Warum sind im 19. Jahrhundert so viele Sekten entstanden?

Sind es "so viele" im Vergleich, oder ist das auch eine quantitativ/qualitative Frage von Verbreitungsmöglichkeiten, Verbreitungsgeschwindigkeiten, Adressaten/Umfang des potenziellen "Publikums"?

Ich weiß nicht, wie man das quantifizieren will. Als wie viele "Sekten" zählen "die Mormonen"?

Und wie soll man einen Guido (von) List einordnen? Der von ihm gegründete "Hohe Armanen-Orden" hatte nur wenige Mitglieder und bestand nur wenige Jahre. (Eine Nachfolgeorganisation wurde laut Wiki 1976 gegründet.)
Aber was besagt das über seinen Einfluss? Sein Runenbuch verkauft sich anscheinend immer noch gut, seine sonstigen Ideen spuken offen oder verdeckt in populären Werken herum und werden bereitwillig auch von Leuten rezipiert, die von sich sagen, dass sie mit "rechts" oder "esoterisch" gar nichts am Hut haben.

Was hier dem universitär Gebildeten wie eine Schrulligkeit überdrehter Heimatkundler erscheinen mag und möglicherweise nur ein herablassendes Lächeln entlockt, entfaltet eine gesellschaftliche Breitenwirkung, welche möglicherweise bereits stärker ist als die Rezeption akademischer Schriften. Es ist anzunehmen, dass dieser Unsinn seinen Weg in die Schulen findet. Es ist nicht erstrebenswert, wenn Schülern erklärt wird, altertümliche Dialektwörter seien direkt von den Kelten in ihre Muttersprache gekommen und überall würden Flurnamen auf eine geheimnisvolle Religion hinweisen. Es wird so die Einschätzung der Vergangenheit völlig verzerrt und eine Realitätsferne in die Bildung eingebracht, wo gerade eine Realitätsnähe herrschen sollte. Soweit ich es einschätzen kann, ist der Zenit dieser Entwicklung noch nicht erreicht. Das Buch von Inge Resch-Rauter ist nur ein Beispiel von mehreren.
Auch der im 19. Jahrhundert tätige und bis in den Nationalsozialismus sehr einflussreiche deutschvölkische Esoteriker Guido von List steht wieder hoch im Kurs. Viele seiner Vorstellungen und Deutungen finden sich in der aktuellen esoterischen Literatur mehr oder weniger verhüllt wieder. (Karl Hohensinner 2015)


http://stifterhaus.at/fileadmin/user_upload/Downloads/Aufsatz_Flurnamen_2015.pdf
 
Ich wollte das nicht ernsthaft quantifizieren, es ist eher ein Bauchgefühl, dass es die Kuriositäten, Absurditäten & Co. immer gab, und sich die Wahrnehmungen relativ nach Verbreitungsmöglichkeiten darstellen.

Es gab doch jüngst eine psychologische Gruppen-Studie, die sich mit "Erfolgschancen" im Glauben an Verschwörungen etc. beschäftigt. Mit dem Grad an Absurdität korrelierte das nach meiner Erinnerung nicht negativ.
 
Der orientalistische Blick in die Ferne und die Schwärmerei für das Alte Ägypten, Indien oder die Arier ist ohne den Imperialismus des 19. Jahrhunderts undenkbar. Jedenfalls waren die indischen Religionen ebenso wie das Alte Ägypten in Europa vor dem 19. Jahrhundert nahezu unbekannt und die Eroberung Ägyptens und Indiens ist der direkte Auslöser für die Schwärmereien.

Gleichzeitig boten die neu eroberten Gebieten Rückzugsorte für die Aussteiger. Am weitesten (bis auf das Bismarck-Archipel im Südpazifik) ist August Engelhardt mit seiner Kokos- und Sonnensekte gekommen.

Beachtenswert ist auch die schnelle und weite Verbreitung der Theosophie über die USA, mehrere europäische Länder und schließlich Britisch-Indien. Ein Massenphänomen wurde sie allerdings nirgends.
 
Der orientalistische Blick in die Ferne und die Schwärmerei für das Alte Ägypten, Indien oder die Arier ist ohne den Imperialismus des 19. Jahrhunderts undenkbar. Jedenfalls waren die indischen Religionen ebenso wie das Alte Ägypten in Europa vor dem 19. Jahrhundert nahezu unbekannt und die Eroberung Ägyptens und Indiens ist der direkte Auslöser für die Schwärmereien.

Der "orientalistische Blick" in die Ferne vielleicht, was aber Orientfaszination für sich genommen angeht, diese ist doch als wesentlich älter einzustufen und kippte vor allen Dingen im 18. und 19. Jahrhundert eher ins Negativbehaftete, im Vergleich mit dem voraufklärerischen und vorindustriellen Orientbild.
 
Um die "weite Verbreitung der Theosophie über die USA" einmal zu unterlegen bzw. quantifizieren:

"Beginning with 14 lodges, the American society reached a membership peak in the late 1920s of around 8,000. During these years the society was led internation- ally by Annie Besant (1847–1933), who had succeeded first Blavatsky and then Olcott in the top leadership positions of the society and the Esoteric Section. The low point of the society came as World War II began, when membership was slightly more than 3,000. It resumed a slow growth after the war and reached a second peak in 1972 with more than 6,000 members." (Das betrifft eine Hauptgruppe, Theosophical Society in America)

Beim Temple of the People kann man in der Spitze von 300 Anhänger ausgehen, bei der Theosophical Society (Hartley) von 5 Logen, also vielleicht einigen hundert Mitgliedern. (das sind einige Abspaltungen)
Bei der Theosophical Society/Pasadena werden keine belastbaren Zahlen benannt, nach der Organisation kann man aber auch einige tausend schätzen, allerdings nach den publizistischen Aktivitäten wie eine sehr viel größere Leserschaft als "Konsumenten". Dann gibt es noch die United Lodge of Theosophists, mit ca. 10 Logen und Studentengruppen, also nochmal vielleicht ein paar tausend Mitglieder. Upper Triad Association sowie The Word Foundation, Inc. verfügen über einige Hundert.

