Völkermord in Luxemburg 1940-1944

jschmidt

Aktives Mitglied
Ich möchte hier einen Fall behandeln, bei dem laut Lemkin Völkermord-Techniken [siehe
http://www.geschichtsforum.de/f76/m...eiterer-diskussionsversuch-34441/#post770210] angewendet wurden. Es geht um meine Nachbarn in Luxemburg.

In diesem Zusammenhang listet Lemkin auch religiöse Orientierung auf, auf die ein Genozid abzielen kann und zu einer beschleunigten Desintegration der betroffenen Gruppe führt.

Zitat: [1] „In Luxemburg, wo die Bevölkerung vor allem aus Katholiken besteht und Religion eine wichtige Rolle im nationalen Leben spielt, vor allem auf dem Gebiet der Erziehung, hat die Besatzungsmacht versucht, diese nationalen und religiösen Einflüsse zu unterbrechen.“

Diesen Vorwurf belegt Lemkin wie folgt:
[a] „Über 14 Jahre alten Kindern wurde per Gesetz gestattet, ihre religiöse Zuordnung [zu einer Konfession] aufzugeben, denn die Besatzungsmacht war darauf aus, diese Kinder ausschließlich für pro-Nazi-Jugend-Organisationen zu verpflichten.
Darüber hinaus wurde, um solche Kinder vor öffentlicher Kritik zu schützen, zur gleichen Zeit ein anderes Gesetz herausgegeben, welches Strafen von bis zu 15.000 Reichsmark vorsah für jede Publikation von Namen oder irgendwelchen anderen allgemeinen Bekanntmachungen bezüglich Austrittserklärungen aus religiösen Vereinigungen.
[c] Desgleichen haben in Polen die deutschen Besatzungsbehörden angestrebt, durch die systematische Plünderung und Zerstörung von Kircheneigentum und Verfolgung der Kleriker die religiöse Führerschaft der polnischen Nation zu zerstören.“

Zu den Sätzen a und b druckt der Autor zwei Verordnungen vom 9.11.1940 ab. – Soweit der Sachverhalt.


[1] Ich übersetze den mir vorliegenden amerikanischen Originaltext (S. 89), um ein mögliches Diskussionshindernis abzubauen. Übersetzungsmängel bitte ich in der gebotenen Intensität zu rügen bzw. auszubessern.
 
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Hab mich nicht getraut wegen Th. :pfeif:

Oh, armer jschmidt:friends:

1. In der Darstellung zu Lemkin habe ich versucht, alle geographischen Bezüge zu entfernen, gerade um nicht inhaltlich einzelne Beispiele zu diskutieren, sondern um seine Ausführungen exemplarisch zu verstehen. Luxemburg ist mir leider "durchgerutscht".

2. Den Bezug von "Völkermord" zu Luxemburg finde ich nicht so glücklich. Dieser einzelne Aspekt in dem gesamten Kontext "Genozid" zielt auf die kollektive Identität der Gruppe ab. Er betrifft somit die "Ethnizität" der Gruppe, wie in einem anderen Thread gerade diskutiert.

3. Zudem gehört dieser Aspekt auch eher in den Bereich des Genozids, der auf die Vernichtung kultureller Güter abzielt und somit eher den "cultural genocide" betrifft.

Dennoch gehört die Destruktion der konfessionellen Weltbilder einer Gruppe durchaus als ein Aspekt zum analytischen Konstrukt des Genozids wie Lemkin ihn beschrieben hat.

Deutlicher wird dieser Punkt in seinen Auswirkungen in Tibet und der Art wie die Chinesen in dieser Region den Buddhismus als Religion zu bekämpfen. Das zielt in seiner Wirkung auf die kollektive Identität ab und kann somit als ein Aspekt eines "cultural genocide" verstanden werden.
 
Diesen Vorwurf belegt Lemkin wie folgt:
[a] „Über 14 Jahre alten Kindern wurde per Gesetz gestattet, ihre religiöse Zuordnung [zu einer Konfession] aufzugeben, denn die Besatzungsmacht war darauf aus, diese Kinder ausschließlich für pro-Nazi-Jugend-Organisationen zu verpflichten.

