Das heliozentrische Weltbild

Sepiola

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Hab mich mal entschlossen, einen neuen Thread aufzumachen, obwohl das Thema in verschiedenen alten Threads schon dran war.

Dass Leute wie Bonaventura oder Cusanus ein heliozentrisches Bild befürworteten, spricht für ihre geistige Unabhängigkeit, gerade bei Cusanus kann man das sehr schön sehen beim Idiota. zu dieser Zeit begann das Denken wieder einzusetzen, der Zweifel = das wissende Nichtwissen des Kues. Es ist die Zeit des Ende des MAs. Wie ich in der wikipedia lese, hatte übrigens auch noch Luther den Glauben an die Bibel (selbstverständlich!) höher angesetzt: "Dieser Dummkopf (= Kopernikus) möchte die gesamte Kunst der Astronomie verdrehen. Jedoch hat das heilige Buch uns erklärt, dass Josua die Sonne und nicht die Erde bat, still zu stehen."

Erst mal zu Bonaventura (1221-1274):

Bei ihm finde ich eine eher beiläufige Erwähnung in den "Collationes in Hexaëmeron" (Gespräche über das Sechstagewerk), das in verschiedenen Textfassungen erhalten ist, die auf Mitschriften basieren.
Die Stelle lautet:
"Considerat autem physicus duplex medium, scilicet maioris mundi et minoris mundi. Medium maioris mundi est sol, medium minoris est cor. Sol enim est in medio planetarum..."
=
"Der Physiker beobachtet aber eine doppelte Mitte, nämlich die der größeren Welt und die der kleineren Welt. Die Mitte der größeren Welt ist die Sonne, die Mitte der kleineren das Herz. Die Sonne ist nämlich in der Mitte der Planeten..."
http://www.documentacatholicaomnia....aphici_Opera_Omnia_(Quaracchi)_Vol_05,_LT.pdf

Bonaventura geht es hier allerdings nicht um naturwissenschaftliche Theorien, sondern um theologische Aussagen - die "Mitte" vergleicht er jeweils mit Christus.
 
Sehr viel interessanter ist Nikolaus Cusanus, "De docta ignorantia" ("Von der belehrten Unwissenheit").

Auch Cusanus geht es selbstverständlich um theologische Aussagen, und genaugenommen vertritt er auch kein heliozentrisches Weltbild: Das Weltall sei unbegrenzt und könne kein Zentrum haben:

"Non habet igitur mundus circumferentiam. Nam si centrum haberet, haberet et circumferentiam, et sic intra se haberet suum initium et finem, et esset ad aliquid aliud ipse mundus terminatus, et extra mundum esset aliud et locus; quae omnia veritate carent."
"Also hat die Welt keine Peripherie. Denn wenn sie ein Zentrum hätte, hätte sie auch eine Peripherie, und so hätte sie in sich ihren Anfang und ihr Ende, und die Welt wäre zu irgendetwas anderem hin begrenzt, und außerhalb der Welt wäre 'Anderes' und 'Ort'; dies alles entbehrt der Wahrheit."
(Übersetzung von mir, lateinischer Text und andere Übersetzungen siehe Cusanus-Portal)

Für Cusanus ist klar, dass die Erde sich bewegt ("Ex his quidem manifestum est terram moveri")

"Iam nobis manifestum est terram istam in veritate moveri, licet nobis hoc non appareat. Non enim apprehendimus motum nisi per quandam comparationem ad fixum. Si enim quis ignoraret aquam fluere et ripas non videret existendo in navi in medio aquae, navem quomodo apprehenderet moveri? Et propter hoc, cum semper cuilibet videatur, quod sive ipse fuerit in terra sive sole aut alia stella, quod ipse sit in centro quasi immobili et quod alia omnia moveantur, ille certe semper alios et alios polos sibi constitueret existens in sole et alios in terra et alios in luna et Marte, et ita de reliquis. Unde erit machina mundi quasi habens undique centrum et nullibi circumferentiam, quoniam eius circumferentia et centrum est Deus, qui est undique et nullibi."

