Johann Adolf Graf Kielmannsegg war während des Krieges Oberst im Generalstab und verfügte sicher über Informationen aus hohen und höchsten Kreisen, sagte aber im Rahmen einer Dokumentation, dass er von konkreten Namen und dem ganzen Ausmaß, von Vernichtungslagern wie Auschwitz, Treblinka, Belzec und Sobibor erst nach dem Krieg erfahren habe. Auch Helmut Schmidt, der als Leutnant der Wehrmacht in Kontakt kam mit Offizieren, die dem NS-Regime gegenüber kritisch eingestellt waren, berichtete, dass er konkrete Namen von Vernichtungslagern und genaue Details wie der industrielle Massenmord durchgeführt und organisiert wurde, nach dem Krieg erfahren habe. Ich denke, man wird beiden das durchaus glauben können. Die Endlösung der Judenfrage war eine "geheime Reichssache." den Tätern wurde strengstens Stillschweigen auferlegt. Allerdings ließ sich ein Genozid an geschätzten 11 Millionen Juden nicht so geheim durchführen wie gewünscht. Es mussten verschiedene Dienststellen eingeweiht werden, es musste die Wehrmacht als Komplize verpflichtet werden. Die Dimensionen waren so gewaltig, dass notwendigerweise Hunderttausende von Menschen in irgendeiner Weise Zeugen und Mitwisser wurden. Die Judenverfolgung und Vernichtung wurde von vielen Zeitzeugen auch als etwas empfunden, das die Greuel des Krieges noch bei weitem übertraf. Der Kommissarbefehl, das erschießen von Kriegsgefangenen aus Bequemlichkeit, die "Vergeltungsmaßnahmen" wegen Partisanenaktivität, das alles war schlimm, mittlerweile aber so alltäglich geworden, dass es nicht mehr als skandalös empfunden wurde. Die Judenvernichtung, erst von Männern, bald auch von Frauen und Kindern war eine andere Qualität. Es gab manche Täter, die damit nicht fertig wurden, es kam zu Selbstmorden, Alkoholismus, Nervenzusammenbrüchen. Trotz jahrelanger Propaganda, trotz aller Versicherungen, dass das alles gut und richtig war, trotz der Abstumpfung und Verrohung die mit dem Unternehmen Barbarossa zwangsläufig einhergehen musste, war es etwas, das noch nie dagewesen war, etwas so widerliches und grausames, dass daneben die fast normal gewordenen Grausamkeiten des Krieges banal wirkten. Gleichzeitig verstand es das System, alle, die Zeugen der Judenvernichtung wurden, die mitbekamen wie Zivilisten und Rotarmisten Grausamkeiten angetan wurden, zu Mitwissern zu machen. Nach allem, was wir Rotarmisten und Zivilisten angetan haben, wird "der Russe" nicht differenzieren, ob man mitgemacht oder unfreiwillig Zeuge wurde.
Die Dimension der Judenverfolgung und -Vernichtung war viel zu monströs, als dass nicht Hunderttausende von Menschen etwas davon mitbekamen, mitbekommen mussten. Obwohl "geheime Reichssache", obwohl Täter und Mittäter zum strengsten Stillschweigen verpflichtet wurden, war das Wissen zu belastend, als dass man nicht wenigstens mit einer Vertrauensperson darüber gesprochen hätte. Ehefrauen, Geschwister, Eltern oder auch mal ein Pastor, die davon mitbekamen werden in den meisten Fällen das, was sie erfahren haben wiederum anderen anvertraut haben.
Hundertprozentiges Wissen über die genauen Abläufe, über die grausamen Details über "Mordfabriken" und Zuständigkeitsbereiche wird nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Bevölkerung besessen haben, immerhin dürften das 100 bis 150.000 Menschen gewesen sein. Die überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung hat zumindest durch Schlaglichter, durch Gerüchte und eigene Beobachtungen so viel mitbekommen und mitbekommen müssen, dass sie genau wussten, was sie genau nicht genau wissen wollten.
In meiner Kindheit und Jugend fiel mir oft auf, dass manchmal nur eine kleine Anspielung, ein Wort genügte, dass sich eisiges Schweigen verbreitete, als ob es eine Vereinbarung gäbe, ein bestimmtes Thema wie eine gefährliche Klippe zu meiden. Vordergründig war oft gar nicht ersichtlich, dass es um Kriegsverbrechen ging, wenn mal von "Sühnemaßnahmen", "Evakuierung" oder ähnlichem gesprochen wurde. Die Älteren wussten aber genau, was gemeint war und wer gemeint war. Sie konnten sofort die Zusammenhänge einordnen. Um das zu können, musste man einiges wissen und noch mehr ahnen. Wer von sich nach 1945 sagte, er habe von nichts gewusst, der muss taub und blind gewesen sein. Sicher mögen viele, vielleicht sogar die meisten erst nach 1945 von Mordfabriken wie Auschwitz und Treblinka gehört haben, und selbst viele der Opfer konnten bis zuletzt nicht glauben, dass so etwas möglich ist. Es übersteigt ganz einfach die Vorstellungskraft. Doch die Synagogen haben alle brennen sehen, die Maßnahmen von den ersten Boykotten 1933 über die Nürnberger Gesetze, die Novemberpogrome und die Kennzeichnung durch den Davidstern haben alle mitbekommen. In jedem Dorf, jeder Kleinstadt gab es Schilder, die Juden sagten, sie seien unerwünscht, die ihnen verboten, sich auf eine Parkbank zu setzen, den Aufzug zu benutzen, ein Schwimmbad oder auch nur den deutschen Wald zu betreten, einen Kanarienvogel oder Goldfisch, ein Radio, Auto, Fahrrad oder nur Schokolade zu besitzen. Mitschüler, Nachbarn, Vereinskameraden verschwanden, waren irgendwann einfach weg. Wurden "abgeholt" oder "mussten sich melden". Niemand konnte so naiv sein, zu glauben, man habe sie in die Sommerfrische geschickt.
Mehrere Jahre der Diktatur hatten die deutschen Volksgenossen zwar nicht gerade feinfühlig, aber sozusagen "feinhörig" gemacht. In vielen Bereichen genügte ein kleiner Hinweis. Die meisten Volksgenossen hatten gelernt, aus winzigen Anspielungen ihre Schlüsse zu ziehen, zwischen den Zeilen zu lesen, in Zusammenhängen zu denken und vor allem, den Mund zu halten. Das NS-Regime beschwor zwar immer wieder die Volksgemeinschaft, aber Bespitzelung allgegenwärtig, und das wussten alle "Volksgenossen". Manche versuchten, alte Rechnungen zu begleichen, und zeitweilig wurden Polizei- und Parteidienststellen von so vielen Denunziationen überschwemmt, dass die Gestapo darin ein Problem sah. Das schuf natürlich ein Klima des Misstrauens, der Angst und vor allem der Verdrängung, das durch die Verrohung und Traumatisierung großer Bevölkerungsteile durch den Kriegsalltag noch verstärkt wurde.