Ich sprach von "Nationalökonomien", die im Rahmen von Staats-Nationen organisiert wären. Das trifft für viele der damaligen Schlüsselindustrien zu und geht bis runter auf die Infrastruktur wie den Bau von Eisenbahnlinien. Und nicht nur über den Bankensektor.
Meine zentrale These würde lauten, dass die deutschen Unternehmer einen ausgeprägten nationalstaatlichen Patriotismus von 1871 bis weit in die 1970er Jahre gezeigt haben. Erst dann erodierte der unternehmerische Patriotismus, auch durch die abnehmende nationalistische Haltung der deutschen Außenpolitik..
Es ist ein komplexes Thema, das im weiteren Sinne ca. 200 Jahre umfaßt und im engeren noch 100 Jahre. Es ist auch deswegen so komplex, weil der Startpunkt meiner Argumentation in die Phase des Aufschwungs des transatlantischen, globalisierten Kapitalismus und der damit zusammenhängenden ersten Industriellen Revolution und dem Aufstieg im Zuge der „Großen Divergenz“ lag. Von diesem Punkt aus führte die wirtschaftliche und machtpolitische Sicht seit ca. 1850 verstärkt in die Ideologie des Imperialismus und den Kampf um regionale oder globale hegemoniale Positionen, im Rahmen der nationalstaatlichen Politik (vgl. z.B. Morris, S. 473ff)
Im Kern geht es dabei um die Frage, in welchem Zusammenhang staatliche und wirtschaftliche Interessen stehen. Im Zuge des Konflikts von Frankreich mit GB wird in großem Stil deutlich, wie Napoleon politische, militärische und wirtschaftliche Ziele verschränkte. Verkürzt diente dabei die Kontinentalsperre dazu, den Export von britischen Waren auf den Kontinent zu verhindern und damit den Export französischer Waren zu erleichtern. Das Motiv und die Umsetzung war in seinen zentralen Momenten die Blaupause für spätere Konstellationen, in denen die nationalen Interessen zur Hegemonie in Europa erweitert werden sollten.
Diese Entwicklung verlief im 19. Jahrhundert in unterschiedliche Phase und in einzelnen Ländern noch zusätzlich unterschiedlich. So bezeichnet Aydin die Phase zwischen 1815-1882 als „Epoche der imperialen Selbststärkung“, in der vor allem die atlantischen Mächte sich durch Kolonien erweiterten.
Auf das Scheitern von Napoleon folgte in Preußen und den deutschen Staaten eine Phase der nationalen Konsolidierung, die mit der Schaffung einer „innerdeutschen“ Zollunion, der Diskussion von Schutzzöllen und dem verstärkten Interesse an der Förderung einer nationalen Verkehrsinfrastruktur, vor allem an Eisenbahnen, einherging. Stark propagiert von Personen wie List, der sich aber nicht durchsetzen konnte gegen die Mehrheit liberaler Wirtschaftstheoretiker.
Und so verfolgte das Deutsche Reich bis zum Winter 1878/79 eine eher liberale Wirtschaftspolitik (Etges, S. 252). Die sich daran anschließende nationalstaatliche Neuausrichtung der Wirtschaft durch Bismarck wurde teilweise – wohl überzeichnet – als „zweite Reichsgründung“ bezeichnet. Und in diesem Kontext verlief ein starkes Wirtschaftswachstum durch das Aufkommen neuer Industriezweige im Deutschen Reich, parallel zu den USA, das auch als „Zweite Industrielle Revolution“ bezeichnet worden ist.
Propagandistisch wurde die Neuausrichtung durch den Kreis um Schmoller vorangetrieben, die forderten, „Deutschland den Deutschen“ oder „Schutz der nationalen Arbeit“. Bismarck`s Rhetorik war nicht weniger martialisch in der Betonung nationaler Interessen, wenn er forderte „Die Interessengemeinschaft Nation muss sich für ihre Mitglieder auszahlen“ und man müsse einhellig für die Interessen der Nation eintreten, „Sonst drohe dem Reich Gefahr“. (Etges, S. 273)
Mit dieser Wendung nach 1879 war die „Nationalisierung“ der Wirtschaftspolitik vollzogen und bedeutete, wer dafür war, war „Patriot“ und wer dagegen war, war „undeutsch“ und „unpatriotisch“. Dieser Anspruch auf die Deutungshoheit, was im Interesse des Staates sei, sollte im Kontext der Ideologie des Nationalstaates die Grundlage der wilhelminischen Vorstellung und Durchsetzung von einem „Platz an der Sonne“ oder der „Ellbogenfreiheit“ bilden.
… aber diese Bahn selbst ist nur ein toter Strang und die Begeisterung seiner Majestät für Mesopotamien ist ohne tieferen Wert für die deutschen Interessen.
Der Kern wird dann aber dennoch benannt. „Die deutschen Interessen“, die in ähnlicher Form von anderen großen kapitalistischen Großmächten formuliert worden sind. Und genau das ist der zentrale Orientierungspunkt, seit den Arbeiten von Machiavelli, der die Interessen des „Fürsten“ in das Zentrum des Rechtfertigung staatlichen Handelns verortete (Beyme, S. 92ff). Das Thema ist eng verbunden mit dem Aufkommen von Nationalstaaten und dem, was von diesen Nationalstaaten als „Staatsräson“ oder auch als „Nationales Interesse“ bezeichnet wird (Woyke, S. 151)
Die Definition, was der Staatsräson entspricht, entspringt. Folgt man Acemoglu (S. 225) dann verfolgte beispielsweise Franz I. bzw. Franz II. eine Politik, die sowohl auf eine Ablehnung der Industrialisierung als auch der Ablehnung von Eisenbahnen hinauslief. Die Staatsräson orientierte sich dabei an der Stabilität der Gesellschaft und wollte durch die Verhinderung der Industrialisierung das Anwachsen eines städtischen Proletariats nahe der Städte vermeiden. Eine ähnliche Haltung nahmen die Zaren im 19. Jahrhundert ein und verhinderten vor allem auch die Erschließung des Landes durch den Eisenbahnbau.