"Jetzt steht für uns fest, dass diese Erde sich in Wirklichkeit bewegt, es mag uns nur nicht so erscheinen. Denn wir begreifen die Bewegung nur durch den Vergleich mit etwas Feststehendem. Wenn nämlich jemand, der sich auf einem Schiff inmitten des Wassers befindet, nicht weiß, dass das Wasser fließt und er die Ufer nicht sieht, wie kann er begreifen, dass das Schiff sich bewegt? Und deswegen, weil es immer jedem - ob er nun auf der Erde oder auf der Sonne oder auf einem anderen Stern sein wird - so scheint, als sei er selber gleichsam im unbeweglichen Zentrum und als ob alles andere sich bewegen würde, würde er sicher immer andere und wieder andere Pole für sich bilden, wenn er sich auf der Sonne befindet, andere auf der Erde, andere auf dem Mond und auf dem Mars und so weiter. Von daher wird das Weltgerüst gleichsam überall ein Zentrum haben und nirgends eine Peripherie, denn seine Peripherie und sein Zentrum ist Gott, der überall und nirgends ist."
 
Wie ich in der wikipedia lese, hatte übrigens auch noch Luther den Glauben an die Bibel (selbstverständlich!) höher angesetzt: "Dieser Dummkopf (= Kopernikus) möchte die gesamte Kunst der Astronomie verdrehen. Jedoch hat das heilige Buch uns erklärt, dass Josua die Sonne und nicht die Erde bat, still zu stehen."

Neulich hatte ich auf einen Aufsatz von Andreas Kleinert hingewiesen:
Eine handgreifliche Geschichtsl[]ge. Wie Martin Luther zum Gegner des copernicanischen Weltsystems gemacht wurde. - Kleinert - 2003 - Berichte zur Wissenschaftsgeschichte - Wiley Online Library

Der hatte 2003 prophezeit:
"Mit der 1980 erschienenen Übersetzung von Thomas S. Kuhns Copernican Revolution wurde schließlich eine neue Variante des Zitats vom Narren Copernicus geschaffen. In der Rückübersetzung aus dem Englischen heißt es nicht mehr - wie bei Aurifaber - 'der Narr', sondern 'dieser Dummkopf', und es wird sicher nicht mehr lange dauern, bis Luther auch in anderen deutschen Veröffentlichungen so zitiert wird."

(Das "Zitat", das seit über 10 Jahren auf Wiki zu lesen ist und seither hunderttausendmal kopiert wurde, ist allerdings eine holprige Übersetzung aus der englischen Wikipedia)

Wie kam es überhaupt zu dem "Narr"?

In seinen Veröffentlichungen hat Luther weder Kopernikus noch sein Weltsystem jemals erwähnt. Es existiert lediglich eine Notiz aus dem Tischgespräch vom 4. Juli 1539, bei dem neben anderen Themen auch das heliozentrische Weltbild gestreift wurde:
"De novo quodam astrologo fiebat mentio, qui probaret terram moveri et non coelum, solem et lunam, ac si quis in curru aut navi moveretur, putaret se quiescere et terram et arbores moveri. Aber es gehet itzunder also: Wer do will klug sein, der sol ihme nichts lassen gefallen, das andere achten; er mus ihme etwas eigen machen, sicut ille facit, qui totam astrologiam invertere vult. Etiam illa confusa tamen ego credo sacrae scripturae, nam Iosua iussit solem stare, non terram."
("Es wurde ein gewisser neuer Astronom erwähnt, der beweise, dass die Erde sich bewege und nicht Himmel, Sonne und Mond, und zwar wie wenn jemand, der sich in einem Wagen oder Schiff fortbewege, glaube, er ruhe und die Erde und die Bäume bewegten sich. ... so wie es jener macht, der die ganze Astronomie umkehren will. Auch wenn jene durcheinandergeraten ist, glaube ich der heiligen Schrift, denn Josua befahl der Sonne stillzustehen, nicht der Erde.")


Luther wird wohl eher gerüchtweise von dem kopernikanischen System gehört haben; einer seiner Kollegen an der Wittenberger Universität, der Mathematikprofessor Georg Joachim Rheticus war sehr an dem Thema intererssiert und befand sich auf einer Studienreise - wohl kurz vor der zitierten Tischrede war er in Frauenberg eingetroffen, um sich bei Kopernikus persönlich zu informieren.
1540 brachte Rheticus erstmalig die neue Theorie unter dem Titel "... Narratio Prima" in gedruckter Form in Umlauf. 1543 besorgte Rheticus die Drucklegung von Kopernikus' Hauptwerk "De revolutionibus orbium coelestium".

