In meiner nächsten Unterrichtsstunde würde ich den Schülern gerne vermitteln, dass die Alliierten zunächst hart mit den Überbleibseln des Naziregimes zu Gericht gegangen sind dieses Vorgehen sich aber im Laufe der Zeit immer verwässert hat. Die Schüler sollen zunächst diesen Vorgang der Verwässerung erkennen und beurteilen, warum dieses Vorgehen sich veränderte. (=> Würde man, wie von Anfang an vorgesehen härt durchreichen, so würde kaum noch jemand überbleiben, der Dt. wieder aufbauen könnte (Verwaltung, Schule, Wirtschaft, usw.) )
Das Problem der Entnazifizierung hatte viele Facetten, die auf die Durchführung einen Einfluss hatten. Es war im Kern der grundsätzliche Konflikt zwischen einem hohen ethisch, moralischen, normativen Anspruch und realpolitischem Pragmatismus.
Die Konfliktlinien verliefen dabei zwischen den Alliierten und den deutschen Besatzungszonen, zwischen den vier Allierten und nicht zuletzt auch zwischen den Deutschen selber!
Zwischen dem Zusammenbruch und ca. 1950 verlief die erste Phase der Entnazifizierung und ist durch die extremste Veränderung der politischen Gewichtung gekennzeichnet und das ist m.E. zu verdeutlichen.
1. Die Schüler müssen zunächst überhaupt erst einmal erkennen, in welchen Dimensionen ab dem Zusammenbruch überhaupt das 3. Reich beurteilt wurde und wie tiefgreifend die moralische Verachtung gegenüber den Akteuren des 3. Reichs war.
So forderte beispielsweise J. Pulitzer nach einer Besichtigung der Konzentrationslager, die Todesstrafe für die Spitzen und die Funktionsträger der NS-Vernichtungsindustrie. Das betraf nicht weniger als ca. 1.5 Mio Betroffene! Nur um mal den subjektiven Ausgangspunkt und die Intensität der Emotionen im Jahr 1945 auf amerikanischer Seite deutlich zu machen und welche einflussreichen Leute in den USA auf L. Clay einwirkten (vgl. Jarausch: After Hitler. Recivilizing Germans, 1945-1995, Pos. 709) Und damit auch einen Einfluß auf die Art und den Umfang der Entnazifizierung nahmen.
Das betraf aber auch die emigrierten Personen wie Jaspers in "die Schuldfrage", die ebenfalls eine radikale und schonungslose Aufarbeitung des NS-Regimes forderten (vgl. Glaser: Kulturgeschichte der Bundesrepublik 1945-1948, S. 93ff)
2. Die Vorgehensweise der Entnazifizierung war in den 4 Zonen nicht einheitlich und wurde vor allem durch die USA und durch die Sowjets am rigorosesten vorangetrieben (Benz. Auftrag Demokratie. S. 59ff)
3. Die Entnazifizierung konnte aufgrund realpolitischer Überlegungen nicht dem ursprünglichen moralischen Anliegen weiter folgen. Es war zum einen die Verschärfung der Gegensätze zwischen den drei westlichen Allierten und dem östlichen, aber noch gravierender war die abnehmende Funktionsfähigkeit der Besatzungszonen.
Das betraf die Versorgung mit Lebensmitteln, die Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Produktion. Dazu ist es Notwenigkeit auf die komplexen und umfassenden Voraussetzung der Versorgung einer ca. 60 Millionen Bevölkerung hinzuweisen. Das sprengte sämtliche Möglichkeiten der Logistik der Alliierten! und es ist auch auf die Gefahr des Zusammenbruch der staatlichen Institutionen hinzuweisen, die real wurde, durch das Entfernen von belasteten NS-Funktionären.
Und nicht zuletzt und das war ganz wesentlich, war der Auftrag zur demokratischen Erziehung in Deutschland gefährdet (vgl. z.B. Gerhardt: Soziologie der Stunde Null, S. 251ff). Hinter diesen Auftrag wurden zunehmend Probleme erkannt und der Demokratisierungsprozesse in einer als politisch apathisch eingeschätzten Bevölkerung insgesamt als in Gefahr betrachtet (vgl. Söllner: Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland. Bd. 1, S. 238)
Die gravierenden Probleme der innerdeutschen "Pazifizierung" kann man beispielsweise an den Briefen von Adenauer aus der Zeit erkennen. So schreibt er beispielsweise an die Gräfin Fürstenberg-Herdringen eine sehr rüde Charakterisierung von Papen und hält dem Hochadel vor, zu lange mit Hitler paktiert zu haben. Und darin kommt der innerdeutsche Konflikt zwischen den demokratischen Protagonisten und den Repäsentanten vergangener Vorstellungen deutlich zu Tage (Adenauer: Briefe über Deutschland, S. 52). Und es war Adenauer, der zunehmend die Bedeutung des Ausgleichs erkannte, auch zu Lasten einer strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen.
Und in einem Brief aus dem November 1946 beschwert er sich bei "Herrn Müller", "Die Engländer treiben m.E. eine Politik, die ihren eigenen Interessen aufs stärkste zuwiderläuft" und fordert ein, zu einer gewissen Normalität wieder überzugehen (Adenauer: Briefe über Deutschland, S. 55)
Allerdings ist auch darauf hinzuweisen, dass vor allem die Engländer genau diesen Aspekt in ihrer Besatzungszone am stärksten in den Vordergrund gerückt haben, da sie wirtschaftlich nicht in der Lage waren ihre zerstörte Besatzungszone zu unterstützen.
vgl. dazu beispielsweise auch dieses Dokument.
Denazifizierung |*ZEIT ONLINE
(vgl. zur Dokumentenlage beispielsweise H-J- Ruhl: Neubeginn und Restauration. Dokumente zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland)
Diese Sicht, dem Zwang zur Demokratisierung folgend, führte dann auch Clay rückblieceknd resümierend an, um den Rückgang der Intensität bei der Entnazifierung zu erklären bzw. auch sein Verhalten zu rechtfertigen (Benz. Auftrag Demokratie. S. 62)
Es ist somit für den "Spannungsbogen" ein deutlich erweitertes Verständnis notwendig, das sich kaum aus "Entnazifizierungsakten" oder aus Karikaturen erschließt. Die Dramatik der Situation zwischen 1945 und 1950 resultierte aus politischen und sozialen Prozessen und die sind primär zu rekonstruieren.
Noch eine OT-Anmerkung: Heute wird bei Soldaten sehr viel über "Posttraumatische Belastungs-Störung" geredet. Nach der WW1-Generation war es vor allem die Generation der WW2-Soldaten, die unter diesem Syndrom in einer nicht unerheblichen Dimension litt. Und es war Schelsky, der sie als "skeptische Generation" thematisierte. Diesen sozialpsychologischen Aspekt sollte man Schülern auch verdeutlichen, um zu verdeutlichen, dass das -kritikwürdige - Verschweigen von NS-Verbrechen und unter den Tisch kehren während der Phase von ca. 1950 bis 1968, auch legitimen individuellen Interessen gefolgt ist.