Hallo,
meine frage lautet: Wie plausibel ist eigentlich die These, dass die Gründung des zweiten deutschen Kaiserreichs (1871 bis 1918) direkt zum 1. Weltkrieg führte?
In einem Wort überhaupt nicht.
Nichtmal das Attentat von Sarajevo musste gezwungenermaßen in den 1. Weltkrieg führen.
Serbien hätte sich dazu entscheiden können, das österreichische Ultimatum vollständig anzunehmen um Blutvergießen, auch um den Preis der Demütigung zu verhindern, Österreich hätte sich gegen den Krieg und dafür entscheiden können, die strittigen Punkt nach zu verhandeln, Deutschland, Russland, Frankreich und Großbrittanien hätten sich weigern können "ihre" jeweilige Partei zu unterstützen und deren Bereitschaft sich in einem Krieg einzulassen massiv dadurch gemildert, wenn sie bereit gewesen wären, die politischen Konsequenzen zu tragen.
Zwischen der Reichsgründug und dem 1. Weltkrieg passiert absurd viel:
1. Bulgarienkrise, Russisch-Osmanischer Krieg, San Stefano, Berliner Kongress, Besatzung Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn und damit die Vertagung einer potentiell bedeutsamen Machtfrage im Westbalkan auf später, so wie Eintrübung des Österreichisch-Russischen Verhältnisses.
2. Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrags mit Russland durch Bismarcks Nachfolger, in der Folge inkonsequente Schaukelpolitik, zwische Russland und Großbritannien, seitens der Reichsleitung bis zur Bildung der Tripple-Entente.
3. Abkehr Britanniens von der bisherigen tradition keine festen Bündnisse einzugehen, durch das Bündnis mit Japan, Einigung mit den traditionellen europäischen Erzrivalen nach Faschoda und der 1. Marokkokrise, Ausgleich mit Russland über die asiatsichen Kolonialinteressen.
4. Russisch-Japanischer Krieg, Endedet mit Niederlage Russland und Revolution, dessen Nachwirkungen Österreich zur Annexion Bosniens und der Herzegowina nutzt, woraus die Bosnische Annexionskrise Entstand.
5. Krieg Italiens gegen das Osmanische Reich, zwecks Eroberung von Libyen, was dazu führt, das Italien in größerem Stil Kolonialmacht wird, als solche für die briten verwundbar und als Dreibundpartner eher weniger verlässlich, womit Deutschland zunehmend an Österreich verweisen bleibt, dass es nicht bereit ist, zu Gunsten eines Ausgleichs mit Russlands fallen zu lassen, außerdem daraus resultierend die Balkankriege eins und zwei, welche die Rollen Österreichs und Russlands als Partner und praktsiche Schutzmächte Bulgariens und Serbiens umkehren und für eine brandgefährliche Konstellation im Westbalkan sorgen, die wiederrum Österreich zu seiner agressiven Gangart verleitet.
Und das sind nur die großen Ereignisse, von den kleineren Entscheidungen und längerfristigen Strömungen, wo Europa ganz anders hätte abbiegen können, nicht zu reden.
Das alles Brauchte es für Weltkrieg Nr.1
Natürlich ist die bloße Existenz des deutschen Kaiserreichs eine Conditio-sine-qua-non für den ersten Weltkrieg, das soll nicht bestritten werden, aber ist es wirklich angebracht, eine Kontinuität zwischen der Gründung des Reichs und dem späteren Weltkrieg herzustellen?
Aus meiner Sicht nicht, ich kenne auch keinen der das mit Bestimmtheit tut.
Die Gründung dieses Reiches programmiterte gewisse Krisen vor, die in einen großen Krieg führen konnten. Aber das ist im Prinzip nichts neues und man konnte solche Krisen vor dem Weltkrieg auch oft genug abräumen. Wenn es alleine nach Potentialen geht, da hätte es den Ersten Weltkrieg schon in den 1850er Jahren geben können, denn wenn Österreich im Rahmen des Krimkrieges auf die Avancen einer der beiden Seiten eingagangen wäre und sich am Krieg beteiligt hätten, wäre ganz Europa faktisch im Krieg gewesen, denn das hätte auch die anderen Deutschen Staaten gezwungen irgendeine Position zu beziehen.