Luthers Bemerkung aus dem Jahr 1539 - vor dem Erscheinen der genannten Schriften - hat der damalige Wittenberger Diakon Anton Lauterbach in seinem Tagebuch festgehalten.
Bekannt geworden ist jedoch eine Version, die Johannes Aurifaber erstellte. Dieser war 1545/46 Luthers letzter Famulus und veröffentlichte 20 Jahre nach Luthers Tod die Tischreden.
Die Notiz Lauterbachs, der zwischen Latein und Deutsch hin- und herwechselt, hat Aurifaber komplett ins Deutsche übertragen, teils in wörtlicher Übersetzung, teils in ziemlich freier Gestaltung der Nahtstellen.
Aus dem Nebensatz "... so wie es jener macht, der die ganze Astronomie umkehren will" kreierte Aurifaber den Satz "Der Narr will die ganze Kunst Astronomiae umkehren".
 
Auf dem Gebiet der Astronomie, die Astrologie liegt nahe, war man wohl immer schon auf Verirrungen gefaßt. Michel de Montaigne sagt in der Apologie des Raimundus Sebundus: „Der Himmel und die Sterne haben sich dreitausend Jahre bewegt; alle Welt hat es so geglaubt, bis Kleanthes von Samos oder, nach Theophrast, Niketas aus Syrakus es sich einfallen ließ, daß es die Erde ist, die sich um ihre Achse bewegt … und in unserer Zeit hat Kopernikus diese Lehre so gut begründet, daß er ohne Mühe alle astronomischen Folgerungen daraus ableitet. Was sollen wir dem anderes entnehmen, als daß es uns gleichgültig sein kann, welche von beiden Lehren die wahre ist? Und wer weiß schon, ob nicht in tausend Jahren eine dritte die beiden früheren wieder umstoßen wird?“

Luther kann daran auch kein großes Interesse gehabt haben, denn für seinen großen Kommentar zur Genese war die neue Theorie für ihn so absurd, daß er sie nicht wert hielt sie überhaupt zu erwähnen. Auch andere haben sie wohl nicht ganz verstanden. Wie Conrad Gesner in seiner Bibliotheca Universalis: "Nikolaus Kopernikus aus dem Ermland hat in seinem Werk De revolutionibus orbium coelestium unternommen zu zeigen, daß die Erde sich um den unbewegten Himmel dreht … Georges Joachim Rheticus hat darüber in seiner Narratio prima publiziert.“

Wen das interessieren konnte und der etwas davon verstand war Melanchthon. Er unterstützte Rheticus mit Empfehlungsschreiben für eine Rundreise zu Astronomen in Nürnberg, Ingolstadt, Tübingen und im Frühling 1539 zu Kopernikus ins Ermland. Rheticus wußte Melanchthons Gunst zu erhalten mit der Publikation seiner Narratio prima, in der er ganz offen seine Zustimmung zur heliozentrischen Kosmologie verkündet, wo er aber auch den Zusammenhang und den Einfluß himmlischer Bewegungen mit den Nachfolgeregelungen von Monarchien feststellte - ein Thema, das, wie er wußte, Melanchthon am Herzen lag. Und das er in den Vordergrund rückte um Melanchthon für die Ideen des Kopernikus zu erwärmen.
 
Vergessene Links

Vergessen hatte ich noch den Link zu den Einträgen aus Anton Lauterbachs Tagebuch:
https://archive.org/stream/werketischreden10204luthuoft#page/412/mode/2up


Michel de Montaigne sagt in der Apologie des Raimundus Sebundus: „Der Himmel und die Sterne haben sich dreitausend Jahre bewegt; alle Welt hat es so geglaubt, bis Kleanthes von Samos oder, nach Theophrast, Niketas aus Syrakus es sich einfallen ließ, daß es die Erde ist, die sich um ihre Achse bewegt … und in unserer Zeit hat Kopernikus diese Lehre so gut begründet, daß er ohne Mühe alle astronomischen Folgerungen daraus ableitet. Was sollen wir dem anderes entnehmen, als daß es uns gleichgültig sein kann, welche von beiden Lehren die wahre ist? Und wer weiß schon, ob nicht in tausend Jahren eine dritte die beiden früheren wieder umstoßen wird?“

