Völkermord Herero - Problemfrage stellen

Teil 2

Die zunächst wichtigste Person für die NS-Bewegung aus dem Umfeld von Epps Freikorps war jedoch sein Flügeladjutant Ernst Röhm. Aus diesem engen Kontakt resultierte dann im Dezember 1920 die rechtswidrige Verwendung von – geheimen!! - Mitteln der Reichswehr von ca. 60.000 RM für den Ankauf des damals bereits anti-semitisch ausgerichteten „Völkischen Beobachters“, die Epp genehmigte. (Shirer, Pos. 1190 und auch Kershaw, Hitler Vol I, S. 156)

An diesem Punkt kann man aber auch die Brüche in der rassistischen Ideologie illustrieren, die zwischen den ursprünglichen monarchistisch geprägten kolonialen Rassisten und der nachfolgenden Generation auftraten. Und an diesem Punkt wirkt sich die Generationslagerung besonders deutlich aus. Ähnlich wie beispielsweise Paul Rohrbach, Hjalmar Schacht opponierte Epp gegen die Expansion nach Osten. Von Epp wurde diese „Lebensraum im Osten“- Ideologie als „Ostlandreiterei“ kritisiert und stattdessen der Erwerb von klassischen kolonialen Besitzungen in Afrika oder Fern-Ost ins Gespräch gebracht.( Naranch & Eley, S. 335)

Andererseits erfolgte auch eine Korrektur der traditionellen kolonialen rassistischen Ideologie, indem die Bedrohungsvorstellung, die aus der Sicht der NS-Ideologie dem Deutschen Reich galt, auch auf die potentiellen zukünftigen kolonialen Besitzungen ausgedehnt wurde. In diesem Sinne engagierte sich der Reichskolonialbund dafür, dass die Bestimmung des 3. Reichs auch darin bestehen würde, den „jüdisch-bolschewistischen Einfluß“ in Afrika zu bekämpfen. ( Naranch & Eley, S. 335)

Insgesamt kann man jedoch festhalten, dass viele der hohen Funktionäre aus dem Umfeld der durch kolonialen Rassismus geprägten Offiziere kamen, wie Bormann, Heydrich, Hans Frank, Otto Strasser, Keitel, Dirlewanger etc., wobei Hitler eine der wenigen Ausnahmen war. Und so formulieren Mallmann und Paul: „Auch das korreliert mit den Befunden von Michael Mann, wonach zwar nur 3,5 Prozent aller Weltkriegsveteranen in einem der zahlreichen Freikorps gedient hatten, aber 30 Prozent der vor der Jahrhundertwende geborenen späteren NS-Täter und noch 9 Prozent der Kriegsjugendgeneration Freikorpsverbänden angehört hatten, von denen sich wiederum mehr als zwei Drittel später der NS-Bewegung anschlossen. (Mallmann & Paul, Pos. 356). Diese Bedeutung der sozialisierenden rechten Netzwerke stellen Mallmann und Paul zudem in den Kontext der Ergebnisse von Wildt, der beispielsweise für die Universitäten in Tübingen, Leipzig oder Kiel die im sozialisierenden Sinne prägenden Einflüsse völkisch-nationaler Milieus konstatiert.

Faßt man die bisherigen Darstellungen zu den rechten kolonialen und militärischen Netzwerken zusammen, dann kann man auch vor dem Hintergrund der restlichen „Ergebnislage“ im Bereich der historischen Diskussion unterstellen, dass implizite Wissen aus den kolonialen Erfahrungen an die nächste Generation im Zuge von Erzählungen weiter gegeben worden sind. Und das ist der entscheidende Link in der These zur bruchhaften Kontinuität.

Darüber hinaus ergeben sich weitere Befunde. Eine wichtige weitere Person, die als „Anthropologe“ koloniale rassistische Vorstellungen in die NS-Bewegung hineintrug, war Eugen Fischer. Im Jahr 1908 hatte er einen „Forschungsaufenthalt“ in DSWA und schrieb mit Erwin Baur und Fritz Lens in 1921 das Buch „Menschliche Erblichkeitslehre, Band 1, Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene. Während seiner Haft las Hitler das Buch und bezog zentrale Ideen von Fischer in seine Überlegungen in „Mein Kampf“ ein (Ferguson, S. 188ff).

Besonders relevant wurden diese kolonialen rassistischen Überlegungen von Fischer bei der Sterilisation der sogenannten „Rheinland-Bastards“. Einer diskriminierenden und rassistischen Bezeichnung für Kinder aus der Periode der Besetzung des Rheinlands und der damit zusammenhängenden Diskussion über die „Schwarze Schande“. Einer seiner bekanntesten Schüler war Josef Mengele. (Ferguson, S. 189).

Auf einen weiteren Aspekt weist Ferguson in Anlehnung an Mazover hin. Es war Hitler, der Viktor Böttcher, einen früheren Verwaltungsangestellten in Deutsch Kamerun, zum Gouverneur in Posen 1939 berief. Und Ferguson formuliert: „The Nazis always intended to regard the territories they annexed in Eastern Europ from a colonial viewpoint, to be exploited economically with colonial methods.“ (Ferguson, S. 189 und vgl. dazu Mazower, S. 147 und S. 584)

Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen erscheint die historische Einordnung von Ferguson durchaus korrekt: „If Auschwitz marked the culmination of state violence against racially defined populations, the war against the Herero and the Nama was surely the first step in that direction.“ (Ferguson, S. 190)

Es gab eine Kontinuität im Transfern von implizitem Wissensbeständen aus den Kolonien an die verantwortlichen Handelnden im Dritten Reich. Das kann man als gesicherten Umstand annehmen. Aber es erfolgte eine Reinterpretation dieser Vorstellungen und somit erfolgte der Transfer auch nicht bruchlos.

Resümee. Die These der Kontinuität drängt sich am nachhaltigsten durch die Abfolge der Ereignisse von 1900 bis 1945 selber auf. Nicht eindeutig zeitlich zu benennen sind jedoch die konkreten inhaltlichen Brüche, die durch Reinterpretationen der ursprünglichen rassistischen kolonialen Ideologien zustande gekommen sind. Das betrifft die Übertragung von ideologischen Vorstellungen von der ersten – kolonialen – Generation zur zweiten – post-kolonialen Freikorps-Generation und dann die ideologische Transferleistung im Übergang zur dritten Generation der relativ jungen Technokraten im RSHA (vgl. Wildt und beispielsweise seine Darstellung zu Otto Ohlendorf)
Dennoch: Wesentlich schlechter stehen die Kritiker der Kontinuitätsthese dar. Bereits die empirische Evidenz der beiden durchgeführten Genozide und die Persistenz zentraler ideologischer Kern- Inhalte von 1900 bis 1945 spricht gegen sie.

