Serbien und seine spezielle Sicht auf die eigene Geschichte

"Die südosteuropäischen Nachfolgestaaten begründeten ihre Legitimität mit der angeblichen moralischen und politischen Überlegenheit im Vergleich zum osmanischen Regime." schreibt Maurus Reinkowski in "Das Osmanische Reich - ein antikoloniales Imperium". Diese Auffassung würde bedeuten, dass sich die scheinbar "Kolonisierten der Kolonialmacht in wirtschaftlicher, politischer und ideologischer Sicht" (i.S.v. Wolfgang Reinhard) überlegen fühlten und daher der Kolonial- und demzufolge auch Dekolonisationsbegriff nicht anwendbar wäre.
 
Ja, problematische Geschichtsbilder sehe ich hier einige, z.B. dann wenn ich lesen, dass Bosnien Teil der "Europäischen Türkei" gewesen sei.
Da scheint jemand glatt den türkischen Nationalstaat seit Attatürk mit dem Osmanischen Reich zu verwechseln.
Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff Türkei synonym für das Osmanische Reich verwendet.
Das kannst du doch auch im Brockhaus vom 1837 nachschlagen: "Bosnien, die westlichste der vier Provinzen oder Ejalets der europ. Türkei"

Der moderne Türkeibegriff von Atatürk ist hiervon klar zu unterscheiden.
Im 20. Jahrhundert wurde die Türkei als Nationalstaat der Türken verstanden. Die Grenzen dieser neuen Türkei wurden vor allem kriegerisch mit den neuen Nationalstaaten Osteuropas und den expandierenden Großmächten Russland, Frankreich und Großbritannien geklärt.
Und das es in dieser neue Türkei eine türkische Bevölkerungsmehrheit hat, liegt vor allem an Bevölkerungsaustausch, Umsiedlung, Vertreibung und Völkermord im 20. Jahrhundert.

Wenn schon der Name Mustafa Kemal "Atatürk" gefallen ist, möchte noch darauf hinweisen, dass viele Parallelen zwischen Dragutin Dimitrijevic "Apis" gibt. Beide vertraten einen scheinbar säkularen bis atheistischen Nationalismus und ihre Methoden waren Offiziersverschwörung, Militärputsch und Guerillakrieg.
Diese serbische Form des Nationalismus bzw. der jugoslawische Nationalismus ist eine ganz moderne und gefährliche Ideologie.
(Ein kleiner Treppenwitz zu beiden sind ihre Herkunftsfamilien. Mustafa Kemal wurde in Thessanoliki geboren und seine Familie hatte wahrscheinlich albanische Wurzeln. Das ist aber kein Grund nicht türkischer Nationalist zu werden. Die Familie von Dragutin Dimitrijevic war hingegen zinszarisch-arumonischer Herkunft - die ethnische Identität ud die balkanromanische Sprache sind fast ausgestorben.)

Warum das "Türkenjoch" an und für sich ein fehlgeleitetes, besonders und Deutschland und Österreich gepflegtes Narrativ sein soll, wüsste ich auch ganz gerne mal.
Türkenjoch ist ein deutsches Wort, das in der Zeit der Türkenkriege enstand.
"Befreiung vom Türkenjoch" war die ideologische Verklärung der Rückeroberung Ungarns, später auch für jede andere Süd-Ost-Expansion von Österreich-Ungarn.
Unter den Propagandabegriff "Befreiung vom Türkenjoch" fällt natürlich auch die Plünderung und Brandschatzung Sarajevos durch die Österreicher unter Prinz Eugen 1697.
Der Begriff Türkenjoch wurde später auch von deutschen Philhellenisten verwendet. Die Griechen selbst sprachen aber von Turkokratia, was Türkenherrschaft bedeutet.
Spielt das Türkenjoch in einem bosniakischen Geschichtsbild überhaupt eine Rolle? Wird von bosnaikischer Seite nicht eher die Osmanische Zeit verklärt? (Mit den Bosniaken meine ich jetzt die heutigen Bosniaken, also die muslimische Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina, vor ein paar Jahren noch bekannt als ethnische Muslime, slawische Muslime, muslimische Jugoslawen usw. usf. ...)

Denn wenn der jugoslawische Nationalismus dergestalt dominant gewesen wäre und es ein "Großserbentum" außerhalb "westlicher Propaganda" (was auch immer das konkret heißen will), nicht gab, erschließt sich mir ehrlich gesagt, das Auseinanderfallen Jugoslawiens nicht so ganz.
Ein Staat Jugoslawien existierte seit 1918. Nach dem Zerfall Jugoslawiens wurde Restjugoslawien völkerrechtlich nicht mehr als Jugoslawien anerkennt, obwohl jener Staat noch immer aus zwei Republiken, nämlich Serbien und Montenegro bestand, und sich selbst bis 2002 als Jugoslawien bezeichnete. Erst danach wurde dieses Restjugoslawien in "Serbien und Montenegro" umbenannt. In den deutschsprachigen Medien ist aber fast immer nur pars pro toto von Serbien die Rede gewesen, obwohl es mit Montenegro immer noch eine weitere Teilrepublik gab.
Wenn ein Serbe oder Jugoslawe in den 1990er "Jugoslawien" gesagt oder geschrieben hat, hat man das in Deutschland entweder als "Serbien" oder als "Großserbien" übersetzt. Warum nur?
 
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Ich verstehe. sowieso nicht warum Milosevic dieses Staatgebilde Jugoslawien nannte.

Es bestand aus Serbien und Montenegro welches bis heute ein verwirrendes Verhältnis zum Serbentum hat.

Bundesrepublik Serbien wäre doch auch möglich gewesen, mit dem eigentlichen Serbien, Montenegro und vielleicht der Vojvodina.

Dositej Obradovic ist der Vater des modernen serbischen Nationalismus. Sein Nationalismus war säkulär, er wollte die Serben dreier Gesetze/Religionen. Er starb 1811 und war erster Bildungsminister Serbiens. Ohne den Input von ihm und anderen österreichisch-serbischen Intellektuellen, ist es fraglich ob der Erste Serbische Aufstand jemals einen nationalen Charakter gehabt hätte oder ein Bauernaufstand geblieben wäre, welcher so auch in Anatolien stattfinden hätte können.

Irgendwie scheinen Leute wie Basara oder Latinka das nicht wahrhaben zu wollen.

- das ein Aufklärer.
- Zwar gläubiger Christ/Deist, aber von der Idee beseelt, dass von allen Religionen Wahrhaftiges steckt.
- Ein Frauenrechtler.
- Ein gebildeter Mann, 11 Sprachen sprechend.
- Ein Feminist.
- ein Mann aus der Vojvodina (eigentlich heutiges rumänisches Banat)

der VAter des modernen serbischen Nationalismus ist.

Das es in der Praxis, dann anders aussah sei mal dahingestellt.

Meine Diplomarbeit, da steht einiges dazu, wird bald dann elektronisch zugreifbar sein.

Zoran Jovic, Zeithistorische Reflexion der Geschichte Serbiens und Bosniens im 19. Jahrhunder (Wien 2016)
 
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Wenn man den jugoslawischen Nationalismus totschweigen will, ist es natürlich immer besser nur von Serbien oder Großserbien zu reden.

