E. Gibbon, selbst eine historische Figur

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Misanthrop

Gast
Hallo Leute,

Gibbon ist heute bekannt dafür, dass er ein Büchlein über die römische Geschichte geschrieben hat. Vielleicht der "Vater der modernen Geschichtswissenschaft"; freilich dies in einem Zeitalter, in dem die Idee schon in der Luft lag, siehe D. Hume usw.

Inzwischen ist Gibbon allerdings durch den Abstand von über 200 Jahren und der Tatsache, dass sein Buch über Generationen gelesen wurde und dabei durchaus Politiker, Schriftsteller und weitere Historiker beeinflusst hat, selbst zu einer historischen Figur geworden.
Gerne nehme ich daher die Pflicht auf mich, diesen herausragenden Autor einen eigenen Thread zu widmen.

Die heutige Beurteilung des Werkes von Gibbon ist meines Wissens durch zwei Hauptkritikpunkte geprägt:
  1. Er stützt sich im Gegensatz zu den heutigen Historikern fast ausschließlich auf schriftliche Quellen.
    Dies sei im historischen Kontext seiner Zeit zwar erklärbar, aber dennoch ein Markel seines Werkes. Damals gab es wohl noch keine richtig wissenschaftlich arbeitende Archäologie, auf die er sich in seiner Arbeit stützen konnte.
    Dafür gebührt ihn der Ruhm, nicht einfach von anderen Quellen abgeschrieben zu haben, sondern diese systemtaisch gesammelt und ausgewertet zu haben; heutige Quellenkritik steckte noch in den Kinderschuhen
  2. Seine Beurteilung von Ostrom als orientalische Despotie, seine Dekadenztheorie, der er laut Wikipedia allerdings selbst widersprach und generell seine Wertungen scheinen nicht durchweg angemessen.
    Ich weiß nicht, in wie weit ihn seine Zeit da entschuldigt. Man darf diesen Autor jedenfalls nicht wegen politischer Entwicklungen, die erst viel später folgten, beurteilen.
Jetzt gibt es auch ein paar Dinge, die ich nicht ganz verstehe, bzw, die ich einordnen könnten möchte:
1. Hume hat bekanntlich auch an einer Geschichte Englands gearbeitet. Wie ist da der Einfluss zu sehen? Wie unterschied er sich von diesem Autor?
2. Welche Rolle hatte der Historiker überhaupt?
Soweit ich weiß hat sich die Funktion und Aufgabe des Historikers historisch (geiler Wortwitz?) doch sehr gewandelt.
3. Eine interessante Frage ist auch, welchen Einflüssen das Werk eines Autors unterlag, auch Historiker sind ja keine aus der Zeit gefallenen (auch wenn das manchmal unterstellt wird), neutralen Beobachter, sondern Zeitgenosse.
Ich habe diese Frage mal in drei Teile aufgesplittet.
3.1.Welchen Einfluss hatten andere Geschichtsschreiber auf sein Werk?
Beispielsweise den "Historischer Pyrrhonismus"?
Teilweise werden seine Quellen ja ihrerseits ein Geschichtsbuch geschrieben haben und wollten darin z. B. Augustus verherrlichen.
3.2. Welchen Einflüssen in Sachen Literatur und Philosophie seiner Zeit unterlag der Autor?
Aufkommende Romantik, Aufklärung und der englische Empirismus werden doch sicherlich eine Rolle gespielt haben. Bei einem gebildeten Mann, der immerhin auch mehrfach die Religion gewechselt hat ist so eine geistige Beschäftigung doch zu erwarten, oder?
3.3. Welchen politischen Einflüssen seiner Zeit unterlag der Autor?
Gibbon war ein Mitglied des englischen Parlaments für einige Sitzungsperioden. Er gehörte den Whings an, also nach heutigen Maßstäben den linken, den liberalen Flügel; dabei war er als Landadliger eigentlich doch eher ein Mandant der Torys, die die Interessen des Landadels vertraten.
4. Als vierten und letzten Punkt frage ich nach den übrigen Werken von Gibbon.

Natürlich, man schreibt kein mehrbändiges Werk, wertet systematisch Quellen aus und geschreibt über tausende Druckseiten, nur um eine politische Polemik abzufassen. So funktioniert der Mensch nicht und das hätte man damals sicherlich billiger haben können.
 
3. Eine interessante Frage ist auch, welchen Einflüssen das Werk eines Autors unterlag, auch Historiker sind ja keine aus der Zeit gefallenen (auch wenn das manchmal unterstellt wird), neutralen Beobachter, sondern Zeitgenossen.

In der Tat wollte vor einigen Jahren mal ein Universitätsrektor - natürlich ein Wirtschaftswissenschafler - die Alte Geschichte seiner Universität einstampfen, mit dem Argument, dass diese doch mittlerweile ausgeforscht sein müsse. Natürlich geht das so nicht, weil die Geisteswissenschaften anders funktionieren als die Naturwissenschaften. Die Geistes- und Kulturwissenschaften sind viel mehr von aktuellen Strömungen beeinflusst, man denke an Sozialgeschichte, Geschlechtergeschichte oder Umweltgeschichte, die alle an zeitgeistigen Strömungen hängen. Bei den Naturwissenschaften gibt es messbare Wissensfortschritte (die auch z.T. zeitgeistabhängig sind), bei den Geistes- und Kulturwissenschaften verändern sich die Fragestellungen. Und ein guter Geisteswissenschaftler weiß auch immer, dass er ideologisch gebunden ist und niemals objektiv sein kann. Er bemüht sich also um Intersubjektivität und unterzieht sich selbst einer Ideologiekritik.
 