Das Großherzogtum Luxemburg war zur Eingliederung in das Deutsche Reich vorgesehen. Aus diesem Grunde wurden in der Besatzungszeit 1940-44 bereits zahlreiche Rechtsvorschriften unterschiedlichster Art auf das CdZ-Gebiet Luxemburg übertragen, darunter auch das Gesetz über die religiöse Kindererziehung vom 15. Juli 1921, das den Erwerb der vollständigen Religionsmündigkeit ab Vollendung des 14. Lebensjahres vorsieht. Dieses Gesetz ist weiterhin geltendes Recht in der Bundesrepublik Deutschland.
 
... darunter auch das Gesetz über die religiöse Kindererziehung vom 15. Juli 1921, das den Erwerb der vollständigen Religionsmündigkeit ab Vollendung des 14. Lebensjahres vorsieht. Dieses Gesetz ist weiterhin geltendes Recht in der Bundesrepublik Deutschland.
Danke! Ich war, ehrlich gesagt, schon etwas ungeduldig geworden, weil niemand diesen schlichten und absolut richtigen Hinweis brachte... - Demnächst mehr dazu.
 
Ich bin auch ungeduldig geworden, weil ich mir dachte, dass ihn jemand bringen würde.:winke:
 
Luxemburg ist mir leider "durchgerutscht".
Gräme Dich nicht! Dank des vorzüglichen Registers in Lemkins Werk wäre ich sowieso auf Luxemburg gekommen, und zwar genau zu dem Zweck, sein Konzept an diesem inhaltlichen Beispiel abzuklopfen.

Den Bezug von "Völkermord" zu Luxemburg finde ich nicht so glücklich.
Dieser Bezug ist der Lemkinschen Konzeption geschuldet: Oberziel ist die Zerstörung einer Gruppe, wozu verschiedene "genozidale" Techniken dienen, die sich zu einem koordinierten Plan verdichten. Vorliegend war das Oberziel die vollständige Assimilierung Luxemburgs bzw. dessen Aufgehen im Deutschen Reich.

Dennoch gehört die Destruktion der konfessionellen Weltbilder einer Gruppe durchaus als ein Aspekt zum analytischen Konstrukt des Genozids wie Lemkin ihn beschrieben hat.
Ja, das kann im Einzelfall so sein. Nur wäre ich froh, dafür ein geeignetes Beispiel gezeigt zu bekommen! [1] Luxemburg ist es definitiv nicht.

Die oben unter a und b erwähnten Maßnahmen dienten, wenn man sie unter einer menschenrechtlichen Perspektive betrachtet, der Erweiterung der individuellen Religionsfreiheit. Die von Lemkin gegebene Begründung, man habe die Jugendlichen durch die Herabsetzung der Altersgrenze bei der Religionsmündigkeit für die Hitler-Jugend o.ä. gewinnen wollen, ist nicht plausibel; in Deutschland sind Millionen katholischer und evangelischer Jugendlicher Mitglied einschlägiger Organisationen gewesen - mit Duldung oder gar Zustimmung des Klerus!

Exkurs: Unter der Überschrift "Genozid" schreibt Lemkin ferner (S. 196 unten): "In Luxemburg wurde eine Verordnung herausgegeben betreffend die Legitimierung von unehelichen Kindern, worin erklärt wurde, dass ein uneheliches Kind in Beziehung zu ihrer Mutter oder deren Verwandten den rechtlichen Status eines ehelichen Kindes haben soll."

Zur erwähnten "Destruktions"-Hypothese wäre zu fragen: Wessen Weltbild wurde durch die Herabsetzung des Religionsmündigkeitsalters destruiert? Das der betroffenen Jugendlichen? Das der Eltern? Inwieweit ist ein konfessionelles Weltbild zum völkerrechtlichen Schutzgut zu rechnen?

Wenn hier überhaupt ein Weltbild tangiert wurde, meine ich, dann das der katholischen Kirche. Ich gehe mithin davon aus, dass wir es hier mit einer (kirchen-) politischen Problematik zu tun haben: Dem österreichischen Katholiken Adolf Hitler und seinem dumm-brutalen Handlanger in Luxemburg ging es darum, die Institution Kirche zu schwächen, hiermit ist auch die Weigerung der Nazis verknüpft, den Geltungsbereich des Reichskonkordats von 1933 auf die besetzten Gebiete auszudehnen.


[1] Abhandlungen zum Zusammenhang von Genozid und Religion geben für den Topos "Weltbild-Destruktion" kaum etwas her, da geht es um andere Verbrechen; im Wörterbuch von Totten/Bartrup etwa sind (12, S. 361 f.) erwähnt: die jahrhundertelangen Verfolgungen der Juden durch die christlichen Kirchen, Armenien, die Rolle der Katholiken in Ruanda und Bosnien, d.h. die Verfolgung von Religionen durch Religionen.
 