Bundesrepublik Serbien wäre doch auch möglich gewesen, mit dem eigentlichen Serbien, Montenegro und vielleicht der Vojvodina.
Milosevic hatte dafür sicherlich nationalistische Gründe.
Und wenn Milosevic Anhänger eines jugoslawischen Nationalismus war, ergibt es durchaus einen Sinn, auch jenes nur noch aus den Republiken Serbien und Montenegro bestehende Staatsgebilde weiterhin Jugoslawien zu nennen.
Die Sache war natürlich noch komplizierter, weil Milosevic nicht nur jugoslawischer, sondern auch serbischer Nationalist war.

Bundesrepublik Serbien wäre doch auch möglich gewesen, mit dem eigentlichen Serbien, Montenegro und vielleicht der Vojvodina.
Ich befürchte, dass eine offizielle Umbennung von Restjugoslawien in Serbien die innenpolitische Lage dort wesentlich verschlechtert hätte. Möglich wäre das sicherlich irgendwie gewesen, hätte aber einer möglichen montenegrinischen Unabhängigkeitsbewegung vielleicht Auftrieb gegeben und damit das weitere Auseinanderfallen Jugoslawiens beschleunigt. ( Aber hätte, hätte ... Fahrkette.)

In der realen Geschichte hatte eine andere Ausweitung des Serbien-Begriffs jedenfalls fatale Folgen.
Das Kosovo verlor 1989/1990 seinen Autonomiestatus innerhalb der Republik Serbien und auch seine Regionalregierung, wurde somit ein ganz normaler Teil der Republik Serbien. Vor dem Hintergrund einer kommunistischen Diktatur könnte man natürlich meinen, dass dieser Autonomiestatus eigentlich auch egal sein könnte, aber das dadurch veränderte Verhältnis von Serbien und Kosovo wirkte wie ein Brandbeschleuniger auf den Nationalitätenkonflikt.
 
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Serben/Jugoslawien scheinen scheinbar sowieso nicht ein Händchen zu haben für Bundesstaaten.

Entweder ist es zu zentralistisch.

Die montenegrinische Nationalbewegung gäbe es in dieser Form und Größe wohl nie, hätte man im Ersten Jugoslawien, Montenegro eine Autonomie innerhalb von Jugoslawien gegeben, mit der ganzen Herzegowina als "Geschenk". Wie Bayern im Kaiserreich Deutschland.

Oder es ist so dezentralisiert, dass der Staat kaum Handlungsfähig wurde. Serbien und Montenegro war so ein Fall, der Staat existierte auf der Landkarte und bei Sportveranstaltungen, das Heer wurde von Serbien bezahlt, dafür hatte Montenegro eine Polizei wie ein Heer ausgerüstet.

Wahrscheinlich war schon Jugoslawien 1989 zu Dezentralisiert. Jedenfalls sah der IMF das Problem, dass er zwar mit Jugoslawien ein Vertrag aushandeln kann, aber die Umsetzung völlig an den Republiken liegt. Dejan Jovic ein Zagreber Historiker (nicht mit mir verwandt) schrieb darüber, dass der Gesamtstaat fast handlungsunfähig war und Milosevic, wäre er nicht so ein gewaltverliebter Tyrann gewesen und mit Argumenten, wohl auch viele Kroaten und andere von einer Reform Jugoslawiens überredet hätte können.
 
Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff Türkei synonym für das Osmanische Reich verwendet.
Das kannst du doch auch im Brockhaus vom 1837 nachschlagen: "Bosnien, die westlichste der vier Provinzen oder Ejalets der europ. Türkei"


Der moderne Türkeibegriff von Atatürk ist hiervon klar zu unterscheiden.
Im 20. Jahrhundert wurde die Türkei als Nationalstaat der Türken verstanden. Die Grenzen dieser neuen Türkei wurden vor allem kriegerisch mit den neuen Nationalstaaten Osteuropas und den expandierenden Großmächten Russland, Frankreich und Großbritannien geklärt.
Und das es in dieser neue Türkei eine türkische Bevölkerungsmehrheit hat, liegt vor allem an Bevölkerungsaustausch, Umsiedlung, Vertreibung und Völkermord im 20. Jahrhundert.
Ja, im Brockhaus von 1937 kann ich sicher auch nachschlagen, dass das Baltikum unter anderem auch Finnland umfasst und in dem 20 Jahre davor, dass sich das Königreich Ungarn von der Grenze gegen Galizien bis in den Kapartenbogen erstreckt.

Indess ob sich jemals irgendein Finne als "Balte" verstanden haben mag oder der orthodoxe Sprecher des Rumänischen sich für einen Ungarn, sind dann etwas andere Fragen.
Warum genau, sollte nun der gemeine Bosnier irgendwann in der Mitte des 19. Jahrhunderts von sich aus auf die Idee kommen, dass er in der "Europäischen Türkei" lebte?
Weil ihm der Brockhaus von 1837 diese Raumaufteilung so vorgeschrieben hatte oder weswegen?

Türkenjoch ist ein deutsches Wort, das in der Zeit der Türkenkriege enstand.

Wohigegen "Europäische Türkei" natürlich eine klassisch bosnische Wortschöpfung aus dem 19. Jahrundert ist um die eigene Beindung an Istanbul zu bekunden, ist schon klar. :)


"Befreiung vom Türkenjoch" war die ideologische Verklärung der Rückeroberung Ungarns, später auch für jede andere Süd-Ost-Expansion von Österreich-Ungarn.
Verzeihung, von welcher anderen Süd-Ost-Expansion, nach dem Frieden von Karlowitz oder spätestens Passarowitz, was ja aber insgesamt noch in ähnliche Kontexte fällt, ist da jetzt genau die Rede?


Und darüber hinaus, auch wenn dieser Begriff vielleicht anachronistisch erscheint, ist wie gesagt, die osmanische Herrschaft in weiten Teilen des Balkans durchaus offensichtlich als "Joch" empfunden worden.
Ich frage nochmal, warum sonst die ganzen entsprechenden Unabhängigkeitsbewegungen, wenn die Bewohner der entsprechenden Regionen sich doch gerne als Untertanen des Osmanischen Sultans oder gar als "Europäische Türken" sahen?

Unter den Propagandabegriff "Befreiung vom Türkenjoch" fällt natürlich auch die Plünderung und Brandschatzung Sarajevos durch die Österreicher unter Prinz Eugen 1697.
Der Begriff Türkenjoch wurde später auch von deutschen Philhellenisten verwendet. Die Griechen selbst sprachen aber von Turkokratia, was Türkenherrschaft bedeutet.

Ähm ja und weil mit solchen Vorstellungen in Teilen Problematische Episoden zusammenhingen, schließt das aus, dass Teile der damaligen Bevölkerungen solchen oder ähnlichen Narrativen anhingen?
Wie lange hat sich in den protestantischen Gebieten Deutschlands das Bild von Gustav II. Adolf als Vorkämpfer und Retter des Protestantismus gehalten, trotz der Tatsache, in welcher Weise seine Truppen in Pommern und Brandenburg hausten und plünderten?


Spielt das Türkenjoch in einem bosniakischen Geschichtsbild überhaupt eine Rolle? Wird von bosnaikischer Seite nicht eher die Osmanische Zeit verklärt? (Mit den Bosniaken meine ich jetzt die heutigen Bosniaken, also die muslimische Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina, vor ein paar Jahren noch bekannt als ethnische Muslime, slawische Muslime, muslimische Jugoslawen usw. usf. ...)

