Waren Analphabeten als Schreiber tätig?

Sepiola

Aktives Mitglied
Ja, das war und ist sicher wahr. Irgendwo habe ich dieser Tage gelesen, dass auch Mönche, die Texte kopierten, teilweise gar nicht lesen konnten, sondern Buchstaben einfach abmalten. Das war kein Nachteil, denn so hat man eine exaktere Kopie erhalten, als wenn jemand, der lesen und vielleicht das Gelesene auch verstehen konnte, den Text übertragen hatte.

Ähnliches wird hier behauptet:

Mit Federkiel und Schlehentinte | Bistum Hildesheim

Ich frage mich, wer sich diese These aus den Fingern gesogen hat.

Wir haben hier im Forum ja öfters Anfragen von Leuten, die Probleme mit handschriftlichen Dokumenten in deutscher Kurrentschrift haben. Wenn sie einen Scan in guter Auflösung liefern, kann ihnen meistens geholfen werden - von Forumsmitgliedern, die in dieser Schrift lesekundig sind.

Man muss sich nur mal fragen, was passieren würde, wenn die Leute die Dokumente nicht direkt scannen könnten, sondern gezwungen wären, sie abzumalen. Wahrscheinlich wäre das Ergebnis dann völlig unleserlich, wohl ähnlich wie das, was manche Maschine "liest" - kürzlich fand ich bei Google folgenden Satz:
quod proprz'um est z'psz'us, amph'us ez'us fierz'non polesl
Gemeint ist:
quod proprium est ipsius, amplius eius fieri non potest

Gibt es denn irgendeine belastbare Quelle für die Behauptung, dass in den Skriptorien Texte von Analphabeten kopiert wurden?
Der einzige vorstellbare Vorteil: Analphabeten können keine bewussten Ver(schlimm)besserungen vornehmen. Dieser Vorteil wird aber durch alle anderen Nachteile sicherlich mehr als aufgewogen.
 
@Dion
Hinsichtlich der Lesbarkeit und der Qualität von Analphabeten produzierter Abschriften, würde ich dir empfehlen dich beispielsweise mal mit den Versuchen der ersten jesuitischen Missionare und einiger historischer Persönlichkeiten aus den Reihen der VOC, wie etwa Engelbert Kaempfer, japanische Texte und Silbenalphabete auf die Reihe zu bekommen und zu überliefern zu beschäftigen.

In der Regel sind die Hälfte bis 2/3 der Hiragana einigermaßen korrekt wieder gegeben. Katakana leidlich, von Kanji in keiner Weise zu reden, die sind völlig unlesbar.
 
Man muss sich nur mal fragen, was passieren würde, wenn die Leute die Dokumente nicht direkt scannen könnten, sondern gezwungen wären, sie abzumalen. Wahrscheinlich wäre das Ergebnis dann völlig unleserlich
Falls hier jemand des Gotischen mächtig ist, können wir die Probe aufs Exempel wagen. Als Schüler habe ich einmal ein Blatt aus dem Codex Argenteus, das ich in einer Zeitschrift abgebildet fand, per Hand faksimiliert. Dass ich den Farbton des Hintergrunds nicht richtig getroffen habe weiß ich, aber wie sieht es mit den Buchstaben aus? Lesen kann ich es bis heute nicht wirklich:

ca-004.jpg
 
Als Schüler habe ich einmal ein Blatt aus dem Codex Argenteus
Das ist natürlich eine außerordentlich sorgfältig ausgeführte Prachthandschrift, nicht zu vergleichen mit dem, was normalerweise in den Schreibstuben kopiert wurde (Wurde der Codex Argenteus eigentlich jemals in einem mittelalterlichen Skriptorium kopiert?)

Als ich meinen obigen Beitrag formulierte, wollte ich zuerst schreiben: "Wer sich so eine These einfallen lässt, kennt mittelalterliche Handschriften wahrscheinlich nur von Prachtexemplaren aus dem Museum." Hätte ich vielleicht doch gleich machen sollen.
 
Die Abstände zwischen dem Buchstaben stimmen nicht so ganz, jedenfalls stehen mache Buchstaben am falschen Wort.
 
Das ist natürlich eine außerordentlich sorgfältig ausgeführte Prachthandschrift, nicht zu vergleichen mit dem, was normalerweise in den Schreibstuben kopiert wurde
Wenn Du wüsstest, was ich in meiner Jugend sonst noch händisch kopiert habe (ein Dank auch an die Firma Letraset!) ... ist aber alles längst verjährt. ;)

Die Abstände zwischen dem Buchstaben stimmen nicht so ganz, jedenfalls stehen mache Buchstaben am falschen Wort.
Das dürfte wohl ein typischer Fehler sein, wenn man die Schrift nicht versteht. Leider gelingt es mir gerade nicht, das Original im Netz aufzutreiben um mit 35 Jahren Abstand noch einmal einen kritischen Vergleich vorzunehmen.
 
Hier die erste Zeile des Originals (fol. 5r, die Buchstaben werden erst in stärkerer Vergrößerung lesbar):

upload_2019-12-15_19-57-23.png


Hier die erste Zeile Deiner Abschrift:

upload_2019-12-15_19-58-12.png


Offensichtlich hattest Du eine aufgemotzte Vorlage zur Verfügung.
 