Disclaimer: Auch wenn ich in einem engen zeitlichen Korridor die Kontinuitätsthese für die plausiblere Erklärung halte, bedeutet es nicht, dass es einen Automatismus oder Determinismus vom „Waterberg“ nach Auschwitz gab. Es ist auch kein Beitrag zur „Sonderwegthese“. Auch halte ich andere „Kontinuitäten“, wie im Zusammenhang mit der Goldhagen-Debatte diskutiert, für problematisch.

Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe von Helmuth Plessner. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch-Verlag.
Davenport, Thomas H.; Prusak, Laurence (2013): Working Knowledge: How Organizations Manage What They Know. Boston, Massachusetts: Harvard Business Review Press.
Ferguson, Niall (2011): Civilization. The West and the rest. 1st American ed. New York: Penguin Press.
Mallmann, Klaus-Michael; Paul, Gerhard (2013): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien. Darmstadt, Germany: Primus Verlag
Mann, Michael (2004): Fascists. Cambridge, New York: Cambridge University Press.
Mannheim, Karl (1964): Das Problem der Generationen. In: Karl Mannheim (Hg.): Wissenssoziologie, S. 509-565.
Matthes, Joachim (1985): Karl Mannheims „Das Problem der Generationen “, neu gelesen. In: Zeitschrift für Soziologie 14 (5), S. 363–372.
Mazower, Mark (2013): Hitler's Empire. Nazi Rule in Occupied Europe. London: Penguin Books Limited.
Naranch, Bradley; Eley, Geoff (2014): German colonialism in a global age. Durham: Duke University Press
Nonaka, Ikujiro; Takeuchi, Hirotaka (1997): Die Organisation des Wissens. Wie japanische Unternehmen eine brachliegende Ressource nutzbar machen. Frankfurt am Main: Campus (Management).
Olusoga, David; Erichsen, Casper W. (2011): The Kaiser's Holocaust. Germany's forgotten genocide and the colonial roots of Nazism. London: Faber and Faber.
Shirer, William L. (2011): The rise and fall of the Third Reich. A history of Nazi Germany. New York: Simon & Schuster.
Speitkamp, Winfried (2014): Deutsche Kolonialgeschichte. Ditzingen: Reclam,
Takeuchi, Hirotaka; Nonaka, Ikujirō (2004): Hitotsubashi on knowledge management. Singapore: John Wiley & Sons
Wildt, Michael (2003): Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichsicherheitshauptamtes. 2002, Hamburg: Hamburger Edition
Zerubavel, Eviatar (1999): Social mindscapes. An invitation to cognitive sociology. Cambridge, Massachusetts, London, England: Harvard University Press.
 
Vielen Dank für den instruktiven Überblick der umstrittenen Kontinuitätsdebatte!

Ich greife die Schlussbemerkung heraus, um noch einmal die Probleme zuzuspitzen:
Disclaimer: Auch wenn ich in einem engen zeitlichen Korridor die Kontinuitätsthese für die plausiblere Erklärung halte, bedeutet es nicht, dass es einen Automatismus oder Determinismus vom „Waterberg“ nach Auschwitz gab. Es ist auch kein Beitrag zur „Sonderwegthese“.

Ich kann ebenfalls dieser Kontinuitätshypothese wenig abgewinnen, und es bleiben dabei auch erhebliche Lücken:

1. In den militärhistorischen Publikationen wird unter dem Stichwort "Afrikanisierung* der Gewalt" (auch) der Effekt beschrieben, inwieweit der koloniale Kontext (Landnahme, verbunden mit rassistischem Sozialdarwinismus) an der "Peripherie", außerhalb von Europa für eine Gewaltentgrenzung eigener Art sorgte. Diese Gewaltentgrenzung fand bei allen Kolonialmächten statt, während offensichtlich unterschiedliche "Kontinuitäten" festzustellen sind. Die "Kontinuitätsdebatte" lässt offen, warum das so ist.

2. Es fehlt auch bei diesen "Abschichtungen" von Generationen ein plausibler Ansatz, die Wirkmacht der Weltkriegserfahrung von solchen behaupteten "kolonialen Wurzeln" einer behaupteten Kontinuität sauber abzugrenzen. Dafür reicht nicht aus, beispielhafte Radikalisierungen oder den "Transfer" der kolonialen Gewaltentgrenzung, fortgesetzt in den Freikorps, etwa an (personellen) Beispielen für den NS festzumachen. Das scheitert einfach daran, das die aktuellere und insbesondere massenhafte (!) Weltkriegserfahrung die NS-Bewegung in der Breite bestimmte, auch wenn vereinzelte "Kolonialkämpfer" in den 1920ern zentrale Rollen eingenommen haben. Die weitere Radikalisierung und Gewaltentgrenzung des NS in den 30ern, die weltanschaulichen "Kerntruppen", prägte die "Generation des Unbedingten".

3. Diese oben beschriebene koloniale Gewaltentgrenzung ist - anders als zB Hull (Absolute Destruction) behauptet - ohne Wirkmacht auf Kaiserliche Armee, Reichswehr oder Vorkriegs-Wehrmacht geblieben. Schlieffens oder Moltkes "Vernichtungsschlacht"-Gedanken, Verdun oder "Blitzkriege" - destruction/Vernichtung - haben konzeptionell nichts mit Herero-Verfolgung und -Genozid zu tun. Auch führt auch keine "Traditionslinie" zu Wehrmachtsverbrechen etwa bis zum Vernichtungskrieg der Ostfront, sondern hier ist doch mit reichlich Forschung inzwischen ein separater Prozeß zur (teilweisen) Kollaboration** mit NS-Vernichtungsgedanken und Gewaltentgrenzung offengelegt.


* das ist nicht nur kontinental zu verstehen, und schon gar nicht diskriminierend, sondern geschah ähnlich in anderen Gebieten der Welt
** zB Felix Römer: „Im alten Deutschland wäre solcher Befehl nicht möglich gewesen“, Rezeption, Adaption und Umsetzung des Kriegsgerichtsbarkeitserlasses im Ostheer 1941/42
 
Auch meinerseits vielen Dank für den kühnen Entwurf!
... ein Versuch, einen Erklärungsansatz auf der Basis der Mannheim`schen Generations- und Wissenssoziologie zu formulieren.
Zu Karl Mannheim muss ich mich erst wieder einlesen (siehe Zusammenfassung Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, 1928 / Bayerische Staatsbibliothek (BSB, Mnchen)).