Ich kann mir vorstellen, dass diese Zeit vielleicht heute von Menschen verklärt wird, die sie nicht mehr erlebt haben und dass dann wohl auch vor allem im Kontext eines Vergleiches mit dem späteren Jugoslawien.
Was hat aber das Geschichtsbild der heutigen bosnischen Bevölkerung oder von Teilen damit zu tun, wie die vor 100-200 Jahren in der Region lebenden Menschen die Angelegenheit beurteilten?
Mag sein, manch einer wird da die vorrangegangene Osmanische Herrschaft über die Provinz als erträglicher empfunden haben, als dann die spätere Österreichisch-Ungarische Herrschaft.
Will ich gar nicht bestreiten.
Ich möchte nur hinterfragen, ob man es hier tatsächlich mit einem verklärt positiven Bild oder einfach nur mit der Wahl des geringeren Übels zu tun hatte.
In dem Sinne kann man natürlich hinterfragen ob man sich in Bosnien nach dem faktischen Übergang von der Osmanischen in die Österreichisch-Ungarische Herrschaft so besonders befreit fühlte.

Ob daraus aber zwangsläufig resultiert, dass man sich dem Osmanischen Reich irgendwie enger zugehörig fühlte, ist dann eine andere Frage, die Option "Unabhängigkeit", war in dem Kontext einmal nicht gegeben.
Es fällt sowohl wegen der sparchlichen Verwandtschaft, als auch wegen der religiösen Zugehörigkeit weiter Teile der Bevölkerung nicht schwer, dass die Mehrheit der Bevölkerung, wenn sie 1878 vor der Wahl gestanden hätte zum Osmanischen Reich, zu Serbien oder zur K.u.K.-Monarchie zu gehören, diese Bevölkerung sich sehr wahrscheinlich auf Grund kultureller Bindungen eher für das Osmanische Reich oder Serbien entschieden hätte, als für die Donaumonarchie.
Aber wie gesagt, da wäre zu klären ob dass dann nicht einfach lediglich die Wahl zwischen geringeren Übeln und die Unterwerfung unter ein als weniger schlimm erwartets Joch gewesen wäre.
 
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Ein Staat Jugoslawien existierte seit 1918. Nach dem Zerfall Jugoslawiens wurde Restjugoslawien völkerrechtlich nicht mehr als Jugoslawien anerkennt, obwohl jener Staat noch immer aus zwei Republiken, nämlich Serbien und Montenegro bestand, und sich selbst bis 2002 als Jugoslawien bezeichnete. Erst danach wurde dieses Restjugoslawien in "Serbien und Montenegro" umbenannt. In den deutschsprachigen Medien ist aber fast immer nur pars pro toto von Serbien die Rede gewesen, obwohl es mit Montenegro immer noch eine weitere Teilrepublik gab.
Wenn ein Serbe oder Jugoslawe in den 1990er "Jugoslawien" gesagt oder geschrieben hat, hat man das in Deutschland entweder als "Serbien" oder als "Großserbien" übersetzt. Warum nur?

Verzeihung, in den Deutschsprachigen Medien ist auch nach wie vor von Großbritannien die Rede und nicht etwa vom Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland.

Was ist das jetzt? IRA-Propagana, weil im Jargon der Medien Nordirland als Teil dieses staatlichen Gebildes nicht mehr explizit erwähnt wird?
Oder ist das in den 1960er Jahren hängengebliebene Kreml-Propaganda, die auf diese Art und weise den Britischen Imperialismus zu geißeln versucht?
Oder ist das das eine Spitze gegen das "perfide Albion", was kulturell aus den vergangenen Beiden Weltkriegen hängengeblieben ist?

Ich würde meinen, dass das ein bisschen überempfindliches Reinlesen von Dingen ist, die so einfach nicht gegeben sind.

Und realpolitisch betrachtet, welches tatsächliche Gewicht hatte denn die Teilrepublik Montenegro im serbisch-montenegrinischen Staatswesen noch?
Gemessen an der Bevölkerungsgröße der beiden verbliebenen Teilrepubliken, musste da doch vollkommen klar sein, dass in diesem staatlichen Gebilde der Ton maßgeblich von Serbien aus angegeben wurde, weil dieses Gebiet nunmal 80% der Bevölkerung stellte, während Montenegro de jure sicherlich dazu gehörte, realpolitisch aber nichts anders mehr war, als ein Anhängsel Serbiens bei diesen demographischen Gewichtungen.

Wie gesagt, ich will nicht bestreiten, dass es sowas wie einen jugoslawischen Nationalismus gegeben hat, und das teilweise auch außerhalb der mehrheitlich serbischen Gebiete.
Innerhlab dieser Gebiete hatte dieser aber auch immer mit einem slowenischen und einem kroatischen Nationalismus zu konkurrieren und Anhänger dieser Nationalismen werden in Ablehnung des Jugoslawischen diesen eher für chauvinistisches Großserbentum gehalten haben.
Damit ist "Großserbentum", schlechterdings allerdings dann schon ein bisschen mehr, als ein reiner Propagandabegriff "westlicher" Medien, sondern es war ganz offensichtlich zumindest eine Argumentationsfigur des slowenischen und kroatischen Nationalismus.

Was den serbischen Part betrifft, sehe ich da auch ein gewisses Nebeneinander, dann daruch dass die Serben innerhalb Jugoslawiens die nummerisch deutlich stärkste Gruppe stellten, dürfte es da ja noch relativ einfach gewesen sein, Großserbentum und Jugoslawentum inhaltlich zur Deckung zu bringen.
Einem größeren Verband anzugehören und ein Interesse am Zusammenhalt dieses Verbands zu bekunden, fällt demjenigen, der innerhalb dieses Verbandes tonangebend ist oder sich ausrechnen kann, dass er das sein würde, offensichtlich nicht besonders schwer.


Wo in den 1990er Jahren, jeder der sich als Jugoslawe bezeichnet hat, konsequent zum Serben gestempelt worden wäre, kann ich auch nicht so ganz nachvollziehen.
Wenn da jemand von sich sagte, dass er ethnischer Kroate aber für den Zusammenhalt Jugoslawiens sei, warum hätte man ihn zum "Serben" stempeln sollen?
Das man wenn es um die Staatsbezeichnung ging, mit dem Begriff "Jugoslawien" etwas vorsichtig wurde, nachdem man Slowenien und Kroatien als eigenständig anerkannt hatte, um etwaigen Revisionsansprüchen direkt eine Abfuhr zu erteilen, kann ich auch nachvollziehen, immerhin war damals, jedenfalls in den frühen 1990ern ja auch noch eine Politikergeneration am Ruder die Weltkrieg und unmittelbaren Nachkriegszeit ja durchaus noch bewusst erlebt hatte.
"Jugoslawien" ist ja auch nie eine x Beliebige Länderbezeichnung gewesen, sondern Trägt den Anspruch die Vereinigung aller Südslawen darzustellen, ja bereits im Namen.
Auch vor dem Hintergrund verständlich, dass man mit Rücksicht auf die Slowenen und Kroaten, die da ganz offensichtlich nicht mehr hineinvereinigt werden wollten, von dieser Bezeichnung abgegangen ist.
 
