Die Fragestellung lautet: Die russische Oktoberrevolution - ein Schreckgespenst für die Deutschen ?
An diesem Thema wird die - voururteilsbeladene - Beziehung zwischen Russland/Sowjetunion und den deutschen Staaten deutlich.
Im Prinzip sollte man eine Reihe von Phasen unterscheiden, die eine unterschiedliche Bedeutung hatten.
1. Vor 1914: In diese Phase gehört die "zivilisatorische Angst" vor einem Russland, das drohte, durch die reine Menge an Menschen, eine hegemoniale Position zu gewinnen. In Kombination mit einem autokratischen System und einer als "rückständig" wahrgenommenen Gesellschaft gab es eine Ablehnung Russlands, die von der Spitze der Armee bzw. Politik quer durch die Gesellschaft bis hin zur Sozialdemokratie reichte.
Diese Furcht faßt Burleigh in ein allgemeines damals zutreffendes Bild: "The Russian army resembled migrating rats who, in times of great destruction, forsake their hiding places in the Siberian tundra in order to eat bare the settled lands." [in Preußen] (Burleigh, Pos. 9195)
2. Mit der Oktoberrevolution wurde eine Übertragung dieser vorurteilsbeladenen Furcht auf die Bolschewiken vorgenommen. "They also deeply ....feared the "Asiativ" terror of Lenin and his accomplies....." und das ging bis in die Linke: "Rosa Luxemburg had complained about the Tatar-Mongolian savagery of Lenin`s Bolsheviks." (Burleigh, Pos. 9203).
3. Diese Haltung polarisierte das Verhältnis von 1917 bis 1923. Also die Periode, die noch am stärksten gekennzeichnet war durch den militanten politischen Konflikt, der auch eingebettet war in die Erwartung von Lenin auf eine sich über Polen und Deutschland ausbreitende proletarische Revolution.
Und, wie oben schon angesprochen, zur Instrumentalisierung des Bolschewismus als "jüdisch-marxistisches" Feindbild - bei z.B. Hitler - führte. Und für die ganze Periode der Weimarer Republik die zentrale politische Konfliktlinie zwischen "extremer Linken / KPD" und der "extremen Rechten / NSDAP" bildete.
4. Und in seiner Tradierung der Vorurteile gegen Russland bzw. die Bolschewiken dann wieder im Eroberungs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion in seine "letzte Phase" einmündete.
Betrachtet man die unmittelbaren Reaktionen - also das "Schreckensgespenst", näher, also Phase 2, dann ergibt sich auf der Linken ein differenziertes Bild.
Die MSPD hatte die Machtergreifung im November 1917 zunächst positiv beurteilt, da sie die Möglichkeit eines Friedensschlusses erkannten (vgl. Winkler, Pos. 370). Mit der Auflösung der Konstituante durch Lenin am 19.01.1918 änderte sich die Einschätzung:"Was die Bolschewiki betrieben, war nicht Sozialismus oder Demokratie, sondern Putschismus und Anarchie." Und sie lehnten dieses Vorgehen ab und wollten Deutschland ein derartiges Schicksal ersparen. Das erklärt teilweise das Agieren der SPD durch die Person Noskes bis 1923.
Auf dem rechten Flügel der USPD sah man es ähnlich kritisch. Eine Diktatur des Proletariats, so Kautsky, kann nur durch eines Volksmehrheit wahrgenommen werden, aber nicht durch eine Minderheit. Die Diktatur einer Minderheit, so Kautsky, ist "reaktionär" und würde die Gegenrevolution, sprich den Bürgerkrieg, begünstigen.
Der linke Flügel der USPD bzw. der Spartakusgruppe wies keine einheitliche Haltung auf. Luxemburg und Liebknecht äußten sich als Reaktion auf die Auflösung der Konstituante kritisch. Sie warfen Lenin und Trotzki vor, "sie verschütteten durch die Beseitigung der Demokratie den lebendigen Quell der Revolution." (Winkler, Pos. 384).
Demgegenüber ergriffen Clara Zetkin und Franz Mehring Partei zugunsten von Lenin.
Das illustriert, dass eine Bewertung der Oktoberrevolution auch auf der Linken in der Weimarer Republik zum Zeitpunkt des Todes von Luxemburg und Liebknecht nicht abgeschlossen war. Insgesamt aber insgesamt eher kritisch gesehen wurde. Und durch das teilweise ungeschickte und wirklichkeitsferne Agieren von "linken Revolutionären" - was sie gemeinsam mit der extremen revolutionären Rechten hatte - und der Comintern noch verstärkt wurde. Und zu einer absurden Konfrontation der KPD mit der SPD führte.
Burleigh, Michael (2000): The Third Reich. A new history. London, New York: Macmillan; Hill and Wang.
Winkler, Heinrich August (2018): Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. C.H. Beck München: C.H. Beck