Ich kann ebenfalls dieser Kontinuitätshypothese wenig abgewinnen, und es bleiben dabei auch erhebliche Lücken:...
Mir macht insbesondere der Schluss von Einzelnen (bestimmte Wortführer in Sachen Herorokrieg) aufs Ganze ('genozidale Gestimmtheit' der herrschenden Schichten eines Volkes) erhebliche Probleme. Vielleicht gelingt es in der Diskussion, die Komplexität ein wenig zu reduzieren. Dazu könnte es auch nützlich sein, das Stichwort "Referenzrahmen" [1] nochmal aufzugreifen.


[1] Soldaten: Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben - Geschichtsforum.de - Forum für Geschichte
 
Ausgehend vom Stichwort Referenzrahmen stellen sich die Fragen:

1. wessen? für welche Schichten?
2. in Bezug auf was? z.B. Europa->Kolonialismus (und dort betroffene Populationen)? Kriegführung? "Methoden" und Mittel? Gewaltentgrenzung?
3. welche Übereinstimmungen bzgl. 1.+2. sind für andere Länder festzustellen?

Den Schluss von Einzelnen (hier die Akteure des Genozids an den Hereros) aufs "Ganze" (oder wesentlicher Schichten) würde ich gerade als "dynamisches" Kernelement der Kontinuitätshypothesen-Vertreter sehen, und damit als Frage wenig problematisch, weil am Ende des betrachteten Kontinuitätszeitraumes (grob 1895/1945) die Mitwirkung Vieler an Genozid und massenhaften Verbrechen steht, was wiederum überhaupt Gegenstand des Erklärungsversuches ist.

Dazwischen aber gibt es Brüche. Und überlagernde tiefgreifende Einschnitte wie die Erste Weltkriegserfahrung, die neue "Referenzrahmen" (für Gewalt) für eine Generation geschaffen haben, die später ausführende Akteure des Massenmordes wie zugleich eine solchen Zielen geopferte und sich dafür opfernde Generation ("Erduldung" der Kriegserfahrung) stellte.

Die Einstufung des Genozids 1904 und solche Kontinuitätsfragen sind zu trennen. In dem Sinne - wie thanepower festgestellt hat -, dass ein Automatismus nicht bestand und eine Kontinuität sich lediglich als konstruiert darstellt, weil sie ohne weitere hinzutretende Ereignisse (die "Urkatastrophe")/Trigger der Radikalisierung und Gewaltentgrenzung in dem Erklärungsansatz nicht auskommt.
 
Mir macht insbesondere der Schluss von Einzelnen (bestimmte Wortführer in Sachen Herorokrieg) aufs Ganze ('genozidale Gestimmtheit' der herrschenden Schichten eines Volkes) erhebliche Probleme]

Da besteht wohl ein Mißverständnis meiner Intention, deswegen zur Präzisierung. Meine These konzentriert e sich sehr punktuell auf den empirisch zu erkennenden Aspekt, dass es einen Intra-Eliten-Kontakt im Rahmen der Netzwerke der Freikorps gab. Dieser Diskurs zwischen den Akteuren hat –sehr wahrscheinlich – Transferleistungen in Form von Wissen und Werten beinhaltet, die durch direkte Erzählungen der Offiziere aus den Kolonien und ihre Erfahrungen aus dem kolonialen Umfeld beinhaltete. „Kameradschaftsabende“ von Traditionsverbänden sind geprägt durch die „lebendigen“ Erzählungen früherer Kriegserfahrungen.

Dennoch stellt Steinbacher unter analytischen Gesichtspunkten zu Recht die Frage, welche Inhalte konkret vermittelt worden sind (S. 87). Und es könnten beispielsweise folgende politisch relevante Wissensbestände betroffen gewesen sein:
- Die Ideen zum Erwerbs kolonialer Imperien
- Spezfische Formen sozialdarwinistische rassistische Welt- bzw. auch Feindbildbilder
- Wissen über entgrenzte Formen der Kriegsführung
- Wissen über gewaltorientierte „Bevölkerungspolitik“ durch erzwungene Migration
(Exodus) oder durch Exterminierung (Genozid)

Es geht dabei um den letzten Aspekt, bei dem das implizite Wissen der Kolonial-Offiziere im Rahmen der Erzählungen zu explizitem Wissen gemacht wurde. Und dieses Wissen lediglich eine abstrakte „Blaupause“ für die nächste Generationslagerung der Heydrichs gebildet hatte. Steinbacher somit m.E. zutreffend:

Hektische Eile und Ewigkeitsvorstellungen gehörten im Nationalsozialismus unmittelbar zusammen. Wer solche Vorstellungen hatte und sich die Macht zuschrieb, sie umzusetzen, wollte etwas gänzlich Neues, nie Dagewesenes schaffen. Ideen aus vergangener Zeit spielten wohl dann eine Rolle, wenn sie sich maximal radikalisieren ließen, um genau für dieses Ziel in Dienst genommen zu werden.“ (Steinbacher, S. 96)

Und das trifft dann im Kern meine Vorstellung von Kontinuität und den Brüchen, die durch Interpretation und durch den Zwang der Anpassung an eine neue Realität des WW2 zustande kam. Die Radikalisierung ursprünglicher Blaupausen in eine neue Dimension des Holocaust.

Ich kann ebenfalls dieser Kontinuitätshypothese wenig abgewinnen, und es bleiben dabei auch erhebliche Lücken:

Was dennoch bleibt ist die Frage nach der Rekonstruktion der Entwicklung zentraler – also nicht eines - Ideenstränge, die in den Holocaust einmündeten. Und erklären können, welche „mentale maps“ bzw. „Referenzrahmen“ sich in den Generationslagerungen der Verantwortlichen ausgebildet hatte.

Das ist natürlich eine Abstraktion von der realen individuellen Sicht und versucht nur einen „Idealtypus“ für analytische Zwecke zu betrachten. Dennoch sollte er natürlich Bezüge zu realen, empirisch erkennbaren Einstellungsmustern oder Wertedimensionen aufweisen.

1. In den militärhistorischen Publikationen wird unter dem Stichwort "Afrikanisierung* der Gewalt" (auch) der Effekt beschrieben, inwieweit der koloniale Kontext an der "Peripherie", außerhalb von Europa für eine Gewaltentgrenzung eigener Art sorgte. Diese Gewaltentgrenzung fand bei allen Kolonialmächten statt, während offensichtlich unterschiedliche "Kontinuitäten" festzustellen sind. Die "Kontinuitätsdebatte" lässt offen, warum das so ist.