Der Link dazu:
Montaigne und die Moderne

Gangflow schrieb:
Luther kann daran auch kein großes Interesse gehabt haben, denn für seinen großen Kommentar zur Genese war die neue Theorie für ihn so absurd, daß er sie nicht wert hielt sie überhaupt zu erwähnen.
Kleiner Übersetzungfehler: "Genese" muss natürlich "Genesis" (frz. "Genèse") heißen.

Hier der Originaltext von Michel-Pierre Lerner:

"... comment expliquer le silence du réformateur sur cette théorie absurde dans ses écrits postérieurs à la publication de la Narratio prima en 1540 et du De revolutionibus en 1543, notamment dans son grand commentaire sur la Genèse? Il n’y a pas grand risque de se tromper à inférer de ce silence de Luther dans les années 1540, à défaut d’une ignorance complète de l’hypothèse héliocentrique, en tout cas de l’indifférence, sinon du mépris, à l’égard d’une doctrine tellement absurde qu’elle ne mériterait même pas d’être mentionnée."

https://www.cairn.info/revue-des-sciences-philosophiques-et-theologiques-2006-3-page-409.htm

Hier wird übrigens die Frage diskutiert, ob Luther mit dem "neuen Astronom" überhaupt Kopernikus gemeint habe. Auch Celio Calcagnini wäre denkbar, der um 1525 eine Schrift "Quod coelum stet, terra moveatur, vel de perenni motu terra" verfasst hat.
 
Unter "Celio Calcagnini“ findet man seine Theorie als "unbestimmt, undeutlich“:

His Quod Caelum Stet, Terra Moveatur is a precursor of the De Revolutionibus of Copernicus, though A. C. Crombie qualifies his rotational theory as "vague", and is often dated to about 1525.

Und hier ist da Erscheinungsjahr im Druck mit 1544 angegeben:

La teoria fu pubblicata nel trattato Quod caelum stet, terra vero moveatur, vel de perenni motu Terrae all'interno dell'Opera aliquot (1544), ma già formulato intorno al 1525.

https://books.google.de/books?id=37w_AAAAcAAJ&pg=PP9&redir_esc=y#v=onepage&q&f=false

Das wäre für das Tischgespräch vom 4. Juli 1539 zu spät. Wie hätte Luther früher davon erfahren können und wollen. Es interessierte ihn ja nicht so direkt.
 
Das wäre für das Tischgespräch vom 4. Juli 1539 zu spät. Wie hätte Luther früher davon erfahren können und wollen. Es interessierte ihn ja nicht so direkt.
Dasselbe Problem wie bei Kopernikus. Sein Buch ist 1543 erschienen, die Narratio des Rheticus 1540. Wer das Thema aufgebracht hat (Luther oder einer seiner Gesprächspartner) und woher dieser sein Wissen hatte (vielleicht nur über Gerüchte), lässt sich leider nicht mehr feststellen.
 
In Zeiten vor Luther haben sich sicher viele gescheite Leute neue Gedanken über ein heliozentrisches Weltbild gemacht. Hier habe ich einen Denker aus dem 14. Jahrhundert gefunden:

Nikolaus von Oresme (1330 -1382). Er war Bischof und einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler und Philosophen des 14. Jahrhunderts.

"Oresme soutient que les raisons proposées par la physique aristotélicienne contre le mouvement de la Terre sont irrecevables. Il affirme qu’aucune expérience ne peut décider si les cieux se déplacent d’est en ouest ou si c'est la Terre qui se déplace d’ouest en est, car l’expérience sensible ne peut jamais établir plus d’un mouvement relatif. Bien avant Copernic, il soutient la théorie du mouvement de la Terre et non des cieux, en s'appuyant sur l’argument de la simplicité. Il revient sur la question dans Le livre du Ciel, cherchant à harmoniser philosophie et théologie : ne pouvant prouver le mouvement de la Terre, « Oresme a finalement rejeté la cosmologie de la rotation terrestre en faveur de laquelle il avait apporté tant d'arguments ».