Das schwierige an der Sache ist, dass die deutschen Besatzer ganz eindeutig die Absicht hatten die eigenständige Identität der Luxemburger zu zerstören bzw. durch die deutsche zu ersetzen. Zweifelsohne sind aus diesem Grund reichsdeutsche Gesetze und Verordnungen in Luxemburg eingeführt worden.

In Luxemburg sind jedoch die entsprechenden Völkermordhandlungen kaum erkennbar.
Die Überführung der luxemburgischen Jugend in die HJ könnte bereits eine solche Handlung sein, da Kinder zwangsweise von der einen Gruppe in eine andere Gruppe überführt werden.

Klar wurde im Deutschen Reich auch die gesamte Jugend in der HJ vereinigt. Der Unterschied ist jedoch der, dass die katholischen und evangelischen Jugendlichen im deutschen Reich ja bereits Deutsche waren und eben keine Änderung der Gruppenzugehörigkeit (Ethnie, Nation, Rasse, Religion) stattfand.

Ein weiteres Problem ist unsere deutsche Perspektive. Die deutschen Nation hat die Besonderheit, dass die konfessionelle Zugehörigkeit (inzwischen) keinen Einfluss mehr auf die Gruppenidentität hat. Katholiken sind genauso deutsche wie Lutheraner oder Calvinisten. In den meisten anderen Staaten Europas (nicht nur am Balkan!) ist hingegen die Konfession ein entscheidendes Attribut für die ethnische oder nationale Identität.
Ein ähnliches Problem gibt es bei der Religionsmündigkeit von Jugendlichen. Diese ganze Idee ist sehr deutsch und wird außerhalb Deutschland kaum als selbständlich angesehen werden.
 
Ich sehe das ähnlich wie Maglor.

Prüfsteine sind hier faktische Aspekte der deutschen Besatzungsherrschaft.

Eine Argumention ähnlich dem Legalitätsprinzip zur NS-Diktatur, formaljuristisch einwandfreier "Harmlosigkeiten" oder "Üblichkeiten" anderenorts, geht an der Sache vorbei, wie man im Osten anhand einwandfreier Besatzungsstatuten, unter denen dann Massenmord und Kriegsverbechen stattfindet, sehen kann.

Allerdings hatte ich vermutet, dass dieser Hinweis Richtung Legalität kommen würde.

So wie dieses nicht geeignet zur Widerlegung ist, belegt umgekehrt der Annexionsversuch oder die gewalttätige Besatzungsherrschaft nicht per se oder sozusagen "prima facie" den Genozidversuch.

Lemkin greift hier einfach im Beispiel daneben. Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass dieses zu einem frühen Zeitpunkt und mit wenig Faktenwissen stattfand.
 
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In Luxemburg sind jedoch die entsprechenden Völkermordhandlungen kaum erkennbar. Die Überführung der luxemburgischen Jugend in die HJ könnte bereits eine solche Handlung sein, da Kinder zwangsweise von der einen Gruppe in eine andere Gruppe überführt werden.
...belegt umgekehrt der Annexionsversuch oder die gewalttätige Besatzungsherrschaft nicht per se oder sozusagen "prima facie" den Genozidversuch.
Im Nachbarland ist die Nazizeit historisch gut aufgearbeitet. [1] Zusammengefasst kann man sagen, dass der Versuch, die (religiöse) Identität zu zerstören, erfolglos blieb. Die Zahl derer, die aufgrund des Besatzungsrechts aus der Kirche austraten, blieb im Promillebereich, und eine zwangsweise "Überführung ... in die HJ" ist nicht versucht worden.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: "Luxemburg belegt in der Bilanz der Todesopfer [= 1,96 %] unter den besetzten Staaten Westeuropas nach den Niederlanden (2,4 %) den traurigen zweiten Rang (zum Vergleich: Frankreich 1,5%, Belgien 1%) ..." (Wallerang S. 147).

Ein weiteres Problem ist unsere deutsche Perspektive. ...Ein ähnliches Problem gibt es bei der Religionsmündigkeit von Jugendlichen. ...
Auf diesen interessanten religionsgeschichtlichen Einwurf komme ich gern zurück, möchte aber diesen Thread nicht damit belasten.