Es ist richtig, dass das „koloniale Inventar“ bei anderen Kolonialmächten ähnlich war und Massenmord in den Kolonien kein deutsches Vorrecht war.

Zwei Aspekte erscheinen mir wichtig:
1. Was wurde denn nun „weitergegeben“ im Rahmen der Netzwerke in den Freikorps?Und eine plausible Antwort wäre, es war das Wissen um die Machtbarkeit von Konzentrationslagern als „Technik“ der "Bevölkerungspolitik". Es war die Idee der Lager als Blaupause für eine Zusammenfassung von Personen, die unerwünscht sind und die aus welchen Gründen ausgegrenzt werden sollen.

2. Das ist sicherlich keine ausreichende Erklärung. Die komparative Studie von Bromhead und Eichengreen ist aus meiner Sicht zentral als zusätzliche Annahme für die spezifische Form der Radikalität, mit der dann einzelne Modelle aus dem kolonialen Umfeld neu zu Ende gedacht worden sind. Dieses vor dem Hintergrund, dass man die mentale und emotionale Bereitschaft den Freikorpskämpfern unterstellen kann, Rache nehmen zu wollen für die Niederlage im WW1, die „vergeblichen Opfer und den vergeblichen „Heldenmut““ der „Front“.
Rache aber auch vor allem an den "Novemberverbrechern" und allen, die den "Dolchstoß" in den Rücken der "siegreichen Heeres" - angeblich - zu verantworten hatten (vgl. Fromm zur politischen Verantwortung der "Juden")

Die Erfahrung des verlorenen Krieges ist der entscheidende Katalysator, der eine Zuspitzing von traditionellen, radikalen sozialdarwinstischen und rassistischen Vorstellungen über „normale ethische Grenzen“ hinaus ermöglicht.

Und in den Netzwerken des Freikorps die Entgrenzung der Gewalt als legitime „Notwehr“ gegen die „Feinde des Volkes“ zunehmend als akzeptabel erscheinen läßt. Die einzelnen Stufen der Interaktion und der Radikalisierung dieser Vorstellung eines Genozids kann man dann anhand der Aktenlage dokumentieren.

2. Es fehlt auch bei diesen "Abschichtungen" von Generationen ein plausibler Ansatz, die Wirkmacht der Weltkriegserfahrung von solchen behaupteten "kolonialen Wurzeln" einer behaupteten Kontinuität sauber abzugrenzen. Dafür reicht nicht aus, beispielhafte Radikalisierungen oder den "Transfer" der kolonialen Gewaltentgrenzung, fortgesetzt in den Freikorps, etwa an (personellen) Beispielen für den NS festzumachen.

„Sauber abgrenzen“ läßt es sich nicht, da wir über keine Daten (Fragebögen etc.) zu Werte- und Einstellungsmustern der einzelnen Akteure der unterschiedlichen Generationslagerungen in den Freikorps haben. Wenn überhaupt, dann sind die „Umfragedaten“ aus „Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reichs“ von Fromm eine der wenigen „belastbaren“ Hinweise auf „linke“ und „rechte“ Einstellungsmuster, die man dann auch als „Muster“ für die Mitglieder der Freikorps annehmen kann.

Die relativ eindeutigen schwarz-weiss Feindbilder im nationalsozialistischen Parteigängerspektrum Umfeld und die Vorstellung der Bedrohung des Volkes und der Mission seiner Verteidigung kommen bei Fromm bei der Frage: Wer hat nach Ihrer Meinung die wirkliche Macht im Staate? Relativ deutlich zum Ausdruck.

Bei der Antwortalternativen: „Juden, alleine oder zusammen mit Freimaurern und Jesuiten“ stimmten die NS-Wähler zu 50 Prozent zu (auch wenn das Basis-n für die Prozentuierung klein ist) und bei den Parteigängern der anderen Parteien dieser Antwort lediglich zwischen 1 und max. 5 Prozent zugestimmt haben (Fromm, S. 96)

An diesen Daten zeigen sich, trotz aller methodischen Einschränkungen, dass es gravierende Unterschiede bei den politischen Werten und den Einstellungen im extremen rechten Spektrum gab. Also den breiteren Referenzrahmen gebildet hat, auf den jschmidt hingewiesen hatte.

Zielführender oder plausibler könnte es sein, eher individuell eine derartige Form der politischen Sozialisation im Rahmen der Generationslagerung zu rekonstruieren. „Besonders am Herzen“ liegt mir dabei Heydrich, der den Prototyp für die Intra-Eliten-Transferleistung – also im Offizierskorps der Freikorps - vor dem Hintergrund unterschiedlicher Generationslagerungen verkörpert.

Vor diesem Hintergrund, so Hilberg, schrieb Göring 1941 einen Brief an Heydrich: Und Hillberg fährt fort: „in dem er ihn für die Endlösung der Judenfrage in Europa beauftragte…..Obwohl Göring sich nicht dazu äußerte, wann und wie diese Anordnung umgesetzt werden sollte, schwang in seinen Worten Endgültigkeit und Unwiderruflichkeit mit.“ Hilberg, Pos. 364)

Woher bezog Heydrich die zentralen Konzepte für die Endlösung und an welchen Kriterien orientierte er sich, wenn er die Frage der Machbarkeit der Endlösung bewertete. Und aus meiner Sicht lag ihm primär die "Machbarkeitsstudie" im Rahmen von DSWA vor, die ebenfalls eine finale Phase der Auslöschung aufwies. Und Kershaw weist in diesem Zusammenhang beispielsweise darauf hin, dass Hitler in die früher Phase der Planungen des Holocaust involviert war, die zentralen Ideen jedoch von Himmler kamen und ergänzt „presumably in close collaboration with chief of the Security Police Reinhard Heidrich“ (Kershaw, Pos. 888)

Steinbacher geht auf das Thema der Generationslagerung ein, diskutiert es aber nicht angemessen (vgl. S.88) Sie führt an, dass die Generationslagerung der „Täter“ „nur wenige Funktionäre des Dritten Reiches noch selbst koloniale Erfahrungen hatten.“ (Steinbacher, S. 88). Die Studien, die sie anführen übersehen dabei, dass das implizite Wissen über die Ereignisse in den Kolonien in der Tat in den entsprechenden NS-Netzwerke durch Erzählung in explizite Wissen umgewandelt werden kann. Damit werden sie einerseits historisiert, aber sie bilden gleichzeitig in ihrer Komplexität die Module, aus denen sich die Planungen für die „Endlösung“ herauskristallisiert.