Wenn Serbien am Balkan expandiert, ist das "aggressive Expansion".
Na ja, das wird nicht ohne Grund gesagt.

Zerfall Jugoslawiens begann bald nach Titos Tod 1980. Der Grund waren vor allem wirtschaftliche Schwierigkeiten, denen man mit untauglichen Mitteln begegnete. Die Auslandsverschuldung und Inflation stiegen und die Reallöhne sanken. Die Folge waren landesweite Streiks, die 1981 z.B. in Kosovo von Polizei und Armee brutal niedergeknüppelt wurden. Sie forderten die Anerkennung ihrer autonomen Provinz als Republik, was als Konterrevolution bezeichnet wurde.

Im Jahr 1982 meldete sich die orthodoxe Kirche zu Wort und veröffentlichte einen „Appell zur Verteidigung der serbischen Bevölkerung und seiner Heiligtümer in Kosovo".

In den folgenden Jahren wurde von der SANU (Serbische Akademie der Wissenschaften und Künste) ein Memorandum verfasst, in dem „nationale und kulturelle Integrität des serbischen Volkes, unabhängig in welcher Republik oder Region sie leben“ gefordert wurde. Als dieses Memorandum 1986 in Teilen bekannt wurde, wurde es als Aufruf zur Großserbien verstanden. Als Konsequenz darauf reagierten die anderen Teilrepubliken mit eigenen nationalen Programmen.

Im Jahr darauf, also 1987, kam in der Republik Serbien Slobodan Milosevic an die Macht, der nur noch Serbien in Blick hatte und die jugoslawische Regierung weitgehend ignorierte - Zitat:

In mehreren Städten der Wojwodina, Montenegros und Serbiens wurden seit Mitte 1988 perfekt inszenierte "Demonstrationen" abgehalten, auf denen sich der serbische "Volkswille" immer vehementer und aggressiver artikulierte. Die Rhetorik auf diesen "Meetings" bewegte sich zwischen Beschwörung historischer Opfermythen und Verfolgungsängsten auf der einen und dem Ruf nach einer serbischen Sammlungsbewegung auf der anderen Seite. Die 600-Jahr-Feier der Kosovo-Schlacht am 28. Juni 1989 gestaltete sich zum Höhepunkt der nationalistischen Mobilisierungswelle. Bereits zuvor - im Oktober 1988 und im Januar 1989 - waren unter dem Druck der Straße die politischen Führungen der Wojwodina und Montenegros zurückgetreten und durch Milosevic-treue Cliquen ersetzt worden.

Neu aufflammender Widerstand in Kosovo wurde mit großer Brutalität durch Armee und Polizei erstickt. Im März 1989 wurde die Autonomie Kosovos und der Wojwodina durch eine serbische Verfassungsänderung, die de facto gegen die Bundesverfassung von 1974 verstieß, drastisch eingeschränkt. Gleichwohl verzichtete Milosevic nicht auf die Stimmen beider Provinzen in den jugoslawischen Bundesorganen. Serbien hatte nun drei bzw. nach der Gleichschaltung Montenegros vier Stimmen, das heißt, ebenso viele Stimmen wie alle anderen vier Republiken Jugoslawiens zusammen. Damit hatte die offene Demontage des zweiten Jugoslawien begonnen.


Diese Chronologie der Ereignisse beweist, wer an der Zerstörung Jugoslawiens die Hauptschuld trägt.

Und Unterdrückung der Slawen gab es nur "angeblich", weil die Habsburger so feine Reformbemühungen hatten.
Sowohl Österreicher als auch Osmanen haben ihren Völkern ihre Kultur und ihre Sprache gelassen, aber etwas werden konnte (höherer Staatsdienst) in beiden Staaten nur, wenn er katholisch war und deutsch sprach bzw. Moslem war und türkisch sprach.

Für den Autor Florian Hassel ist klar, dass Serbien Schuld am 1. Weltkrieg hat. Dabei ignoriert er natür völlig, dass die Attentäter von Sarajevo aus Bosnien stammten, teilweise nicht mal eine serbisch-orthodoxre Herkunft hatten und sich als Jugoslawen oder Serbokroaten indentifizierten. Man kann nicht so tun, als wären die Sarajevo-Attentäter nur Agenten Serbiens. Sie stammten aus Bosnien, hatten eigene politische Pläne und Ansichten und konnten frei entscheiden von welcher Großmacht sie sich instrumentalisieren lassen oder nicht.
Das ändert nichts an der Tatsache, dass sie sich in Serbien vom serbischen Geheimdienst haben ausbilden und zum Attentat instruieren haben lassen.
 
Warum genau, sollte nun der gemeine Bosnier irgendwann in der Mitte des 19. Jahrhunderts von sich aus auf die Idee kommen, dass er in der "Europäischen Türkei" lebte?
Weil ihm der Brockhaus von 1837 diese Raumaufteilung so vorgeschrieben hatte oder weswegen?
Der Brockhaus von 1837 soll verdeutlichen, dass die Begriffe wie Türkei und Türke im frühen 19. Jahrhundert, bevor der Nationalismus in Mode kam, noch ganz anders verwendet wurden als im 20. Jahrhundert bzw. nach 1918. Die Bewohner des osmanischen Bosnien mussten sicherlich nicht im Brockhaus nachschlagen, um zu erfahren, dass sie im Eyalat Bosnien und im Sanschak Novi Pasar leben.
Einen gemeinen Bosnier hat es im 19. Jahrhundert und danach sicherlich nie gegeben, allein schon weil Bosnien zu der Zeit mehrsprachig und multireligiös war.
Im 19. Jahrhundert wurde die Begriffe Muslim und Türke durchaus als synonym verwendet und vielfach identifizierten sich Muslime mit slawischer Muttersprache als Türken - teilweise beteiligten sich Muslime vom Balkan trotz albanischer oder slawischer Sprache auch jungtürkischen Nationalismus. Zu beachten ist auch, dass viele slawisch-sprachige Muslime nach der Eroberung Bosnien durch KuK nach Anatolien flohen und sich später an der türkischen Ethnogenese in der heutigen Türkei beteiligten - d.h. Türken wurden oder blieben.
Möglichkeiten zur nationalen Selbstidentifikation gab es natürlich noch andere, z.B. solche modernen Trendnationalismen wie den Jugoslawismus.
Damit ist "Großserbentum", schlechterdings allerdings dann schon ein bisschen mehr, als ein reiner Propagandabegriff "westlicher" Medien, sondern es war ganz offensichtlich zumindest eine Argumentationsfigur des slowenischen und kroatischen Nationalismus.
Offensichtlich hat Deutschland die Narrative slowenischer und kroatischer Nationalismen übernommen. Warum derartige Begrifflichkeiten auch im deutschsprachigem Diskurs fast derart omnipräsent sind.
Den Zusatz "westlich" habe ich gewählt, weil ich die Konflikte am Balkan für eine Art Ost-West-Konflikt halte - vor dem Hintergrund, dass Serbien meistens mit Russland verbündet war, während Deutschland und Österreich-Ungarn mit den westlichen Südslawen, namentlich den Kroaten und Slowenen verbündet war.
1914 stehen auf der einen Seite ein serbisch-russisches Bündnis und auf der anderen Seite ein Bündnis bekanntermaßen aus Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich - also die beiden gar nicht der Westen, sondern die Mittelmächte. Die Balkankriege der 1990er sind auch eine Art neuer Ost-West-Konflikt.