Auf der anderen Seite ist GB zu finden und die relativ autonome Position der Britischen Ostindien-Kompanie bei der Erschließung von Kolonien und kolonialem Handel. Relativ deutlich wird die enge Verbindung von britischen Interessen und den Handelsinteressen der BOK am Konflikt um den exponentiellen Anstiegs des Exports von Opium nach China und die – widerwillige - Bereitschaft von GB, einen Krieg zu führen (Morris, S. 498) An dieser Beziehung zwischen der britischen Regierung und der BOK kann man das Zurückdrängen privatwirtschaftlicher kolonialer Ambitionen erkennen und der zunehmenden Bedeutung der Verwaltung von Kolonien durch staatliche Instanzen und somit die Durchsetzung des „nationalem Interesse“.
Noch eine Bemerkung zur speziellen Rolle der Banken im Rahmen der globalen Ausweitung des Handels. Mit der Betonung der besonderen internationalen Position des Bankenwesens im Deutschen Reich wird im wesentlichen die globale Ausrichtung der deutschen Wirtschaft betont. Parallel zur Differenzierung der Strukturen der Nationalstaaten „vagabundierte“ das europäische Kapital, allen voran das britische und das französische, in globale Unternehmungen. (Topik & Wells, S. 617-620). Allerdings ist einzuschränken: „Entstanden mit Auslandsinvestitionen daher auch Brücken, Straßen und mitunter Schulen, so trugen sie zugleich dazu bei, koloniale oder neokoloniale Regime am Leben und Ungleichheiten aufrechtzuerhalten – und unterschieden sich darin nicht so sehr von Kanonenbooten oder Besatzungstruppen.“ (Topik & Wells, S. 618). Das betrifft allerdings nicht die auch von deutscher Seiten relativ hohen Direktinvestitionen in den USA und belegt, dass die europäischen Banken dort investierten, wo Gewinne zu erhoffen waren, die staatlicherseits abgesichert waren. Wie beispielsweise die umfangreichen französischen Investitionen in die zaristische Wirtschafts- bzw. Rüstungsindustrie (Topik & Wells, S. 619).
Dass „andreassolar“ meiner These von der Nationalisierung der Wirtschaft mit dem Hinweis auf die Banken widersprochen hat, ist m.E. inhaltlich nicht gerechtfertigt. Der Widerspruch blendet die Bedeutung des Nationalismus und des Wirtschaftsnationalismus aus und betont zu einseitig die Tendenzen zur Globalisierung. Die nach 1879 ablaufende deutliche Dynamisierung des Nationalismus im Deutschen Reich förderte die Ausbildung eines „patriotischen Geistes“, den man an zentralen Wirtschaftsmagnaten wie Rathenau, Ballin und in ganz besonderem Maße auch bei Stinnes zu erkennen war.
Zu erinnern sei, dass Stinnes sich ursprünglich gegen einen Krieg ausgesprochen hat, da er die wirtschaftliche Eroberung des Balkans für realisierbar hielt. Und an diesem Punkt kann man deutlich erkennen, in welch hohem Maße das „deutsche Interesse“, sich ein „Platz an der Sonne zu erobern“, in Übereinstimmung mit der Sicht wichtiger Industrieller war und die wirtschaftliche Eroberung als "gleichwertige" Form der Beherrschung eines Territoriums angesehen worden ist.
https://de.wikipedia.org/wiki/Historische_Schule_der_Nationalökonomie
https://de.wikisource.org/wiki/Friedrich_List_und_die_erste_große_Eisenbahn_Deutschlands
Acemoglu, Daron; Robinson, James A. (2012): Why nations fail. The origins of power, prosperity and poverty. London: Profile Books.
Beyme, Klaus von (2009): Geschichte der politischen Theorien in Deutschland 1300 - 2000. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Aydin, Cemil (2016,): Regionen und Reiche in der politischen Geschichte des langen 19. Jahrhunderts (1750 - 1924). In: Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel: Wege zur modernen Welt. 1750-1870. Hg. v. Akira Irie und Jürgen Osterhammel. München: C.H. Beck, S. 35–254.
Etges, Andreas (1999): Wirtschaftsnationalismus. USA und Deutschland im Vergleich (1815-1914). Frankfurt: Campus Verlag.
Morris, Ian (2012): Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden. Frankfurt, M., New York, NY: Campus Verlag
Topik, Steven C.; Wells, Allen (2013): Warenketten in einer globalisierten Wirtschaft. In: Akira Iriye und Jürgen Osterhammel (Hg.): Geschichte der Welt. Weltmärkte und Weltkriege : 1870-1945. Rosenberg, Emily S (HG.) . 1. Aufl. München: C.H. Beck, S. 589–814.
Woyke, Wichard (Hg.) (2000): Handwörterbuch Internationale Politik. 8. Aufl. Leverkusen: Leske + Budrich.