Hilfreicher ist es, wenn sie die Frage diskutiert, was denn eigentlich Kontinuität ist und da nähert sie sich unter Bezug auf Koselleck und seinem Konstrukt der unterschiedlichen „Zeitschichten“ den wissenssoziologischen Vorstellungen von Mannheim oder den Arbeiten zum Knowledge Management von Takeuchi u.a. an. „Kontinuität entsteht darüber hinaus auch, ….wenn Gesellschaften sie eigens herstellen, etwa indem sie Traditionen schaffen und weiter geben. Und die generationsübergreifenden Netzwerke in den Freikorps waren eine Plattform für diese Form der interaktiven Wissenserstellung, die als „koloniales Archiv“ für Heydrich zur Verfügung stand. (Steinbacher, S. 92) So weiterhin meine zentrale These.

3. Diese oben beschriebene koloniale Gewaltentgrenzung ist - anders als zB Hull (Absolute Destruction) behauptet - ohne Wirkmacht auf Kaiserliche Armee, Reichswehr oder Vorkriegs-Wehrmacht geblieben

Da sind wir sicherlich einer Meinung.

Bromhead, Alan de; Eichengreen, Barry; O'Rourke, Kevin H. (2013): Political extremism in the 1920s and 1930s: Do German lessons generalize? In: The Journal of Economic History 73 (02), S. 371–406.
Fromm, Erich; Bonss, Wolfgang (1983): Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
Hilberg, Raul; Pehle, Walter H. (2016): Anatomie des Holocaust. Essays und Erinnerungen. Berlin: S. Fischer
Kershaw, Ian (2008): Hitler, the Germans, and the final solution. Jerusalem, New Haven [Conn.]: International Institute for Holocaust Research, Yad Vashem; Yale University Press.
Steinbacher, Sybille (2015): Sonderweg, Kolonialismus, Genozide: . Der Holocaust im Spannungsfeld von Kontinuitäten und Diskontinuitäten der deutschen Geschichte. In: Frank Bajohr (Hg.): Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung. Frankfurt am Main: Fischer, S. 83–101.
 
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Vor diesem Hintergrund, so Hilberg, schrieb Göring 1941 einen Brief an Heydrich: Und Hillberg fährt fort: „in dem er ihn für die Endlösung der Judenfrage in Europa beauftragte…..Obwohl Göring sich nicht dazu äußerte, wann und wie diese Anordnung umgesetzt werden sollte, schwang in seinen Worten Endgültigkeit und Unwiderruflichkeit mit.“ Hilberg, Pos. 364)
Dies gilt für die Entscheidung die Judenfrage durch Mord zu lösen. Diese Politik wurde aber nicht schon seit 1933 verfolgt. Maßnahmen gegen die Juden zielten nicht auf Ausrottung, sondern auf Auswanderung. Wenn ich richtig informiert bin, dann sondierte Eichmann noch 1938 in Gesprächen mit der Hagana eine Auswanderung von Juden ins britische Protektorat Palästina.

Woher bezog Heydrich die zentralen Konzepte für die Endlösung und an welchen Kriterien orientierte er sich, wenn er die Frage der Machbarkeit der Endlösung bewertete. Und aus meiner Sicht lag ihm primär die "Machbarkeitsstudie" im Rahmen von DSWA vor, die ebenfalls eine finale Phase der Auslöschung aufwies. Und Kershaw weist in diesem Zusammenhang beispielsweise darauf hin, dass Hitler in die früher Phase der Planungen des Holocaust involviert war, die zentralen Ideen jedoch von Himmler kamen und ergänzt „presumably in close collaboration with chief of the Security Police Reinhard Heidrich“ (Kershaw, Pos. 888)
......
Welche "finale Phase der Auslöschung" meinst du? Herero und Nama wurden nicht ausgelöscht. Selbst wenn man von Trothas Befehl als Befehl zum Genozid wertet, so fallen die (Kriegs)gefangenenlager doch in die Zeit nach Rücknahme des Befehls. Die Herero und Nama starben in den Lagern nicht als Folge gezielter Tötungen, sie starben an ungewohnter und unzureichender Ernährung, an ungewohntem Klima, an Typhus und Ruhr, an den Folgen der Flucht in die Omaheke und an den harten und zT unmenschlichen Bedingungen der Zwangsarbeit. Die Herero und Nama sollten als politische und militärische Kraft ausgeschaltet werden, nicht aber physisch in ihrer Gesamtheit.

Zitat:
silesia
3. Diese oben beschriebene koloniale Gewaltentgrenzung ist - anders als zB Hull (Absolute Destruction) behauptet - ohne Wirkmacht auf Kaiserliche Armee, Reichswehr oder Vorkriegs-Wehrmacht geblieben


Da sind wir sicherlich einer Meinung.

...
Dann ist es doch auch sinnlos nach Kontinuität zu suchen, nicht wahr?
 
Zielführender oder plausibler könnte es sein, eher individuell eine derartige Form der politischen Sozialisation im Rahmen der Generationslagerung zu rekonstruieren. „Besonders am Herzen“ liegt mir dabei Heydrich, der den Prototyp für die Intra-Eliten-Transferleistung – also im Offizierskorps der Freikorps - vor dem Hintergrund unterschiedlicher Generationslagerungen verkörpert.

These kann verworfen werden.
1. Heydrich ist mit 14 in das Freikorps "eingetreten".
2. Gerwarth beurteilt dieses Beitreten eher als einen symbolischen Akt.

und er schreibt:
" Heydrich did not become a proto-Nazi in the immendiate aftermath of the Great War" (Pos. 997). Im Gegensatz zu Himmler, der heftiger reagierte.

Dennoch ist der politische Kontext des "Dolchstoßes" und des Zusammenbruch ein zentraler Punkt der Politisierung, den auch Gerwarth betont.

Gerwarth, Robert (2011): Hitler's hangman. The life of Heydrich. New Haven: Yale University Press.
 
These kann verworfen werden.
1. Heydrich ist mit 14 in das Freikorps "eingetreten".
2. Gerwarth beurteilt dieses Beitreten eher als einen symbolischen Akt.

und er schreibt:
" Heydrich did not become a proto-Nazi in the immendiate aftermath of the Great War" (Pos. 997). Im Gegensatz zu Himmler, der heftiger reagierte.

Dennoch ist der politische Kontext des "Dolchstoßes" und des Zusammenbruch ein zentraler Punkt der Politisierung, den auch Gerwarth betont.