Gerade im Narrativ "Pulverfass Balkan" wird einseitig den Bewohnern des Balkans die Schuld an den Kriegen angelastet und die Beiträge der Großmächte zur Eskalation übersehen. Dann wird behauptet, diese Balkanvölker müssten mit harter Hand regiert werden oder die Österreicher müssten irgendeine Zivilisation beibringen und andere reaktionär Unfug. Ein gutes Beispiel dafür ist der vom Threaderöffner verlinkte Artikel von Florian Hassel aus der Süddeutschen Zeitung.

Wo in den 1990er Jahren, jeder der sich als Jugoslawe bezeichnet hat, konsequent zum Serben gestempelt worden wäre, kann ich auch nicht so ganz nachvollziehen.
Das war ungefähr in jeder Folge der Tagesschau der Fall.

Ich möchte aber lieber wieder über 1914 und die Attentäter von Sarajevo diskutieren bzw. über die ethnischen und nationalen Zuschreibungen der Attentäter.
Diese Attentäter werden nämlich als Serben abgestempelt, obwohl sie gar nicht alle ethnische Serben waren, sie alle aus Bosnien stammten und sie sich bei Befragungen als Jugoslawen und Serbokroaten identifizerten.

Muhamed Mehmedbašić, ein Komplize der Sarajevo-Attentäter, stammte zwar aus einer muslimische Familie in Herzegowina, identifizierte sich jedoch mit der Schwarzen Hand, Mlada Bosna (=junges Bosnien) und dem jugoslawischen Nationalimus.
Warum wird er einfach als Serbe abgestempelt?
 
Der Brockhaus von 1837 soll verdeutlichen, dass die Begriffe wie Türkei und Türke im frühen 19. Jahrhundert, bevor der Nationalismus in Mode kam, noch ganz anders verwendet wurden als im 20. Jahrhundert bzw. nach 1918. Die Bewohner des osmanischen Bosnien mussten sicherlich nicht im Brockhaus nachschlagen, um zu erfahren, dass sie im Eyalat Bosnien und im Sanschak Novi Pasar leben.
Einen gemeinen Bosnier hat es im 19. Jahrhundert und danach sicherlich nie gegeben, allein schon weil Bosnien zu der Zeit mehrsprachig und multireligiös war.
Im 19. Jahrhundert wurde die Begriffe Muslim und Türke durchaus als synonym verwendet und vielfach identifizierten sich Muslime mit slawischer Muttersprache als Türken - teilweise beteiligten sich Muslime vom Balkan trotz albanischer oder slawischer Sprache auch jungtürkischen Nationalismus. Zu beachten ist auch, dass viele slawisch-sprachige Muslime nach der Eroberung Bosnien durch KuK nach Anatolien flohen und sich später an der türkischen Ethnogenese in der heutigen Türkei beteiligten - d.h. Türken wurden oder blieben.
Möglichkeiten zur nationalen Selbstidentifikation gab es natürlich noch andere, z.B. solche modernen Trendnationalismen wie den Jugoslawismus.

Gut, nehmen wir uns das an.

Du unterstellst zum einen dass es nicht ungewöhnlich gewesen wäre, dass sich Bosnier zu dieser Zeit mit der Bezeichnung "Türke" identifiziert hätten um mehr oder minder im Nachsatz hinterher zu werfen, dass es den "gemeinen Bosnier" aber nicht gegeben hat, weil multireligiös und mehrsparchig.
Das nennt sich "contradictio in adiecto", würde ich meinen, denn der Anspruch der allgemeinen Gültigkeit des Narrativs, setzt ja durchaus vorraus, dass es den Normalbosnier eben doch gab und konstituierte er sich nur dadurch, dass er sich in dem Narrativ einig war irgendwie "Türke" zu sein, wenn gleich er wohl kaum hätte erklären können, wie er denn "türkisch" war.

Der Brockhaus von 1837 ist kein Beleg dafür, als was genau sich die bosnische Bevölkerung in nämlichem Zeitrahmen betrachtet oder benannt hat, sondern dafür wie das Konstrukt in Mitteleuropa genannt wurde. Das dabei religiöse und ethnische Konnotationen im 19. Jahrhundert gerne einmal durcheinander gehauen wurden, wundert mich so überhaupt nicht, ist ja etwa ganz das Gleiche bei den Termini "Hindu" und "Inder" und zeugt in diesem Sinne ersmtmal nur von geringer Differenzierungsfähigkeit der Zuschreibenden.
Entsprechend würden mich Quellen interessieren, aus denen hervor geht, dass sich im nämlichen Zeitraum die Bevölkerung Bosniens selbst mehrheitlich für explizite "europäische Türken", wie du schriebst, hielt, nicht etwa für muslimische Slawen oder Untertanen des Osmanischen Sultans oder dergleichen.
Ich halte das nämlich für nachgerade unwahrscheinlich.

Das es, im besonderen unter den intellektuellen Eliten vereinzelt Persönlichkeiten gab, die sich eine entsprechende Identität zulegten, will ich nicht bestreiten, zumal das Osmanische Reich von seinem Aufbau her insgesamt ja auch immer auf Integration der Eliten an der Peripherie ausgelegt war.
Ich will auch nicht bestreiten dass es vereinzelte Bewohner Bosniens gab, die sich eine dezidiert ethnische Identität aus Türken zuzulegen versuchten (das sind ja alles Phänomene, die es im übrigen Europa auch hat) oder dass es nach der Besatzung diverse vormalige Bewohner Bosniens (nämlich vorwiegend diejenigen, die ihre Privilegien dadurch los wurden und sich daher mit der Hohen Pforte einmal besser standen, als mit Wien und Budapest), sich nach Anatolien aufmachten.
Mag alles sein.

Nur wenn du das als Argument heranziehst, um damit nachzuweisen, dass das Narrativ vom "Türkenjoch" für die gesamte Bevölkerung Bosniens absurd gewesen wäre, stilisierst du das damit zum Massenphänomen und das wiederrum möchte ich anzweifeln.
Wie gesagt, mit einem Postulat, nachdem sich ein Großteil der Bevölkerung durch Österreich-Ungarn nicht unbedingt "befreit" fühlte, kann ich durchaus mitgehen.
Völlig klar, dass die muslimischen Bosnier eher Bezugspunkte zum Osmanischen Reich oder zu Serbien und die ortodoxen Bosnier, jedenfalls zu Serbien hatten, als zur Doppelmonarchie.

Das gerade die ortodoxen Bosnier aber das Osmanische Reich so unbedingt vermisst hätten und sich selbst für europäische Türken hielten, halte ich für ein Gerücht.
Wie es mit den abhängigen muslimischen Kleinbauern stand, vermag ich da nicht zu beurteilen, immerhin verhieß die Aufnahme in den mittel-osteuropäischen Kontext im rahmen Österreich-Ungarns ja wenigstens einen perspektivischen Abbau der Feudallasten.
Ob dieser Bevölkerungsteil deswegen jetzt unbedingt Österreicher oder Ungarn werden wollte, sei mal dahin gestellt, aber für ebenso bezweifelnswert halte ich persönlich die Vorstellung, dass sie der Osmanischen Herrschaft allzu lange nachgetrauert haben.
Denn wenn es sich mit den kleinbäuerlichen Schichten in diesem Gebiet auch nur annähernd so verhält, wie im restlichen Europa, hielten die sich erst für Bauern, dann für Bewohner Bosniens, dann irgendwann man für Muslime und dann am Ende vielleicht noch für Untertanen des Sultans, aber sicherlich nicht für "europäische Türken".