Quelle: Melton’s Encyclopedia of American Religions, 8th edition 2009, S. 710-714.

Vielleicht soll auch unscharf an die Verbreitung von Schriften angeknüpft werden. Nicht jeden Leser sollte man gleich für eine harte Anhängerschaft reklamieren und in die Kollekte der Gefolgschaft werfen.
 
Mit weiter Verbreitung meinte ich nicht die Breitenwirkung, sondern viel mehr die geografische Streuung als weltweites Phänomen.
Neben den Zeitschriften ist auch die Reisetätigkeit der Aktivisten ursächlich für die weltweite Verbreitung.

Konsument kann man auch wörtlich nehmen. Eigentlich ist jeder Reformhauskunde und Waldorf-Schüler ein Konsument der Anthroposophie.
 
Zuletzt bearbeitet:
Weil weite Verbreitung für Leser mehrdeutig war, bin ich auf Mitgliederschaft und darüber hinausreichendes Publikum eingegangen. Das es kein Massenphänomen (auch eine andere Liga auch als etwa eine zahlenmässig bedeutsame Verbreitung) war, hattest Du ja bereits geschrieben.

Unterhalb des Massenphänomens wollte ich Angaben hinzufügen.
 
"Die heutige Situation der Anthroposophischen Gesellschaft läßt sich als Ausblick im Rahmen einer historischen Darstellung nur als unsortiertes Puzzle darstellen. Sie dürfte mit über 50.000 Aktiven in allen Kontinenten inzwischen die größte Vereinigung mit theosophischen Wurzeln bilden, die Adyar-Theosophie zählt gut 30.000 Mitglieder."

Anthroposophie in Deutschland

Konsument kann man auch wörtlich nehmen. Eigentlich ist jeder Reformhauskunde und Waldorf-Schüler ein Konsument der Anthroposophie.

"Überzeugte Anthroposophen sehen allerdings hier auch ein Problem: Die Akzeptanz der weltanschaulichen Grundlagen bleibe vergleichsweise gering, Anthroposophie werde pragmatisch genutzt, will man nicht gar sagen: ausgenutzt."
 
es ist eher ein Bauchgefühl, dass es die Kuriositäten, Absurditäten & Co. immer gab

Wobei die Wahrnehmung dessen, was als kurios oder absurd zu gelten habe, sich im Lauf der Zeit geändert hat.
Vor sechshundert Jahren wäre in unserem Kulturkreis die Gründung eines Vereins, dessen Mitglieder die Existenz Gottes in Zweifel ziehen, für außerordentlich absurd gehalten worden - nicht jedoch die Gründung einer Bruderschaft, die sich der Verehrung der Heiligen Vorhaut verschreibt.
 
Der orientalistische Blick in die Ferne und die Schwärmerei für das Alte Ägypten, Indien oder die Arier ist ohne den Imperialismus des 19. Jahrhunderts undenkbar. Jedenfalls waren die indischen Religionen ebenso wie das Alte Ägypten in Europa vor dem 19. Jahrhundert nahezu unbekannt und die Eroberung Ägyptens und Indiens ist der direkte Auslöser für die Schwärmereien.

Nun, dass ist aber so nun auch nicht wahr. Immerhin gab es eine gewisse Begeisterung für den fernen Osten bereits sehr lange. "Japanische Gärten", das Trinken von Tee und so weiter.
Darf man die Schwärmereien von Leibniz vergessen oder die Tatsache, dass viele westliche Intellektuelle China noch als einen Art des Geistesadels usw. gelobt haben?

Das war natürlich größtenteils die Frucht der Unwissenheit. Aber ausschließlich rassistische Abwertung gab es nicht. Dass Napoleon Ägypten eroberte, war ja nun kein Zufall. Man hätte ihn genauso gut auch nach Griechenland oder Spanien schicken können, doch man suchte sich bewusst die älteste Zivilisation der Welt. Eben weil Ägypten für das Gedächtnis der Menschen damals schon wichtig war. Vielleicht nicht so extrem, wie Assmann es in seiner "Gedächtnisgeschichte" sieht, aber immerhin.
 
Dass Napoleon Ägypten eroberte, war ja nun kein Zufall. Man hätte ihn genauso gut auch nach Griechenland oder Spanien schicken können, doch man suchte sich bewusst die älteste Zivilisation der Welt. Eben weil Ägypten für das Gedächtnis der Menschen damals schon wichtig war. Vielleicht nicht so extrem, wie Assmann es in seiner "Gedächtnisgeschichte" sieht, aber immerhin.

Kurze Zwischenintervention: Man hat Napoleon nicht nach Ägypten geschickt, sondern er hat sich das selbst ausgesucht. Wenn das auch unter zivilisatorischen und kulturelen Aspekten interessant war (und auch entsprechend ausgeschlachtet wurde), Hauptgrund war, England zu treffen. Das wäre bei Griechenland nicht der Fall gewesen; und Spanien war seinerzeit noch eine Nummer zu gross.

Gruss, muheijo
 
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