Hier hat sich ein "Geisterbuchstabe" materialisiert:
So gern ich bereit bin, alle Verantwortung auf mein fünfzehnjähriges Ich abzuwälzen, scheint das von einem anderen Blatt zu stammen, oder täusche ich mich?

[Edit: Jetzt sehe ich es — das gibt nachträglich ein paar hinter die Ohren. Elende Schluderei! :)]
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich habe noch eine Seite gefunden, wo die Silberbuchstaben stärker hervorgehoben sind (dafür sind die Goldbuchstaben deutlich matter):
TITUS Didactica: Bible Gothic Sample Text

Hier kann ich noch eine Kleinigkeit verdeutlichen:

upload_2019-12-15_23-57-3.png


Man sieht hier die Buchstabenfolgen IBRIG und AKLAU.
Das gotische K und das gotische R sehen sich recht ähnlich, die Unterschiede sind hier aber sehr gut zu bemerken, zumal die Buchstaben fast übereinander stehen: Das R ist schmaler und hat einen deutlich längeren senkrechten Strich.

Der Analphabet übersieht den Unterschied leicht und verwechselt die beiden Buchstaben.
In Deiner Abschrift würde man ganz klar beide Buchstaben als R lesen:

upload_2019-12-15_23-49-58.png


Mir fällt da aber noch etwas auf: Dein A sieht nämlich anders aus als in der Vorlage, es lässt sich sogar besser vom L unterscheiden als im Original. Das kann eigentlich nur bedeuten, dass die Vorlage nicht nur hinsichtlich der Farben aufgemotzt war, sondern dass da auch bei den Buchstabenformen nachgeholfen wurde. Und es ist nicht auszuschließen, dass schon dabei irgendeine Schlamperei passiert ist...
 
Der Analphabet übersieht den Unterschied leicht und verwechselt die beiden Buchstaben.
In Deiner Abschrift würde man ganz klar beide Buchstaben als R lesen:
...
Mir fällt da aber noch etwas auf: Dein A sieht nämlich anders aus als in der Vorlage, es lässt sich sogar besser vom L unterscheiden als im Original. Das kann eigentlich nur bedeuten, dass die Vorlage nicht nur hinsichtlich der Farben aufgemotzt war, sondern dass da auch bei den Buchstabenformen nachgeholfen wurde. Und es ist nicht auszuschließen, dass schon dabei irgendeine Schlamperei passiert ist...
Ich glaube, ich habe meine Vorlage jetzt doch noch im Netz gefunden (der Hintergrund war bei meiner Version wohl noch zusätzlich aufmotzt, aber das Schriftbild entspricht meiner Erinnerung):
ca_vorlage.jpg
Offenbar habe ich also wie Du vermutest schon eine Kopie bzw. Rekonstruktion kopiert. Und schon beim groben Vergleich fallen mir weitere Fehler meinerseits auf, besonders auffällig die Weglassung der letzten fünf Zeilen aus Platzmangel.
 
Zuletzt bearbeitet:
War das ein Fehler oder wolltest du ggf. nur das Vaterunser?
Die fehlenden Zeilen hätten auf keinen Fall mehr Platz gefunden. Mir ging es wohl auch weniger um den Inhalt, als um die Ästhetik und die technische Herausforderung.

Aber, je länger ich darüber nachdenke, habe ich vielleicht doch zumindest teilweise gewusst, was ich da schrieb. Das gotische Vaterunser müsste mir zu dem Zeitpunkt eigentlich schon aus dem Deutschunterricht bekannt gewesen sein. Der Vortrag des stimmgewaltigen Lehrers hatte mich damals schwer beeindruckt, und den Anfang konnte ich auch irgendwann einmal auswendig. Mit dem gotischen Alphabet bin ich aber definitiv nicht vertraut gewesen. Jedenfalls finde ich jetzt etwa zwischen den Wörtern himma und daga in meiner Kopie einen Abstand, der in der mutmaßlichen Vorlage nicht erscheint.

[Edit:] Der von @Sepiola entdeckte Geisterbuchstabe, der eindeutig auf meine Kappe geht, fasziniert mich am meisten. Einen Buchstaben zu unterschlagen ist die eine Sache, aber das ist schon speziell.
 
Zuletzt bearbeitet:
aber das Schriftbild entspricht meiner Erinnerung
Hier ist der Unterschied zwischen K und R allerdings deutlich. Der typische Analphabetenfehler war also in der Vorlage noch nicht vorgebildet.

Nun aber zurück zu meiner eigentlichen Frage: Gibt es Manuskripte, in denen sich typische Analphabetenfehler häufen?
(Analphabetenfehler wären zu unterscheiden von Fehlern, die mangelhafter Sprachbeherrschung zuzuschreiben sind.)
 
Ich kenne eher Fehler von schreibunsicheren Personen, wenn da etwa in einem mittelalterlichen Manuskript aus der columna eine *columpna wird: da kann man sich richjtig vorstellen, wie der Schreiber beim Schreiben das Wort langsam geflüstert hat und beim Öffnen des Mundes von [m] zu [n] den leichten Plosiv [p] gehört hat. Das setzt aber eine Schreib- und Sprachkompetenz voraus, ist also das Gegenteil von Analphabetentum, eher eine Form der Unsicherheit und/oder Halbbildung.
 
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