Gerwarth, Robert (2011): Hitler's hangman. The life of Heydrich. New Haven: Yale University Press.
Wollte Himmler nicht sogar in die Sowjetunion auswandern, wurde aber abgelehnt?

Ich denke, daß die Freikorps in der Tat einen Einfluß auf die Radikalisierung und Brutalisierung der Rechten hatten. Für mich sind das diejenigen, die den ersten Weltkrieg niemals verlassen haben und durch den Krieg und die Kämpfe danach verrohten.
 
These kann verworfen werden.
1. Heydrich ist mit 14 in das Freikorps "eingetreten".
2. Gerwarth beurteilt dieses Beitreten eher als einen symbolischen Akt.

und er schreibt:
" Heydrich did not become a proto-Nazi in the immendiate aftermath of the Great War" (Pos. 997). Im Gegensatz zu Himmler, der heftiger reagierte.

Dennoch ist der politische Kontext des "Dolchstoßes" und des Zusammenbruch ein zentraler Punkt der Politisierung, den auch Gerwarth betont.

Gerwarth, Robert (2011): Hitler's hangman. The life of Heydrich. New Haven: Yale University Press.

Vielen Dank für die Aktualisierung!

Hinzufügen würde ich noch, dass Heydrich in der Reichsmarine mit Radikalisierung und politischem Extremismus nicht aufgefallen ist (auch unter Berücksichtigung der Verortung der Reichsmarine, in der er neben der privaten Eskapade eher unauffällig geblieben war, obwohl es da vermutlich einen Resonanzboden gegeben hätte), und die weitere Radikalisierung nebst strammen Antisemitismus vermutlich erst dem Einfluss seiner Ehefrau zuzuschreiben.
 
Nochmal zum Thema Blaupausen und die Bedeutung der Kreativität, um bisherige Ideen im Rahmen der Endlösung zuzuspitzen.

Bei Wild wird auf die Besonderheiten der Organisation des RSHA hingewisen und er formuliert "Die Besonderheiten der Institution entsprach die ihrer Akteure. Von den Führungsangehörigen des RSHA wurde mehr verlagt als nur die bloße Ausführung von Befehlen. Sie hatten selsbt die Konzeptionen zu entwerfen, die Praxis zu bestimmen, mit denen der weltanschauliche Sicherungsauftrag verwirklicht werden konnte. An diesem zentralen Ort der Verfolgungs- und der Vernichtungspolitik des NS-Regimes brauchte es keine subalternen Beamten, sondern engagierte politische Männer wie Ohlendorf." (Wild, Einleitung, Pos. 208) oder auch Männer wie Heydrich.

Auf diesen Aspekt wollte ich aus zwei Gründen nochmal hinweisen.

1. Gerwarth berichtet über das erste Zusammentreffen zwischen Himmler und Heydrich. Zu diesem Zeitpunkt suchte Himmler einen Leiter für seinen Geheimdienst und er ging - irrtümlich - davon aus, dass Heydrich diese Funktionen im Umfeld der Marine wahrgenommen habe.

Himmler stellte ihm die Aufgabe, aus dem Stegreif eine Konzeption für die Organisation und die Funktionen eines Geheimdienstes im Rahmen der SS zu entwerfen. Heydrich, der eigentlich - fast - keine Ahnung von dem Thema hatte, rekapitulierte sein angelesenes Wissen (Romane etc.) zu dem Thema und stellte Himmler diese Konszeption vor. Himmler soll begeistert gewesen sein.

2. Das verweist auf die Nutzung "impliziter Wissensbestände" wie sie auch durch die Schilderungen aus den Kolonien während der Weimarer Republik zur Verfügung standen, wie beispielsweise "Peter Moors Fahr nach Südwest.

3. Und diese Vermutung kann man vor dem Hintergrund der These von Steinbacher interpretieren.

"Ideen aus vergangener Zeit spielten wohl dann eine Rolle, wenn sie sich maximal radikalisieren ließen, um genau für dieses Ziel in Dienst genommen zu werden.“ (Steinbacher, S. 96)

Bei allen berechtigten Fragen zu den historischen Wurzeln des Holocaust, seiner Kontinuität und seinen Brüchen, sollte man nicht übersehen, dass es auch einen hohen Anteil an "kreativer Leistung" bedurfte, um die "Endlösung" zu planen.

Und das Beispiel von Gerwarth zur Verwendung von "Alltags-" und "Fachwissen" könnte eine Interpretationsmöglichkeit darstellen, wie dieses "neue" Wissen zur Organisation des Holocaust aus sehr vielen Quellen synkretisch im RSHA zusammen geführt wurde.


Gerwarth, Robert (2011): Hitler's hangman. The life of Heydrich. New Haven: Yale University Press.
Steinbacher, Sybille (2015): Sonderweg, Kolonialismus, Genozide: . Der Holocaust im Spannungsfeld von Kontinuitäten und Diskontinuitäten der deutschen Geschichte. In: Frank Bajohr (Hg.): Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung. Frankfurt am Main: Fischer, S. 83–101.
Wildt, Michael (2003): Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichsicherheitshauptamtes. Hamburg: Hamburger Edition.
 
Und noch eine Ergänzung zu den "Blaupausen" und den NS-Netzwerken von Heydrich

These kann verworfen werden.
1. Heydrich ist mit 14 in das Freikorps "eingetreten".
2. Gerwarth beurteilt dieses Beitreten eher als einen symbolischen Akt.

Die These hinsichtlich der sozialisierenden Wirkung durch die Freikorps für Heydrich ist nicht belastbar, dennoch ergeben sich zwischen dem kolonialen Erbe und Heydrich auch auf den zweiten Blick bemerkenswerte Verbindungen.

Während der Zeit der Machtergreifung schnitten sich die Wege von Epp und Heydrich in München. So schreibt Gerwarth zu ihren gemeinsamen Aktionen:

„Am 9. März wurde Ritter von Epp in München als neuer Staatskommisar eingesetzt. Das Amt konnte er allerdings erst antreten, nachdem Heydrich mit einem Trupp von SS-Männern Postbeamten, die treu zur vormals regierenden Bayrischen Volkspartei standen, Gewalt angedroht hatte, wenn sie Ritter von Epp das Telegramm nicht aushändigen, das dessen Ernennung durch Hitler enthielt.“ (Gerwarth, S. 89).

Unmittelbar danach wurde Himmler durch Epp zum Polizeipräsidenten von München ernannt und erhielt die Kontrolle über die Politische Polizei. Heydrich wird in der Folge am 9. März 1933 zum Chef der Bayrischen Politischen Polizei ernannt und füllt durch die Einführung der neuen „Schutzhaft“ neue Konzentrationslager, wie beispielsweise das neu entstehende „Dachau“.