"In his Livre du ciel et du monde Oresme discussed a range of evidence for and against the daily rotation of the Earth on its axis.[10] From astronomical considerations, he maintained that if the Earth were moving and not the celestial spheres, all the movements that we see in the heavens that are computed by the astronomers would appear exactly the same as if the spheres were rotating around the Earth. He rejected the physical argument that if the Earth were moving the air would be left behind causing a great wind from east to west. In his view the Earth, Water, and Air would all share the same motion. As to the scriptural passage that speaks of the motion of the Sun, he concludes that "this passage conforms to the customary usage of popular speech" and is not to be taken literally. He also noted that it would be more economical for the small Earth to rotate on its axis than the immense sphere of the stars. Nonetheless, he concluded that none of these arguments were conclusive and "everyone maintains, and I think myself, that the heavens do move and not the Earth.

Gutenberg hatte den Druck noch nicht erfunden und jeder, der in „frommen“ Klosterschreibstuben schreiben ließ, tat gut daran, sich in einem Schlußsatz von seinen neuen Gedanken zu distanzieren um damit zu zeigen, daß er noch „auf Linie“ war.
 
Nikolaus von Oresme (1330 -1382). Er war Bischof und einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler und Philosophen des 14. Jahrhunderts.
Kleriker waren sie alle.
Bonaventura war Generalminister des Franziskanerordens, Kardinal und wäre beinahe Papst geworden.
Auch Cusanus brachte es zum Kardinal, bei der Papstwahl 1447 soll er einige Stimmen erhalten haben.
Kopernikus war "nur" Domkapitular.

Gutenberg hatte den Druck noch nicht erfunden und jeder, der in „frommen“ Klosterschreibstuben schreiben ließ, tat gut daran, sich in einem Schlußsatz von seinen neuen Gedanken zu distanzieren um damit zu zeigen, daß er noch „auf Linie“ war.
Was die englische Wiki hier zitiert, ist noch nicht der Schluss. Der lautet so:

"... und ich schliesse mich dem an, dass der Himmel sich bewegt und die Erde nicht: Gott nämlich machte den Erdkreis fest, damit er nicht wanke, trotz gegenteiliger Argumente, denn sie sind [bloss] Überzeugungen, die nicht zwingend zu Schlüssen führen. Wenn man aber all das bedenkt, was gesagt wurde, könnte man glauben, dass die Erde sich auf diese Weise bewegt und der Himmel nicht, und für das Gegenteil gibt es keinen Beweis. Dennoch scheint dies auf den ersten Blick ebenso oder mehr gegen die natürliche Vernunft zu sein als unsere Glaubensartikel im Ganzen oder grossenteils. Und so kann alles, was ich in dieser Weise zum Vergnügen gesagt habe, dazu dienen, diejenigen, die unseren Glauben mit Vernunftgründen bekämpfen wollen, zu widerlegen und zurückzubinden."

(zit. nach Hans Bieri, Der Streit um das kopernikanische Weltsystem im 17. Jahrhundert, Bern 2007)

Von einem heliozentrischen Weltsystem ist aber auch bei Oresme eigentlich nicht die Rede.
Hier geht es um die Eigenrotation der Erde, nicht um die Bewegung der Erde und der anderen Planeten um die Sonne.


Nochmal zur Verbreitung der Ideen des Kopernikus vor 1540:

Auch wenn Kopernikus sein Hauptwerk lange Zeit nicht als druckreif ansah, hat er doch einen handgeschriebenen Commentariolus verfasst, der schon längere Zeit in Kollegenkreisen kursiert.

Johann Albrecht Widmannstetter, Sekretär des Papstes Clemens VII., konnte seinem Chef bereits 1533 in den Vatikanischen Gärten einen Vortrag über die kopernikianische These halten ("in hortis Vaticanis Copernicianam de motu terrae sententiam explicavi").
 