Nicht unwahrscheinlich, dass man dann z.B. die Neuauflage der Koalitionen des Wiener Kongresses Gb, Frankreich und Österreich vs. Russland und Preußen gehabt hätte.
Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 war im Wesentlichen ein Verteidigungskrieg gegen das Empire von Napoloen den Dritten. Das Reich war natürlich militaristisch, aber anscheinend in Europa an keinen Krieg beteiligt.
Im Gegenteil scheint die bismarksche Aussenpolitik im Ergebnis irgendwie funktioniert zu haben. Es herrschte weitgehend Frieden in Europa, Konflikte gab es eher in fernen Asien und Afrika, und der erste Kriegszug des vereinigten deutschen Kaiserreichs war der 1. Weltkrieg. Davor gab es Kolonialkriege, an denen anderen europäische Mächte aber auch beteiligt waren.
Mag das zweite Kaiserreich auch die Kriegsschuld am 1. Weltkrieg haben, so frage ich mich doch, ob es grechtfertigt ist eine Zeitraum von fast 50 Jahren (ein halbes Jahrhhundert) auf den Ausbruch dieses Kriegs zu reduzieren.
Die Frage lautet also: Ist es gerechtfertigt, die bloße Existenz des zweiten deutschen Kaiserreichs für den ersten Weltkrieg verantwortlich zu machen?
Ob das Kaiserreich wirklich
DIE Schuld am 1. Weltkrieg hatte, darf man sehr gerne in Zweigel ziehen. Sicherlich hat es durchaus einen hohen Anteil an der Gesamtverantwortung, aber um nochmal auf meine Einlassung hinsichtlich der Juikrise zurück zu kommen, hätte eigentlich jede beteiligte Macht, durch eigenes Zurückziehen den großen Krieg verhindern können, wenn sie bereit gewesen wäre die politsiche Konsequenzen zu akzeptieren und die wären vielleicht unangenehm gewesen, weil sie den betreffenden Akteur erstmal in die politische Isolation geführt hätten, aber keineswegs akut "lebensbedrohlich", sofern man den Begriff im Bezug auf Staaten sinnvoll verwenden kann.
Insofern, als dass im Grunde jeder die Möglichkeit hatte diese Situation durch eigenen Rückzug zu entschärfen, kann man jedenfalls sagen, dass die Parole "Wir wollen um jeden Preis den Frieden erhalten", auf keines der beteiligten Länder zutrifft.
Was im Umkehrschluss bedeutete, dass sie alle zum Krieg bereit waren, wenn sie den Preis des Friedens für unzumutbar hielten. Aus einem Kollektiv, dass so denkt, jetzt eine Macht herauszunehmen, die man für alleinschuldig für die Eskalation erklären will, erscheint mir falsch.
Sicherlich hat Deutschland durch den zu großen Einfluss des Militärs auf die Politik in der Julikrise und die Art und Weise der Planung, die dann kein Verhandeln mehr erlaubt, in dem Moment, wo die Mobilisierung losgeht, nochmal ein gesondertes Maß an Verantwortung, dass andere Akteure so nicht haben.
Aber auch das war nicht zwangsläufig systemimmanent, sondern liegt vor allem an der Durchsetzungsschwäche von KWII.
Der Wierderrum hätte als Monarch und oberster Kriegsherr Typen wie Moltke und Falkenhayn, wenn sie mit solchen plänen kamen, wie sie das taten, auch einfach rauswerfen und andere Persönlichkeiten damit beauftragen können, friedenskompatiblere Eventualszenarien zu entwerfen.
Weder das, noch überhaupt die Politik des Deutschen Reiches nach seiner Gründung waren bei der Gründung angelegt.
Bismarcks Nafhfolger hätten sich bei der Wahl ihrer Bündnispartner auch genau so gut für Russland und gegen Österreich-Ungarn entscheiden können, die Möglichkeit gab es.
Zeitweise wäre wohl auch ein Bündnis mit Großbritannien möglich gewesen, wenn der Kaiser und das Auswärtige Amt mal gewusst hätten, was sie eigentlich wollten, anstatt unrealistischen Vorstellungen der eigenen Weltgeltung und einer unklaren Schaukelpolitik nachzuhängen.
Das alles war nicht vorgegeben. Es konnte so kommen, aber es musste durchaus nicht.