Wie ich das hier sehe (und ich lasse mich gerne durch einschlägige Quellen eines besseren belehren), versuchst du hier die Positionen und Identitäten abseitiger Minderheiten für mehrheitsfähig zu erklären und argumentierst auf dieser Grundlage.



Offensichtlich hat Deutschland die Narrative slowenischer und kroatischer Nationalismen übernommen. Warum derartige Begrifflichkeiten auch im deutschsprachigem Diskurs fast derart omnipräsent sind.
Den Zusatz "westlich" habe ich gewählt, weil ich die Konflikte am Balkan für eine Art Ost-West-Konflikt halte - vor dem Hintergrund, dass Serbien meistens mit Russland verbündet war, während Deutschland und Österreich-Ungarn mit den westlichen Südslawen, namentlich den Kroaten und Slowenen verbündet war.
1914 stehen auf der einen Seite ein serbisch-russisches Bündnis und auf der anderen Seite ein Bündnis bekanntermaßen aus Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich - also die beiden gar nicht der Westen, sondern die Mittelmächte. Die Balkankriege der 1990er sind auch eine Art neuer Ost-West-Konflikt.

Gut, du bist ein Freund offener Worte, ich auch, also Tacheles:

Oben hast du noch postuliert, das "Großserbentum" bzw. "Großserbien" oder "Großserben" seien mehr oder minder reine "westliche Propagandabegriffe" und als Westen definierst du hier Deutschland, Österreich und Ungarn bzw. deren Politik, Presse, veröffentlichte oder öffentliche Meinung oder was auch immer.

Mit einem Blick auf die Landkarte, möchte ich zunächst anmerken, dass mich die Verortung Ungarns im dezidierten Westen, sowohl von diversen Teilen Jugoslawiens aus, als auch im Kontext der frühen 1990er Jahre sehr erheitert hat.

Dann, hast du damit ursprünglich nichts anderes postuliert, als dass es ein Großserbien oder Großserbentum überhaupt nicht gab, bis die westliche Propaganda, also die politik und Presselandschaft Deutschlands, Österreichs und Ungarns diese denkfiguren erfunden und in die Köpfe der Slowenen und Kroaten verpflanzt haben um Serbien zu schaden.
Ich muss dir ganz ehrlich sagen, die Theorie halte ich für aluhut-reif.

Man wird einmal akzeptieren müssen, dass es diese Denkfiguren in Slowenien und Kroatien einmal gegeben hat und gibt.
Mag sein, dass sich diese Auffassungen in Deutschland durchgesetzt haben. Ich frage mich nur, warum das jetzt illegitimer sein soll, als wenn sich eher in Belgrad kursierende Auffassungen durchgesetzt hätten.

Ich würde meinen, dass von Slowenischer und Kroatischer Seite dabei nicht mehr und nicht minder auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker abstellte, als es im Prinzip der ganze südslawische Nationalismus tat, so lange entsprechende Gebiete noch unter osmanischer, österreichisch-ungarischer oder italienischer Kontrolle standen.

Das Jugoslawentum hatte dabei sicherlich eine ganz ähnliche Verklmmerungsfunkion, wie weiland die Monarchie in Österreich-Ungarn, auf die sich alle Völker, die das Länderkonglomerat bewohnten, noch irgendwie als Modus Vivendi verständigen konnten. Aber das war eben offensichtlich in beiden Fällen nicht für die Ewigkeit.

Die Ansicht, die jugoslawischen Zerfallskriege seien eine neue Art Ost-West-Konflikt gewesen, dürftest du exklusiv haben, denn einen größeren, wirklich Handlungsfähigen Block im Osten gab es ja nicht mehr.
Warum man in Deutschland, Österreich oder Ungarn so scharf auf den Zerfall Jugoslawiens gewesen sein sollten, müsstest du mir auch mal erklären.
Auf die zu erwartenden Flüchtlinge war sicherlich niemand scharf, auch nicht auf die zu erwartenden Nachfolgekonflikte, die komplizierte Gestaltung der Beziehungen zu den verschiedenen neu entstehenden Akteuren und in Wien und Budapet hatte man sicher auch besseres zu tun, als sich einen ausgedehnten Bürgerkriegsraum direkt hinter der eigenen Grenze zu wünschen.
Für alle drei Staaten, wäre vom strategischen Standpunkt her ein weiterhin vereinigtes Jugoslawien, mit dem man sich, nachdem Russland als ernsthafte machtpolitische Alternative erstmal ausfiel, sicherlich gut hätte stellen können, wahrscheinlich wünschenserter und von größerem Wert gewesen.
 
Gerade im Narrativ "Pulverfass Balkan" wird einseitig den Bewohnern des Balkans die Schuld an den Kriegen angelastet und die Beiträge der Großmächte zur Eskalation übersehen. Dann wird behauptet, diese Balkanvölker müssten mit harter Hand regiert werden oder die Österreicher müssten irgendeine Zivilisation beibringen und andere reaktionär Unfug. Ein gutes Beispiel dafür ist der vom Threaderöffner verlinkte Artikel von Florian Hassel aus der Süddeutschen Zeitung.

Nunja, sagen wir es mal so:
Wir hatten im vergangenen Jahrhundert 2 Balkankriege, den dort gestarteten 1. Weltkrieg und dann am Ende des jahrhunderts die jugoslawischen Zerfallskriege.

Im Hinblick auf den ersten Weltkrieg, möchte ich dir zustimmen. Da haben sicherlich die Rivalität zwischen Österreich-Ungarn und Russland und die entsprechenden Bündniskonstellationen mit Serbien und Bulgarien nicht zur Entschärfung der Situation beigetragen, sondern waren eher so eine Art Brandbeschleuniger.

Aber die anderen Ereignisse?

Russland hat zwar seinerseits als Architekt des Balkanbundes an diesem Zusammenschluss reichlich mitgewirkt, aber es hat diese Staaten durchaus nicht dazu angestiftet über das Osmanische Reich herzufallen.
Genau so wenig haben die Großmächte und ihre Konkurrenz einen besonderen Beitrag zum Lostreten des 2. Balkankrieges geleistet.
Und auch, wenn man sich die Jugoslawischen Zerfallskriege anschaut, waren das nicht irgendwelche konkurrierenden Großmächte, die das losgetreten haben.

Ich komme zu dem Schluss, dass 3 von 4 der größeren kriegerischen Ereignisse auf dem Balkan in die verschiedenen Gruppen auf dem Balkan maßgeblich involviert waren, von den keinen Balkanstaaten oder den verschiedenen ethnien dort so ziemlich im Alleingang losgetreten wurden.
Mit den beiden Weltkriegen mag sich das anders verhalten, nur mindestens im Bezug auf den 2. kenne ich niemanden, der jemals vom "Pulverfass Balkan" gesprochen hätte, im Bezug auf den Ersten gebe ich dir insofern recht, dass da gerne die Rückkopplung mit der Großmachtspolitik übersehen wird.