Zuletzt bearbeitet:
Luthers Einwand "... glaube ich der heiligen Schrift, denn Josua befahl der Sonne stillzustehen, nicht der Erde" wurde schon von Oresme auseinandergenommen:

"Zum sechsten Argument sagt die heilige Schrift, dass die Sonne sich dreht etc.: Dazu könnte man sagen, dass sich die heilige Schrift an dieser Stelle dem allgemeinen Brauch menschlicher Rede anpasst, wie sie es auch an andern Stellen macht, wie etwa dort, wo geschrieben steht, Gott habe bereut, der Zorn habe ihn gepackt und er habe sich wieder besänftigt und ähnliche Dinge, die durchaus nicht so gemeint sind, wie sie buchstäblich lauten.
...
Auf das siebente Argument könnte man etwa ähnlich antworten, dass die Sonne zur Zeit Josuas still stand und zur Zeit Ezechias rückwärts lief, und das alles entsprechend der Erscheinung. Aber in Wahrheit stand zur Zeit Josuas die Erde still und rückte vor oder beschleunigte ihre Bewegung zur Zeit Ezechias, was in Bezug auf die Wirkung, die sich daraus ergab, keinen Unterschied ausmachte. Und diese Möglichkeit scheint vernünftiger als die andere, wie danach erklärt werden wird."


(Nebenbei: Die Diskussion über die Erdrotation hat nicht Oresme aufgebracht, dazu hatte sich bereits sein Lehrer Jean Buridan geäußert: Jürgen Teichmann, Wandel des Weltbildes.)


Ähnlich argumentiert der Karmeliterpater und Theologieprofessor Paolo Antonio Foscarini in seiner 1615 verfassten theologischen Stellungnahme zum kopernikianischen Weltsystem. Er kam zum Schluss, dieses sei sehr wohl mit einem richtigen Verständnis der Bibel vereinbar.

Trotzdem wurde Foscarinis Ansicht von der Kongregation der römischen und allgemeinen Inquisition 1616 verworfen - mit Berufung auf die traditionelle Auslegung:

Das Hauptargument von 1616 war aber, dass die Lehre vom Stillstand der Sonne »den Äußerungen der Heiligen Schrift an vielen Stellen nach dem Wortlaut und nach der übereinstimmenden Auslegung und Auffassung der heiligen Väter und der theologischen Doktoren
ausdrücklich widerspricht.« Das ist ein tridentinisches Argument. Das Trienter Konzil der Gegenreformation hat auf der 4. Sitzung 1546 ausdrücklich die eigenmächtige Schriftauslegung verboten, unter dem Eindruck der reformatorischen Kirchenspaltung, die aus eigenmächtiger Schriftauslegung hervorgegangen sei.
...
Es ist dagegen nicht ebenso plausibel, dass der tridentinische Kanon zum Dekret von 1616 führen musste.
...
Augustin mahnt grundsätzlich zur Vorsicht bei der Auslegung von dunklen Textstellen der Bibel, damit wir nicht aufgrund unserer Vorurteile der Wahrheit widersprechen, wenn sie ans Licht kommt.
...
Augustin und andere Kirchenväter haben solche Auslegungsgrundsätze entwickelt, weil auch sie bereits mit einer Weltbilddifferenz zu tun hatten, nämlich der zwischen den mythischen Kosmosvorstellungen des Alten Testaments und dem rationalen Weltbild der hellenistischen Wissenschaften. Das ptolemäische Weltbild, namentlich die Kugelgestalt der Erde, ist ja bereits eine Korrektur des Augenscheins naiver Weltwahrnehmung aus empirischen und rationalen Gründen. Die Kirchenväter waren sich weitestgehend einig, dass biblische Texte, die etwa von den Säulen der Erde sprechen, insoweit nicht wörtlich verstanden werden dürfen. Diese Auslegungsgrundsätze aus der Bearbeitung jener Weltbilddifferenz waren damals theologisches Allgemeingut. Bellarmin bezieht sich auf sie [27] ebenso wie Conti.[28] Aber auch Luther [29] kennt sie und argumentiert mit ihnen. Wenn es Beweise für die Beschaffenheit eines natürlichen Phänomens gibt, darf man nicht den Wortlaut der Bibel dagegen ins Feld führen, sondern muss sagen, sie spricht nach der Meinung des Volkes. Gegen die Anwendung dieses Grundsatzes auf den Copernicanismus machen die Inquisitoren erstens geltend, dass ein zwingender Beweis bisher nicht vorliegt, womit sie Recht hatten.[30] Zweitens haben sie aus wissenschaftstheoretischen Gründen einen solchen Beweis für prinzipiell unmöglich gehalten, womit sie im Irrtum waren. Deshalb sahen sie sich ermächtigt zu einer Zensur in der Philosophie. Statt dieser Neuerung hätten sie 1616 auch bei den altbewährten hermeneutischen Regeln bleiben können, unter deren Schutz der Copernicanismus 73 Jahre lang unbehelligt geblieben war.
Richard Schröder: Warum wurde Galilei verurteilt?
 