Und ein guter Geisteswissenschaftler weiß auch immer, dass er ideologisch gebunden ist und niemals objektiv sein kann. Er bemüht sich also um Intersubjektivität und unterzieht sich selbst einer Ideologiekritik.

Ich möchte noch mal einhacken, denn ich will den Bogen zum Thema schlagen:
So sehen wir die Historiker heute, so sah man das wohl schom im 19. Jahrhundert:
"Die Philologie als Wissenschaft um das Altertum hat natürlich keine ewige Dauer, ihr Stoff ist zu erschöpfen. Nicht zu erschöpfen ist die immer neue Akkommodation jeder Zeit an das Altertum, das Sichdaran-Messen. Stellt man dem Philologen die Aufgabe, seine Zeit vermittels des Altertums besser zu verstehen, so ist seine Aufgabe eine ewige."
Quelle: Friedrich Nietzsche, "Wir Philologen", aus dem Nachlass publiziert, Entstehungszeit im Internet mit 1874/75 angegeben.

Wie aber sah man diese Thematik zur Zeit von Gibbon? Immerhin, auch unser Verständnis der Wissenschaften und ihrer Bedeutung wird sich doch geändert haben. Soweit ich weiß, war die Geschichte in der Antiken Welt ja etwas völlig anderes (eine Art "Reiseliteratur") undhatte eine Muse. Noch bis ins 20. Jahrhundert, wurde Geschichte als eine Form der Literatur betrachtet, weil sich sowohl das Wort Literatur als auch die Stellung der Geschichte verändert haben.
Nehmen wir doch den Nobelpreis: Mommsen, nicht grade das, was man erwartet, wenn man ins Literaturregal greift; B. Russells Geschichte der abendländischen Philosophie (okay, für die Philosophiegeschichte sind die Philosophen weitgehend selsbt zuständig); Churchill.

Mir ging es auch darum in diesem Thread.
 
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1. Hume hat bekanntlich auch an einer Geschichte Englands gearbeitet. Wie ist da der Einfluss zu sehen? Wie unterschied er sich von diesem Autor?

Der Einfluss ging hauptsächlich von Hume auf den 26 Jahre jüngeren Gibbon aus. Der Engländer bewunderte im Schotten den „philosophischen Historiker“ und nannte ihn einen „Tacitus von Schottland“ mit Anspielung auf Humes politiktheoretische und historiographische Kompetenzen. Dazu muss man wissen, dass Hume Tacitus für das vielleicht größte Genie der Antike hielt. In seinem Werk über die Geschichte des RR zitiert Gibbon aus mehreren von Humes Werken, darunter dessen „History of England“. Den größten Einfluss auf Gibbon hatte Hume mit diesem Werk und seinen „Dialogen über natürliche Religion“.

Gibbons Auffassung, dass das RR seinen Fall seiner Eroberungssucht, Überexpansion und kulturellen Dekadenz verdankt, geht auf den genialen Machiavelli zurück, den meines Erachtens eigentlichen ´Godfather´ oder auch Copernicus der modernen Geschichtsschreibung, der sich zu diesem Urteil durch Tacitus´ Pessimismus inspirieren ließ. Ebenso wie Machiavelli verbindet auch Gibbon den Untergang Roms kausal mit dem Aufstieg des Christentums, was für beide Historiker einen für sie bedauerlichen Verfall antiker Kultur und Werte involviert.

Vorbildlich waren für Gibbon Humes Naturalismus, seine anti-metaphysisch-theologische Skepsis und seine pessimistische Sicht auf die menschliche Natur. Als seine bedeutendsten Anreger bezeichnete Gibbon Tacitus, Thukydides und eben David Hume.

Gemeinsam war Hume und Gibbon die kritische Sicht auf das historische Christentum, was, wie schon angedeutet, ebenfalls von Machiavelli vorexerziert worden war. Die Einflusskette verläuft hier so: Machiavelli – Hume – Gibbon. Humes christentumkritische Haltung war durch Machiavellis Werke geprägt, wie explizite Bezugnahmen in Humes Werken belegen, auch wenn es im Detail Differenzen gibt.

Damit leisteten die drei – bedenkt man ihre Wirkungsgeschichte - einen wesentlichen Beitrag zur Säkularisierung der abendländischen Kultur. In welchem Maße sie atheistisch waren, lässt sich kaum noch mit Sicherheit feststellen. Zu Machiavellis Zeit wäre ein solches Bekenntnis tödlich gewesen – fest steht nur, dass er ein positiv konnotiertes Urchristentum einer negativ konnotierten katholischen Kirche als Kontrast gegenüberstellte; bei Hume und Gibbon ist kaum entscheidbar, ob sie atheistisch oder ´nur´ agnostisch waren. Letzteres scheint zumindest bei Gibbon wahrscheinlich zu sein.
 
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