Die anderen drei Ereignisse zeigen die Eigendynamik des Raums aber durchaus eindrucksvoll, dass wird man schwerlche abstreiten können. Und so gesehen, war der Balkan ein Pulverfass und ist es in Teilen noch. Ob es das Potential zum europäischen Flächenbrand hat, ist eine gänzlich andere Frage.

Wo ist denn heute noch vorherrschende Meinung, dass Balkanvölker mit harter Hand regiert oder Österreich zivilisation bringen müsste?
Ich würde meinen, im Punkto Anerkennung der Selbstregierungs- und Selbstverwaltugsfähigkeit der Balkanvölker und Staaten ist der ach so pöse Westen wesentlich konsequenter, als etwa die Hälfte der serbischen Bevölkerung, die bis zum heutigen Tag der Meinung ist, der Kosovo müsse mit harter Hand regiert werden und zwar von Belgrad aus.

Ich möchte aber lieber wieder über 1914 und die Attentäter von Sarajevo diskutieren bzw. über die ethnischen und nationalen Zuschreibungen der Attentäter.
Diese Attentäter werden nämlich als Serben abgestempelt, obwohl sie gar nicht alle ethnische Serben waren, sie alle aus Bosnien stammten und sie sich bei Befragungen als Jugoslawen und Serbokroaten identifizerten.

Den Attentätern wurde anno 1914 in der Österreichischen, ungarischen und deutschen Presse oder Teilen davon zugeschrieben Serben zu sein.
Aber wer tut das denn heute noch? Jede neuere Publikation, die ich zu dem Thema kenne, bezeichnet die Attentäter entweder konsequent als "Bosnier" oder als "bosnische Serben" und betont gleichermaßen die Rolle, die der Serbische Geheimdienstes bei der Angelegenheit, mal mehr, mal weniger.

Die Behauptung, es habe sich explizit um "Serben" gehandelt, finde ich so eigentlich nicht mehr, jedenfalls nicht verbreitet.






Muhamed Mehmedbašić, ein Komplize der Sarajevo-Attentäter, stammte zwar aus einer muslimische Familie in Herzegowina, identifizierte sich jedoch mit der Schwarzen Hand, Mlada Bosna (=junges Bosnien) und dem jugoslawischen Nationalimus.
Warum wird er einfach als Serbe abgestempelt?

In dem von dir verlinkten Wiki-Artikel wird er klar als Bosnier benannt, nicht als Serbe. Und einen deutschsprachigen Artikel bei Wiki, der ihn als Serben benennt, sehe ich da auch nicht. Würdest du freundlicherweise einig (ernstzunehmende) Publikationen benennen, in der er und die übrigen Attentäter und Helfer zu lupenreinen Serben gestempelt werden?

Eine frage hätte ich noch.

Warum hieß der Verein eigentlich "Mlada Bosna" und nicht "Mlada Türkiye", wenn sich die muslimische Bevölkerung Bosniens, wie von dir postuliert eigentlich für europäische Türken hielt und warum setzte er sich für die Eigenständigkeit Bosniens oder den jugoslawischen Nationalismus ein, wenn man es dort angeblich mit den Jungtürken hielt und warum wurde keine Wiedervereinigeung mit den ja immerhin noch existierenden Sehnuchtsort des Osmanischen Reiches angestrebt, wenn die "Türkenzeit" doch so viel toller war und man ihr angeblich in breiter Masse hinterther trauerte?
Würde mich am Rande interessieren, warum da auf einmal eine Hand voll Jahre nach der endgültigen Annexion der jugoslawische Nationalismus so viel attraktiver war, als der deinem Postulat nach ursprünglich wesentlich wirkungsmächtigere Türkische?
 
Andere Stellen (mystisches Serbentum, Geschichte des Absurden) und vor allem die Nennung von Basara deuten darauf hin, dass du mit dem Geschichtsbild von des sogenannten "Zweiten Serbien Bewegung" anhängst.

Kategorisierungen jeglicher Art begegne ich zumeist mit einer gewissen Skepsis. Ich fühle mich auch keinen Ideologien zugehörig, deshalb gibt es auch keinen Grund mich irgendeiner Zweiten Serbischen Begegnung zuzuschreiben.

Ich habe aber, da du so hartnäckig und ausführlich darüber schreibst, nachgelesen was diese "2. Bewegung" ist.
Das sind nicht nur politische Gegner Milosevics im Sinne von "gleiche Sch....e, nur anders verpackt", es handelt sich dabei auch um Antimilitaristen, Pazifisten, Antifaschisten und einfach Leute, die Gewalt und Ultranationalismus nicht als Lösungsstrategie betrachten wollten und dagegen opponiert haben.
Das heißt nicht unbedingt, dass es sich dabei um reine naive Liberal-Kolibris handelte, es waren auch Leute dabei, die durchaus die "tieferen strategischen" Nationalinteressen der Serben im Sinne hatten, aber eine andere Lösungsstrategie, v.a. im Rahmen demokratischer Wahlen, bevorzugten - wie etwa Vuk Draskovic.

Das soll jetzt keine Einladung sein über Vuk Draskovic zu referieren, er sei nur als Beispiel genannt, dass nicht nur "Linke" in der Opposition waren.

Ich finde dass das Benutzen von Worten wie "Narrativ" hier im Forum, aber auch im Sinne von politischen Strömungen, nicht unbedingt zielführend ist. Du schreibst doch selber wie idiotisch dieses Narrativ des 2. Serbien ist.

1) Wenn du das jemandem im Forum andichtest, suggerierst du, dass er eine Agenda hat. Wenn jemand eine nationalistische oder anti-irgendwas-Agenda hat, kann man das sehr leicht anhand dessen verblödeter Kommentare durchschauen. Ich war in diesem Forum bereits vor einem Jahrzehnt angemeldet und habe hier viel mitgeschrieben, weiß daher, wovon ich rede,

2) Im Sinne politischer Strömungen könnte man dann behaupte, dass die Grünen, die CDU, die SPD usw. jeweils einem eigenen Narrativ folgen - ich habe nie davon gehört, dass man im öffentlichen Raum so über Parteien schreibt. Das wäre sogar sehr kritisch von den Medien und gerade deshalb sehr ungewöhnlich, da es suggeriert, dass die Parteien ein Narrativ "verkaufen" wollen:
- Das Narrativ der SPD ist die Steigerung des Realeinkommens der "Arbeiterklasse"
- Das Narrativ der CDU ist eine christlich-soziale Erziehung der Bevölkerung
Das sind jetzt komplett vereinfachende, triviale Aussagen, die nicht einmal stimmen müssen, und die als Kernaussagen eines parteidefinierenden "Narrativs" dienen können, welches aber natürlich nur als "Stellvertreter" für andere Interessen und Strukturen dient, aber öffentlich so "verkauft" wird.

Wenn eine bunt durchgemischte Opposition demnach gegen Gewalt und unfaire Wahlen demonstriert, ist das nicht unbedingt ein "Narrativ", sondern einfach nur "Opposition".