Auf dem Gebiet der Astronomie, die Astrologie liegt nahe, war man wohl immer schon auf Verirrungen gefaßt. Michel de Montaigne sagt in der Apologie des Raimundus Sebundus: „Der Himmel und die Sterne haben sich dreitausend Jahre bewegt; alle Welt hat es so geglaubt, bis Kleanthes von Samos oder, nach Theophrast, Niketas aus Syrakus es sich einfallen ließ, daß es die Erde ist, die sich um ihre Achse bewegt ….....

Das wundert mich, bisher hatte einen "Kleanthes" nicht auf dem, zugegeben blassen, Schirm.
Vielleicht irrt sich der Zitierte?
Denn nach dieser Quelle hat der Kleanthes den Aristarch dieser Sichtweise beschuldigt, und diese nicht etwa selbst vertreten.
Und der Aristarch ist, so ich es verstehe, der Urheber des Gedankens.

(Jedenfalls ein interessanter Thread. Kompliment.)
 
Ja, da irrt sich Montaigne, und Hatl hat recht.

Quelle für die Kleanthes-Sache ist Plutarch, De facies in orbe lunae 6

"Klag mich nicht wegen Religionsfrevel an, mein Lieber, wie es einst Kleanthes vorgenommen hatte, als er ganz Griechenland zur Anklage gegen Aristarch von Samos aufrief, weil der Mann die Phänomene zu retten gesucht, indem er den Herd des Kosmos in Bewegung brachte, den Himmel aber ruhen und die Erde sich auf einem schiefen Kreis fortrollen und zugleich um ihre eigene Achse wirbeln ließ." (zit. nach Jürgen Hamel, Nicolaus Copernicus, Heidelberg/Berlin/Oxford 1994, S. 58f)

Nach Plutarch, Platonicae questiones 8 habe Aristarch die Erdrotation vorgeschlagen, Seleukos habe sie "bewiesen":

http://www.perseus.tufts.edu/hopper/text?doc=Perseus:text:2008.01.0384:chapter=8

http://www.perseus.tufts.edu/hopper/text?doc=Perseus:text:2008.01.0383:chapter=8

Was genau Seleukos von Seleukeia bewiesen hat, wissen wir leider nicht:
http://www.persee.fr/doc/antiq_0770-2817_2005_num_74_1_2566
 
Zuletzt bearbeitet:
Für Michel Montaigne war wohl weniger von Bedeutung, ob sich die physikalischen Grundlagen der neuen „Weltsicht“ so oder so manifestierten, sondern, daß die Erde nun aus dem Zentrum rückte. Das Zentrum war nicht unbedingt ein erstrebenswerter Ort im Denken der Zeit, wie Ernst Peter Fischer ausführt (Seite 63):

https://books.google.de/books?id=L5...aigne Verständnis des Heliozentrismus&f=false

Von Montaigne schreibt er: „Er sagt, der Mensch - vor Kopernikus - war untergebracht „im Schlamm und Kot der Welt, … im niedrigsten Stock des Hauses, am weitesten vom Himmelsgewölbe entfernt“, bis ihn das heliozentrische Schema in engere Tuchfühlung mit den Göttern brachte, …"
 
Für Michel Montaigne war wohl weniger von Bedeutung, ob sich die physikalischen Grundlagen der neuen „Weltsicht“ so oder so manifestierten, sondern, daß die Erde nun aus dem Zentrum rückte. Das Zentrum war nicht unbedingt ein erstrebenswerter Ort im Denken der Zeit, wie Ernst Peter Fischer ausführt (Seite 63):
Fischer listet drei ärgerliche "Grundirrtümer" auf, dazu will ich auch noch meinen Senf geben:

1. "die Mär, dass Kopernikus in seinem Schema mit weniger Hilfskonstruktionen des Ptolemäus auskommt und zuzgleich genauer als sein antiker Vorgänger die zahlreichen Himmelbewegungen vorhersagen kann."