Dieses wird von Eicke als „System Dachau“ (Gerwarth, S. 93) zum Vorbild für andere Konzentrationslager ausgebaut. Zu den Merkmalen dieses "Systems" gehörten, die totale Isolation der Häftlinge, die Ausbruchssicherung um jeden Preis und die Arbeitspflicht für die Insassen.

Die Merkmale des neuen Typs von Konzentrationslager im Jahr 1933 sind dann durchaus ähnlich zu der Lage, zur Organisation und zur Funktion des Lagers auf der Haifischinsel in DSWA, folgt man der Schilderung von Erichsen. Was aber auch daran liegt, dass Konzentrationslager aufgrund ihrer funktionalen Anforderungen alle irgendwie ähnlich konzipiert sind und vermutlich auch ähnlich funktional sein müssen um ihre "Zwecke" zu erfüllen, wie beispielsweise die Lager im Rahmen des stalinistischen "Gulag-Systems".

In diesem zeitlichen und geographischen bayrischen Kontext des Jahres 1933 tritt auch wieder Röhm in Erscheinung, dessen enge Beziehung zu Epp - und seiner kolonialen Vergangenheit in DSWA - bereits geschildert worden sind.

Erstaunlich ist, dass Röhm ein sehr guter Bekannter von Heydrich war. Und nicht nur das, Röhm war auch der Pate des erstgeborenen Sohns von Heydrich, Klaus Heydrich, der am 17. Juni 1933 geboren worden ist. Neben den engen freundschaftlichen und familiären Bindungen von Heydrich mit Röhm gab es eine hohe Übereinstimmung bei den politischen Zielen, die das enge Verhältnis zusätzlich illustrieren.

„Heydrich, Himmler und Röhm waren in den ersten Monaten nach Hitlers Ernennung zum Reichkanzler enge Verbündete und bildeten eine gemeinsame Front gegen konservative und gemäßigte Nationalsozialisten“ (Gerwarth, S. 103)

Diese Periode während 1933 / 34 in Bayern bzw. München bildet dann das „Experimentierfeld“, in dem die zentralen Ideen der Repression des politischen Widerstands in Kombination mit einer rassistisch begründeten „Volksfeind-Ideologie“ rudimentär in die Praxis des Terrors umgesetzt worden sind. Und evolutionär und inkrementell in die "Endlösung" 1941/42 einmündete.

Wie gesagt, es geht um Blaupausen und um die Frage, woher und welches Wissen als explizites Wissen die Art der praktischen Umsetzung der frühen (!!) KZ beeinflußt hat. Wenn die Erfahrungen aus DSWA nicht latent oder manifest als Erzählung als Ressource nutzbar gewesen wären, dann hätte man sich an anderen historischen Vorbildern orientiert, wie beispielsweise die Lager während des Buren-Kriegs oder die Lager nach dem amerikanischen Bürgerkrieg etc..

Zudem, es geht im Rahmen dieser These auch nicht um die allgemeinen Prozesse der Radikalisierung der „Generation des Unbedingten“, wie bei Ingrao, Kühl, Mallmann oder bei Wildt beschrieben. Da wäre, wie Silesia zu Recht anmerkt, Lina von Osten (spätere Ehefrau von Heydrich) wohl die wichtigste Instanz für die politische Radikalisierung von Heydrich ist.

Ingrao, Christian (2012): Hitlers Elite. Die Wegbereiter des nationalsozialistischen Massenmords. Berlin: Propyläen.
Erichsen, Casper W. (2016): Zwangsarbeit im Konzentrationslager auf der Haifischinsel. In: Jürgen Zimmerer und Joachim Zeller (Hg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und seine Folgen. Berlin: Links, Ch, S. 80–85.
Gerwarth, Robert (2013): Reinhard Heydrich. Biographie. Unter Mitarbeit von Udo Rennert. München: Pantheon.
Kühl, Stefan (2014): Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust. Berlin: Suhrkamp
Mallmann, Klaus-Michael; Paul, Gerhard (2013): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien. Darmstadt, Germany: Primus Verlag
Wildt, Michael (2003): Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichsicherheitshauptamtes. Hamburg: Hamburger Edition
 
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Dieses wird von Eicke als „System Dachau“ (Gerwarth, S. 93) zum Vorbild für andere Konzentrationslager ausgebaut. Zu den Merkmalen dieses "Systems" gehörten, die totale Isolation der Häftlinge, die Ausbruchssicherung um jeden Preis und die Arbeitspflicht für die Insassen.

Die Merkmale des neuen Typs von Konzentrationslager im Jahr 1933 sind dann durchaus ähnlich zu der Lage, zur Organisation und zur Funktion des Lagers auf der Haifischinsel in DSWA, folgt man der Schilderung von Erichsen. Was aber auch daran liegt, dass Konzentrationslager aufgrund ihrer funktionalen Anforderungen alle irgendwie ähnlich konzipiert sind und vermutlich auch ähnlich funktional sein müssen um ihre "Zwecke" zu erfüllen, wie beispielsweise die Lager im Rahmen des stalinistischen "Gulag-Systems".

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Wie gesagt, es geht um Blaupausen und um die Frage, woher und welches Wissen als explizites Wissen die Art der praktischen Umsetzung der frühen (!!) KZ beeinflußt hat. Wenn die Erfahrungen aus DSWA nicht latent oder manifest als Erzählung als Ressource nutzbar gewesen wären, dann hätte man sich an anderen historischen Vorbildern orientiert, wie beispielsweise die Lager während des Buren-Kriegs oder die Lager nach dem amerikanischen Bürgerkrieg etc..

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Ich wollte schon lospoltern. Zum Glück erwähnst du es selbst. Konzentrationslager funktionieren nun mal alle relativ ähnlich. Wer hier eine rote Linie zwischen DSWA und den Nazis sieht,der muß schon sehr selektiv betrachten.
 
Wer hier eine rote Linie zwischen DSWA und den Nazis sieht,der muß schon sehr selektiv betrachten.

Richtig und deswegen habe ich diese selektive Verbindung für Heydrich zu Röhm und Epp als wahrscheinlich - im Rahmen seiner sozialen Netzwerke - rekonstruiert.

Sie teilen ein gemeinsames Kontinuum an direkten und indirekten Wissens- und Normenbeständen.
 
Richtig und deswegen habe ich diese selektive Verbindung für Heydrich zu Röhm und Epp als wahrscheinlich - im Rahmen seiner sozialen Netzwerke - rekonstruiert.

