Berufliche Aufenthalte im (nicht sozialistischen) Ausland

hbry

Neues Mitglied
Hallo! Mich würde sehr interessieren, in welcher Form sich DDR Bürger beruflich im Ausland aufhalten konnten. Z.b. als Handelsvertreter, Ingenieure etc. So wurde zB in den 80ern von DDR Ingenieuren in Mexiko ein Telekommunikationsnetz aufgebaut.
Kennt sich jemand über die Bedingungen für solche Auslandsreisen aus? Wurden Vorkehrungen vor Ort getroffen die Leute zu überwachen etc?

Freue mich auf Antworten. Gruß!
 
Empfehlenswert ist erstmal Jens Niederhut, Die Reisekader.
Jens Niederhut | Zeithistorische Forschungen

Ansonsten gibt es da eine Reihe von Untersuchungen, zB
Experten der "wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit" der DDr in Afrika - E-Theses

Reise- bzw. Auslandskader wurden sorgfältig ausgesucht, auch durch die VEBs bzw. Kombinate, soweit diese Kontakte in den NSW, Nicht-Sozialistischen Wirtschaftsbereich unterhielten. Die Personen für den NSW-Bereich, zB im Bereich der Ex- und Importe, wurden außerdem nach Vorschlag des Betriebes durch die Staatssicherheit geprüft. Neben der ideologischen Einschätzung spielten Faktoren wie familiäre Bindungen in die DDR etc. eine Rolle. Theoretisch bestand natürlich immer ein Risiko auf "Republikflucht", wie das im Rechtsjargon bezeichnet wurde.
 
Ich habe einige ehemalige Seeleute der Handelsmarine der DDR kennengelernt, die fuhren zwar bevorzugt sozialistische Partnerländer an, aber eben auch das kapitalistische Ausland; einer hat sogar in Bremerhaven eine wichtige Prüfung gemacht (es waren nicht im engeren Sinne geplante Zeitzeugengespräche, daher habe ich leider nichts dokumentiert, ich meine es war die Lotsenpürfung). Da ich viel in Sachsen arbeite, stelle ich immer wieder fest, dass der Dresdener Raum (und zwar vor allem da, wo damals das Tal der Ahnungslosen lag) anders über die DDR denkt, als viele andere Ostdeutsche und enger gefasst Sachsen. Leipziger und Chemnitzer denken anders als Dresdner und Erzgebirgsler, so meine >>>>subjektive<<<< Erfahrung.
Die ehem. Seeleute der Handelsmarine, die ich kenne, sind durchweg positiv zur DDR eingestellt und meinen gewissermaßen, Historiker hätten keine Ahnung (der Historiker ist halt der größte Feind des Zeitzeugen!!!), sie vergessen dabei gerne, dass etliche Historiker - genau wie sie - auch "gelernte" DDR-Bürger und ihrerseits Zeitzeugen sind.
Die Seeleute erzählen auch gerne, wie sie hin und wieder ihre Frauen mit auf Reise genommen haben und mit ihnen dann auch z.B. durch Mexiko spaziert sind. Es sind dann meist die Frauen, die ergänzen, dass die Kinder derweil bei den Großeltern untergebracht waren.

Bei Sportlern, die auf Wettkämpfe ins NSA fuhren, wurde sehr darauf geachtet, dass nach Möglichkeit "linientreue" Sportler an den Events teilnahmen. Dennoch blieben immer wieder Sportler, die als Teil einer DDR-Mannschaft im "Westen" waren, einfach dort. Prominent ist z.B. der Fußballspieler Lutz Eigendorf, der womöglich von der Stasi ermordet wurde (ich halte das persönlich für eine Verschwörungstheorie, obgleich ich durchaus der Überzeugung bin, dass die Stasi auch mordete; bei Eigendorf nehmen ich aber an, dass es sich um einen Trunkenheitsunfall ohne Einfluss der Stasi handelt).
http://www.zov-sportverraeter.de/
 
Es ergänzend auch eine Arbeit über das Passagierschiff Arkona, und die Stasi-verbundenen Mitarbeiter unter der Besatzung.
Der Bereich Schifffahrt hat logischerweise besonderer Beobachtung unterlegen. Im Alltag der VEBs war allerdings die Devisenbeschaffung - wo möglich - ebenso ein Faktor, für den Auslandskontakte unabdingbar waren.