Richtig ist, dass auch das kopernikianische System einen großen Grundfehler hatte: Kopernikus ging von kreisförmigen Planetenbahnen aus. Erst Kepler kam (aufbauend auf die peniblen Beobachtungen Tycho Brahes) auf die ellipsenförmigen Bahnen, die ohne diese Hilfskonstruktionen auskamen.
Ob das Schema des Kopernikus gleich schlecht war wie seine Vorgänger, kann ich nicht beurteilen. Allerdings wurden seine Berechnungen von den damaligen Fachleuten offensichtlich positiv aufgenommen. Obwohl fast niemand an das heliozentrische System glaubte, war man doch der Meinung, dass man damit gut rechnen könne:
"Die vielfache Erwähnung von Copernicus in der Literatur führt zwingend zu dem Schluß, daß er in den akademischen Vorlesungen vielfach, unter Anerkennung seiner mathematischen Darstellung der Planetenbewegung behandelt wurde. Den Heliozentrismus als kosmologisches Modell dagegen wies man mit den aristotelischen und theoretischen Standardargumenten zurück, oder überging ihn in den meisten Fällen mit Schweigen...
...
Die Rezeption beschränkte sich im Sinne des Osianderschen Vorworts auf die zu einer mathematischen Hypothese reduzierte Planetentheorie." (Hamel, S. 261 und S. 265)


2. "
Die Behauptung, Kopernikus habe die Menschen erniedrigt, kann nur aufstellen, wer das Zentrum für einen bevorzugten und erstrebenswerten Ort ansieht"
Als Kommentar zwei Strophen eines Luther-Liedes:

"Der Sohn des Vaters, Gott von Art,
Ein Gast in der Welte ward
Und führt uns aus dem Jammertal,
Er macht uns Erben in seim Saal.


Er ist auf Erden kommen arm,
Daß er unser sich erbarm
Und in dem Himmel machet reich
Und seinen lieben Engeln gleich."
Martin Luther: Kirchenlieder von Martin Luther - Text im Projekt Gutenberg


3.Das kirchliche Verbot von 1616 habe "nichts damit zu tun, dass die Lehre des Kopernikus eine Gefahr für irgendein Dogma darstellen würde. Die päpstlichen Hüter der Lehre waren berechtigterweise über etwas ganz anderes besorgt, nämlich die unvorstellbar große Zahl der Fehler, die sich in dem Buch fanden [...] Es ging also um Fehler, nicht um Irrtümer."

Nach meinem Verständnis ging es durchaus ganz konkret um jene "falsche pythagoreeische und gänzlich der göttlichen Schrift widersprechende Lehre über die Bewegung der Erde und der Unbeweglichkeit der Sonne, welche Nikolaus Kopernikus in den 'Umdrehungen der himmlischen Sphären' und Diego Zúñiga in 'Job' lehren".
(... falsam illam doctrinam Pithagoricam, divinaeque scripturae omnino adversantem, de mobilitate Terrae, & immobilitate Solis, quam Nicolaus Copernicus de revolutionibus orbium coelestium, & Didacus Astunica in Iob etiam docent)
Testo del Decreto, 5 marzo 1616 | DISF.org

Wobei die genannten Bücher nicht in Bausch und Bogen verdammt wurden, sondern "bis zu ihrer Korrektur suspendiert" wurden.
Verboten hingegen wurde die oben erwähnte Schrift Foscarinis!

Zúñiga hatte die Auffassung vertreten, das kopernikianische System sei physikalisch unmöglich (Philosophiae prima pars, 1597), es würde aber nicht der korrekten Bibelinterpretation widersprechen (Kommentar zu Job, 1584). (Stephen Gaukroger, The Emergence of a Scientific Culture, Oxford 2006, S. 126)
 
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