Lemkin greift hier einfach im Beispiel daneben. Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass dieses zu einem frühen Zeitpunkt und mit wenig Faktenwissen stattfand.
Ich gehe - ohne Beleg - davon aus, dass er sich hier auf Berichte aus Kirchenkreisen stützten musste; wenn überhaupt, war die Kirche in der Lage, entsprechende Nachrichten zu sammeln und zu transportieren. Das erklärt auch die besondere Akzentuierung der Bedrohungslage.


[1] Siehe nur:
Henri Wehenkel (Bearb.): Der antifaschistische Widerstand in Luxemburg. Luxembourg: Edition Cole, 1985
Paul Dostert: Luxemburg zwischen Selbstbehauptung und nationaler Selbstaufgabe. Diss. Freiburg i.Br., 1985
Mathias Wallerang: Luxemburger unter nationalsozialistischer Besatzung. Mainz: Ges. f. Volkskunde 1997
 
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Im Anschluss eine grundsätzliche Frage

Zwei Teilaspekte sind weitgehend offen geblieben (siehe oben):

  • Zur erwähnten "Destruktions"-Hypothese hatte ich gefragt: Wessen Weltbild wurde durch die Herabsetzung des Religionsmündigkeitsalters destruiert? Das der betroffenen Jugendlichen? Das der Eltern? Inwieweit ist ein konfessionelles Weltbild zum völkerrechtlichen Schutzgut zu rechnen?
  • Unter der Überschrift "Genozid" schreibt Lemkin ferner (S. 196 unten): "In Luxemburg wurde eine Verordnung herausgegeben betreffend die Legitimierung von unehelichen Kindern, worin erklärt wurde, dass ein uneheliches Kind in Beziehung zu ihrer Mutter oder deren Verwandten den rechtlichen Status eines ehelichen Kindes haben soll." Auch hier die Frage: Wer/was wird destruiert?
Luxemburg verlassend, noch ein drittes Beispiel, die "moralische Technik" des Genozids betreffend:
Um den geistigen Widerstand der nationalen Gruppe zu schwächen, versucht die Besatzungsmacht eine Atmosphäre moralischer Entwürdigung innerhalb dieser Gruppe zu schaffen. Diesem Plan entsprechend sollte die geistige Energie der Gruppe auf Basis-Instinkte konzentriert werden und sollte vom moralischen und nationalen Denken abgelenkt werden. Es ist wichtig für die Realisierung eines solchen Plans, dass der Wunsch nach billigen individuellen Vergnügungen den Wunsch nach kollektiven Gefühlen und Idealen, die auf einer höheren Moral basieren, ersetzt. Deshalb machte die Besatzungsmacht in Polen eine Anstrengung, den Polen pornografische Sammlungen und Filme aufzuzwingen. ... (Lemkin, S. 89 f., Herv.js., keine weiteren Belege)
Im Anschluss hieran stellt sich eine grundsätzliche Frage: Ist das Konzept eines "isolierten" moralischen/religiösen/kulturellen Genozids tragfähig genug (und letzten Endes justiziabel)? [1] Was ist der Maßstab, an welchem die "Zerstörung" einer Gruppe gemessen wird? Ist es das Selbstverständnis der Gruppe (oder ihres Führungspersonals) oder gibt es einen quasi "objektiven", z.B. menschenrechtlichen Maßstab?

Zur Verdeutlichung des Problems hier ein womöglich absurd erscheinendes fiktives Beispiel [2]:
In vielen Gebieten Afrikas, aber auch in Asien gab es die Sitte der Genitalverstümmelung bei Mädchen und Frauen. Jahrhundertelang praktiziert, war diese Sitte offenbar sehr tief in den dortigen Kulturen bzw. in deren kulturellen Traditionen verankert, und entsprechend mühsam gestalteten sich alle Versuche, sie zu unterbinden.
Gesetzt den Fall, eine dritte (Kolonial-) Macht hätte ein Gebiet besetzt, in dem Genitalverstümmlung weithin praktiziert wurde, und hätte diese Sitte kategorisch verboten, das Verbot gewaltsam durchgesetzt, schwere Strafen verhängt usw. – Inwieweit hätte hier ein Angriff auf die Kultur als solche bzw. auf die kulturelle Identität eines Volkes vorgelegen?


[1] Die Frage stellt sich nicht, wenn die erwähnten "Techniken" früher oder später, wie in Polen, zur physischen Auslöschung führen! In diesem Fall könnte man von genozidalen Vorbereitungs- oder Begleit-Handlungen sprechen.
[2] In die Vergangenheitsform gesetzt.
 
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