Eine besondere "Personalsituation" hat daneben bei den Außenhandelsbetrieben (AHBs) bestanden, die auch für die Zahlungsabwicklung mit NSW zuständig waren.
 
Unter bezugnahme und ergänzend was hier silesia schreibt...

Als Wohnungsbaukombinat hatten wir mal einen Auftrag der uns Westgeld/BRD einbrachte. Auftrag war in der DDR und unserem Bezirk.

Die Verwendung dieses Geldes war natürlich Chefsache, aber in Abstimmung mit der vorgesetzten Dienststelle – Bezirksbauamt des Rates des Bezirkes.

Man kauft ein paar Betontransportfahrzeuge/Fahrmischer (Liebherr) mit Tatra Aufbau. Tara-Aufbau -> Hersteller CSSR.

Dieser Kauf hatte natürlich Auswirkung auf die Höhe der Zuweisung der jährlichen „Investkennziffer – Ausrüstung“ in Verbindung mit einer „Fondszuweisung“ (konkrete Maschine).

Und jetzt kommst, das Geld reichte auch noch für eine komplette Beton – Mischstation.

Man wollte verständlicherweise diese Station vor Vertragsabschluss in Augenschein nehmen.

Da stand eine dieser Mischstationen in Westberlin.

Dahin durften aber nur Reiskader.

Und so entschied man, 2 Personen können da nur fahren. Es waren Personen die eigentlich fachlich so eine Station gar nicht richtig beurteilen können, sie waren aber Reisekader.

Что делать? sprach Lenin ( :) ) und wir auch...

Beide wurden deshalb von uns (meine Wenigkeit und noch einem weiteren Ingenieur) fachlich eingewiesen auf was sie zu achten haben.

Einer davon war sogar im Stamm der Personen/Kader, die im Falle der Widervereinigung eine entsprechende Funktion im Westen in einem Konzern/Betrieb einnehmen sollten.
 
Zuletzt bearbeitet:
NSW-Reisekader wurden auf Grund von Zuverlässigkeitsfaktoren ausgelöst. Aber sie waren nicht die beruflich Besten. Ich habe selbst die über einen Meter langen Fernschreiben gelesen, die mit Westgeld bezahlt werden mussten und primitivste technische Fragen beinhalteten, die jeder Berufsschüler hätte beantworten können. Nicht ohne Grund wurden sie von einer Sonderabteilung der Stasi gründlich überwacht. Aber als man zu meiner Zeit mal einen Vertreter erwischte, der sich vom "Klassenfeind" kaufen ließ, blieb er ungeschoren, weil die Wende kam.
 
Vielen Dank für die vielen ausführlichen Antworten! Ich finde das Thema sehr interessant - in der heutigen nahezu schrankenlosen Welt sind diese Zusammenhänge nur noch schwer nachvollziehbar. Insbesondere solche Details. Ich finde es zunehmend erstaunlich, wie lange sich das System unter all diesen Voraussetzungen überhaupt halten konnte. Vermutlich ist es kein Zufall, dass der Zusammenbruch in einem zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn der Technologierevolution steht.
 
Ich finde es zunehmend erstaunlich, wie lange sich das System unter all diesen Voraussetzungen überhaupt halten konnte. Vermutlich ist es kein Zufall, dass der Zusammenbruch in einem zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn der Technologierevolution steht.

1. Es gibt Erklärungen für die Persistenz der DDR, wie beispielsweise Port

Port, Andrew I. (2010): Die rätselhafte Stabilität der DDR. Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland. Berlin: Links

2. Die wirtschaftliche Misere der Volkswirtschaft war sicherlich ein Faktor, der für die DDR keine gute Voraussetzung war, im Konflikt der System weiterhin bestehen zu können. Die materiellen Unterschiede wären noch stärker geworden und somit auch teilweise der Druck auf das politische Regime. Das hat auch mit der digitalen Revolution zu tun.
 