Sie teilen ein gemeinsames Kontinuum an direkten und indirekten Wissens- und Normenbeständen.
Silesia hatte es bereits erwähnt, hat sich dieses Kontinuum denn auch im 1. Weltkrieg bei Epp gezeigt? Wurde Epp durch den Herero-Nama-Feldzug radikalisiert und politisiert oder durch den Zusammenbruch des Kaiserreiches und den Kampf der Freikorps im Osten?
 
Silesia hatte es bereits erwähnt, hat sich dieses Kontinuum denn auch im 1. Weltkrieg bei Epp gezeigt?

Ist überhaupt nicht das Thema. Es geht nicht um "Radikalisierung", sondern um "Wissensbestände" und deren Tradierung.

Zur Frage der Radikalsierung nach dem WW1 gibt es mittlerweile eine qualitativ hochwertige Literatur zur Täterforschung, die bereits ansatzweise von Silesia und mir einbezogen wurde.

Insgesamt ist das ist ein interessantes Thema rund um die Radikalisierung der extremen Rechten im Rahmen der Freikorps, die Schwarze Reichswehr, die Geheimorganisationen (Organisation Consul etc.), das man gerne vertiefen kann.
 
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Ist überhaupt nicht das Thema. Es geht nicht um "Radikalisierung", sondern um "Wissensbestände" und deren Tradierung.
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Ach und Wissensbestände besagen jetzt was? Weil Heydrich von Epp Geschichten über DSWA gehört haben könnte, steht der Holocaust in der Kontinuität des Herero-und Namafeldzug?
 
Ach und Wissensbestände besagen jetzt was? Weil Heydrich von Epp Geschichten über DSWA gehört haben könnte, steht der Holocaust in der Kontinuität des Herero-und Namafeldzug?

Die Darstellung der These ist ausführlich vorgenommen worden. Sie können inhaltlich diskutiert werden und ich werde für Dich die Argumentation nicht wiederholen.
 
In diesem zeitlichen und geographischen bayrischen Kontext des Jahres 1933 tritt auch wieder Röhm in Erscheinung, dessen enge Beziehung zu Epp - und seiner kolonialen Vergangenheit in DSWA - bereits geschildert worden sind.

Erstaunlich ist, dass Röhm ein sehr guter Bekannter von Heydrich war. Und nicht nur das, Röhm war auch der Pate des erstgeborenen Sohns von Heydrich, Klaus Heydrich, der am 17. Juni 1933 geboren worden ist. Neben den engen freundschaftlichen und familiären Bindungen von Heydrich mit Röhm gab es eine hohe Übereinstimmung bei den politischen Zielen, die das enge Verhältnis zusätzlich illustrieren.

Diese Periode während 1933 / 34 in Bayern bzw. München bildet dann das „Experimentierfeld“, in dem die zentralen Ideen der Repression des politischen Widerstands in Kombination mit einer rassistisch begründeten „Volksfeind-Ideologie“ rudimentär in die Praxis des Terrors umgesetzt worden sind. Und evolutionär und inkrementell in die "Endlösung" 1941/42 einmündete.

Wie gesagt, es geht um Blaupausen und um die Frage, woher und welches Wissen als explizites Wissen die Art der praktischen Umsetzung der frühen (!!) KZ beeinflußt hat. Wenn die Erfahrungen aus DSWA nicht latent oder manifest als Erzählung als Ressource nutzbar gewesen wären, dann hätte man sich an anderen historischen Vorbildern orientiert,

Die Bedeutung des direkten Narrativs zu historischen Ereignissen wird einmal mehr an einer Tagebucheintrag von Graf Harry Kessler deutlich. Er ist in den Novemberwirren beauftragt, Pilsudski und Sosnkowski von Magdeburg abzuholen, nach Berlin zu bringen und von dort die Ausreise nach Polen zu ermöglichen. In Magdeburg am 8. November angekommen trifft er auf Rittmeister von Gülpen, der als Kommandant der Kraftfahrttruppe agiert.

Magdeburg 8. November 1918. Freitag
"Gülpen, ein äußerst energischer Mann, der die Armeniengreuel und den Krieg bei den Türken im Kaukasus mitgemacht hat, erbot sich, selbst zu fahren."

Während der Fahrt erzählte Gülpen über seine Kriegserfahrungen. "Auch Sosnkowski taute auf, fand Gefallen an den Erzählungen von Gülpen aus Armenien."

Vor diesem Hintergrund wußte Pulsudski bereits im November 1918 von den Ereignissen in Armenien.

Relevant sind zwei Aspekte:
- Die Bedeutung derartiger Kriegserlebnisse, die erzählt werden. Möglicherweise auch, damit Gülpen für sich die Chance hatte, das Gesehene zu verarbeiten
- Der Narrativ rund um den Genozid an den Armeniern für die Teilnehmer bzw. Beobachter so zentral ist, dass sie es weiter geben. Und somit das implizite Wissen (vgl. weiterhin als Erklärung dafür Takeuchi etc.) der deutschen Soldaten an diesen Greueln zu einem expliziten wird für andere Nicht-Teilnehmer. Auf diesem Weg konnte es bereits am Ende des Krieges explizit auch Warschau erreichen.

Das Wissen um diese Ereignisse in Armenien bedeutet für andere die Kenntnis, dass moralische Grenzen in einer ungewöhnlichen Dimension überschritten worden sind. Und das derartige Vorgehen plan- und durchführbar sind, sofern ein dezidierter politischer Wille ihre Umsetzung erzwingt.

Deswegen weiterhin die These: Der Narrativ zum System der Konzentrationslager in DSWA ist somit zentral als einzelnes Element speziell für Heydrich, das zur Gesamtheit aller weiteren Aspekte zur Endlösung gehört und nicht nur die Ideee von KL umfasst, wie Bauman es darstellt.

Auf die Ansätze im Bereich der Analyse von sozialen Netzwerken, die "Kommunikation" und Beeinflussung unterstellen, wäre als nächster Punkt einzugehen, um die spezielle Situation in München bis 1934 zu verdeutlichen. Sie werden in der Regel herangezogen um die Entstehung gemeinsamer politischer Überzeugungen zu verdeutlichen. Spielen natürlich aber auch im Bereich des HR-Managements eine zentrale Rolle


Bauman, Zygmunt (1989): Modernity and the holocaust. Cambridge: Polity.
Kessler, Harry; Pfeiffer-Belli, Wolfgang (1996): Tagebücher, 1918-1937. Frankfurt am Main: Insel

https://de.wikipedia.org/wiki/Harry_Graf_Kessler
 
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