, als das heute gängige Mittelalterbild wahrhaben will.)

Wenn dies aber gerade über jene Bevölkerungsschichten gesagt werden kann, die am ehesten dazu prädestiniert waren, ein Nationalgefühl zu entwickeln, was folgt daraus?

Auch ist zu bedenken, dass die noch nicht eingesetzte Vereinheitlichung der Sprache und die mundartliche Vielfalt der sich (wenigstens zeitweise) räumlich getrennt voneinander entwickelnden Kulturen einer Sprachidentität hinderlich waren.

Ein Baier und ein Schlesier um, sagen wir, 1400 konnten einander nur mit Mühe verstehen, ein Bretone und ein Pariser oder ein Aragonier und ein Kastilianer aber so gut wie gar nicht.
 
Wenn dies aber gerade über jene Bevölkerungsschichten gesagt werden kann, die am ehesten dazu prädestiniert waren, ein Nationalgefühl zu entwickeln, was folgt daraus?
Welche Schichten sind denn dafür prädestiniert?

Ein Baier und ein Schlesier um, sagen wir, 1400 konnten einander nur mit Mühe verstehen, ein Bretone und ein Pariser oder ein Aragonier und ein Kastilianer aber so gut wie gar nicht.
Kann sein, dass du das ungeschickt formuliert hast.
Ein Bayer oder Schlesier wird einen Aragonesen oder Kastilier im Normalfall nicht verstanden haben.

Ein Aragonese oder ein Kastilier allerdings konnten sehr gut miteinander parlieren.

Ein Bretone sprach gar nicht Französisch/einen galloromanischen Dialekt sondern das Bretonische, eine keltische Sprache.
 
Welche Schichten sind denn dafür prädestiniert?
Ob man nun auf das Verhältnis Reichsitaliens zu den Deutschen blickt, auf den zu Hus’ Zeiten aufkeimenden Nationalismus in Böhmen oder das Bestreben der Schweden, die Herrschaft der Dänen abzuschütteln – überall war die wohlhabendere, gebildete Stadtbevölkerung der präsenteste Träger dieser Bemühungen.

Was auch kaum verwundert, immerhin entstanden die meisten heute als nationalistisch gedeuteten Konflikte aus Machtkämpfen zwischen der einheimischen Elite einerseits und der zugewanderten (oder durch die bestehenden Herrschaftsstrukturen anderweitig ermächtigten) fremden Elite andererseits.

Das Machtungleichgewicht wurde ethnisch aufgeladen ("Wir sind nicht mal die Herren im eigenen Land!") und erwuchs dann zum Nationalismus.

Eine Atmosphäre der nationalen Erhebung, wie in Frankreich zur Zeit der Jungfrau von Orleans, waren eher selten. Das einfache Volk hatte meist andere Sorgen, als über die Nationalität seines Königs nachzudenken.
Kann sein, dass du das ungeschickt formuliert hast.
Ich bekenne, ich stehe auf dem Schlauch. Vielleicht würde ein Semikolon nach "verstehen" helfen?

Ich wollte sagen: Im ausgehenden Mittelalter – der Zeit, als das Konzept des Nationalstaats die europäische Bühne betritt – bestanden innerhalb der Staaten solche sprachlichen Unterschiede, dass von einem einigenden Identifikationsmerkmal in meinen Augen kaum die Rede sein kann.

Die Sprache der Gelehrten und der Politik war das Lateinische, und die Bewohner einzelner Landesteile mussten erst einmal mit ihrer jeweiligen Mundart ins Reine kommen.
 
da muss ich Dir beipflichten , man sollte im Hinblick auf eine Sprache als Grund für eine "gemeinsame Identität" im mittelalterlichen HRR vor sichtig sein.
Eine gemeinsame verbindliche Hochsprache existierte damals nicht
Wir haben vielmehr diverse regionale Dialekte ,die sich wiederum in unterschiedliche Dialektgruppen und -familien zusammenfassen lassen.
Deshalb war ja Latein als gemeinsame Lingua franca und Kanzlei- und Wissenschaftssprache längere Zeit als in England oder Frankreich angesagt.
ein Schwabe aus Ravensburg oder ein Niederbayer dürfte Menschen aus Köln und erst recht einen Friesen aus Oldenburg oder einen Dithmarscher kaum auch nur ansatzweise verstanden haben. Wie sollte da über die Sprache eine gemeinsame Identität entstehen.
Erst mit Ausgang des mittelalters und Beginn der Renaissance bildete sich auch durch die überregionale Verbreitung von Massendruckerzeugnissen so etwas wie die Ansätze einer gemeinsamen Schriftsprache heraus,die auch überregional verstanden wurde.
 
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