Vielen Dank für die vielen ausführlichen Antworten! Ich finde das Thema sehr interessant - in der heutigen nahezu schrankenlosen Welt sind diese Zusammenhänge nur noch schwer nachvollziehbar. Insbesondere solche Details. Ich finde es zunehmend erstaunlich, wie lange sich das System unter all diesen Voraussetzungen überhaupt halten konnte. Vermutlich ist es kein Zufall, dass der Zusammenbruch in einem zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn der Technologierevolution steht.
Ein diktatorisches System kann sich gewaltsam sehr lange halten. Aber die technologische Schere zwischen Ost und West wurde auch im Privaten immer weiter. Die DDR hatte zwar den höchsten Lebensstandard aller sozialistischen Länder. Trotzdem gab es völlig unzumutbare Wartezeiten. Auf ein Telefon- fast unendlich, PKW- bis 15 Jahre, Videorekorder- nur für Privilegierte, und was es gab, war unangemessen teuer: Farbfernseher bis 6000 Mark, Walkman 200 Mark usw. Aber die Bevölkerung fand Lösungswege. Mit dem Technologierückstand hätte man innerhalb der RGW-Staaten noch einige Zeit leben können. Modernste Computertechnik wurde für die Industrie illegal importiert und der Industrie zur Verfügung gestellt. Software ohne Lizenz genutzt oder selbst entwickelt. Viele Betriebe waren durchaus konkurrenzfähig. Aber die DDR-Bürger wollten endlich ein Äquivalent für ihr aufgespartes Einkommen, und dies fehlte. Als dann aber die immer schon stark beschränkte Reisefreiheit unzumutbar eingeengt wurde (Ungarn, Tschechoslowakei, zum Schluss sogar Polen) kochte der Kessel über. Ein Niederschlagen der Proteste wäre durchaus möglich gewesen, aber nicht ohne sowjetische Hilfe. Erste Bestrebungen, mit einem neuen Sozialismus trotz des Technologierückstands weiter zu machen, verwarf man schnell.
 
Ohne das Lied von "es war ja nicht alles schlecht" anstimmen zu wollen, ganz bestimmt nicht, Diktaturen neigen dazu, einen Teil der Bevölkerung gut zu versorgen, so, dass sie sich immer auch auf die Akzeptanz eines Teils der Bevölkerung stützen können.
 
Ohne das Lied von "es war ja nicht alles schlecht" anstimmen zu wollen, ganz bestimmt nicht, Diktaturen neigen dazu, einen Teil der Bevölkerung gut zu versorgen, so, dass sie sich immer auch auf die Akzeptanz eines Teils der Bevölkerung stützen können.
Das traf aber in den letzten Jahren wohl ausschließlich für den verschwindend geringen Bevölkerungsanteil zu, der höhere Partei- oder Stasifunktionen bekleidete. Sonderläden, bevorzugte Belieferung mit Luxusgütern usw. Ab Mitte der 80er übten die Kampfgruppen den Einsatz gegen die eigene Bevölkerung. Die Akzeptanz ließ stark nach.
 
Was wurde eigentlich aus den DDR Bürgern, die sich zum Zeitpunkt des Mauerfalls bzw in der kurzen Zeit davor im nichtsozialistischen Ausland aufhielten? Gibt es diesbezüglich Erfahrungsberichte? Wurden die zurück geholt, oder mussten sich selber darum kümmern? Waren die entsprechenden Botschaften / Konsulate handlungsfähig?
Ich stelle mir vor als DDR Bürger zB irgendwo in Südamerika tätig zu sein, und von dem Geschehen in der Heimat in der Zeitung zu lesen.
 
Die DDR war ja mit dem Mauerfall nicht verschwunden, sie existierte noch bis zum 3. Oktober 1990. Ab dem 3. Oktober 1990 war jeder DDR-Bürger automatisch Bundesbürger.
 
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