By the way:
Ich denke kaum, dass es zu einer Zeit am Balkan, als man mit aller Gewalt versuchte alle Spuren des osmanischen Reiches abzuwerfen (inkl. Kampf und leider auch Massenmord) und man mit Nation Building beschäftigt war, es tatsächlich "Liberale" oder "Progressive" im heutigen Sinne gab. Man muss Sozialwissenschafts-Lexika konsultieren, um selbst Leute im "höher entwickelten" "Westen" zu finden, die ehrlich progressive Gedanken hegten. Und das betrifft dann nicht nur den Nationalgedanken, sondern auch Frauenrechte usw..

Ich verstehe zwar, worauf du hinaus willst und wieso du Dositej Obradovic ins Spiel gebracht hast. Danke für die Ausführungen, aber das war meiner Meinung nach nicht notwendig, da ich diesbezüglich komplett schmerzfrei und unberührt bin, regelrecht jungfräulich.
 
Ich glaube nicht, dass der Begriff "Dekolonialisierung" auf das Osmanische Reich angewendet werden sollte.

Finde ich schon, Habe diesbezüglich einen sehr interessanten Eintrag im Handbuch der Soziologie (
Nina Baur, Hermann Korte, Martina Löw, Markus Schroer, 2008, S. 72) gefunden, der auf den Balkan zutrifft:

"Weltweit besonders wichtige, oft gewalttätige und kriegerische Prozesse, die die Entstehung ethnischer Gruppen fördern, waren und sind Kolonialisierung und Dekolonialisierung. Insbesondere für postkoloniale Situationen ist dabei einer der zentralen Abläufe die Erfindung von (nationalen) Traditionen. Ethnische Gruppen – oder fast noch problematischer das Konstrukt des Stammes – sind erfundene Traditionen, einerseits bestimmt durch die Kolonialherren sowie deren Wissenschaftler und Missionare und andererseits durch lokale Intellektuelle und Politiker, die durch ihr Forschen und Arbeiten daraufhin wirken, eine Form nationaler Geschichtsschreibung und eine Nationalsprache zu entwickeln. Ein einfaches Beispiel zur Konstruktion von Geschichte ist Estland, das 1993 den 75. Jahrestag der Staatsgründung (1918) feierte, gerade so, als ob die Sowjetzeit nie existiert hätte
(Bös/Zimmer 2006: 177). Ethnopolitische Strategien sind oft ein Elitephänomen (Brass 1991): Politische Eliten
versuchen durch Rekurs auf ethnische Gemeinschaften beziehungsweise ethnische Unterdrückung ihre Legitimität zu erhöhen. So bezeichnet etwa Michael Hechter (1975) das Verhalten der britischen Zentralregierung gegenüber der Bevölkerung von Wales als ‚internal colonialism‘. Grundsätzlich werden historische Prozesse über dasselbe Zentrum- und Peripheriemodell rekonstruiert, wie wir es schon bei Anthony D. Smith kennengelernt haben. Zentraler Unterschied ist nicht der Erfindungscharakter, den ethnische Traditionen haben, sondern das Spezifikum der kolonialen bzw. postkolonialen Situation, das zu besonderen Dynamiken in der Nationalstaatenbildung führt."

Der Begriff Großserbien ist eigentlich nur ein westlicher Propagandabegriff, mit dem ein jugoslawischer Nationaismus geleugnet werden soll.

Da sind wir wiederum nicht so weit voneinander entfernt. Durch die diversen Agitationen der verschiedenen Akteure in der Vergangenheit und der sich daraus politisch (national, international) ergebenden Entwicklungen, vor allem in den 90er Jahren, wird der Begriff "Großserbien" mittlerweile inflationär eingesetzt und auch mit legitimen Nationalinteressen der Serben gleichgesetzt. Der serbische Ultranationalismus der 90er Jahren wurde und wird, v.a. im Westen, überkompensiert. Und das eben v.a. aufgrund von Massenverbrechen wie Srebrenica etc.. Zoki zitiert oben ungefähr, dass man die Geschichte Serbiens nicht durch die Srebrenica-Brille betrachten sollte. Tja, das nicht zu tun ist angesichts der Schwere der Ereignisse tatsächlich recht schwer. Tatsache ist, und das ist mir aber auch persönlich aufgefallen, dass ich in Serbien selber fast nie die Wortkonstellation "Velika Srbija" gehört habe, das aber praktisch bei allen serbischen Anliegen in den Nachbarstaaten den Serben pauschal unterstellt wird.

Wer "Serbien muss sterbien" heute noch vertritt, wüsste ich gerne. Ich kenne da niemanden namenhaftes, der das tut und ich sehe auch keine sonstwie besonders populäre Rezeption, die das vertritt. ...
Denn dass es eingen jugoslawischen Nationalismus grundsätzlich gab, ist ja kein Beleg dafür, dass dieser im Bereich des heutigen Slowenien oder Kroation oder Bosnien in diesem Sinne auch mehrheitsfähig gewesen wäre und nicht von der dortigen Bevölkerung für eine bloße Verbrämung eines ebenfalls existierenden Großserbentums gehalten wurde.
Denn wenn der jugoslawische Nationalismus dergestalt dominant gewesen wäre und es ein "Großserbentum" außerhalb "westlicher Propaganda" (was auch immer das konkret heißen will), nicht gab, erschließt sich mir ehrlich gesagt, das Auseinanderfallen Jugoslawiens nicht so ganz.

Zum 2. Absatz: Gerade Kroaten waren starke Befürworter und auch Mitbegründer des Panslawismus. Zu dieser Zeit gab es einen ganz feinen Übergang zwischen jugoslawischem und serbischem Nationalismus und die Serben genossen regional und überregional, zumindest bei den slawischen Völkern, NOCH einen guten Ruf. Der serbische Mythos war bei den umliegenden Völkern irgendwie ein freiheitliches Ideal. "Großserbien" war damals, falls dieser Begriff in der Form damals überhaupt "großflächig" angewendet wurde (was ich bezweifle), nicht unbedingt ein negativer Begriff.
Es kam zum nationalen "Erwachen" dieser Völker und die ganzen Eigenarten und Grundlagen des Nationalbewusstseins wurden erst konkretisiert und es befand sich alles in der Konsolidierung. Die primären Widersacher dieses Nation Buildings waren die k.u.k. Monarchie und das Osmanische Reich.

Zum 3. Absatz: Das 2. Jugoslawien basierte auf der Person Tito und einer Müdigkeit in der Bevölkerung aufgrund der vorher geschehenen Umwälzungen. Der jugoslawische Nationalismus war immer ein "Hintergrundrauschen", natürlich gab es viele Anhänger, aber darunter köchelte immer der ethnische Nationalismus weiter, und sollte wieder hochkochen, sobald eine politische und wirtschaftliche Instabilität Überhand nehmen sollte.
Zerfall: Das "Großserbentum" hat eine große Mitschuld, aber nicht die Alleinschuld. Bei fast allen Völkern kamen Hardliner und Ethnopolitiker an die Macht mit einem eigenen Plan für einen Nationalstaat. Die Serben haben dank stümperhafter Politik und eines öffentlichen Auflebens des serbischen Mythos den anderen nationalistischen Politikern ermöglicht auf Serbien mit dem Finger zu zeigen und zu sagen: "Schauts, darum wollen wir weg!".

Ich möchte noch etwas anfügen, weil hier von Mitdiskutanten so argumentiert wird, als wäre Milosevic immer jugoslawischer Präsident gewesen. Er war von 1989 bis 1997 Präsident SERBIENS und hat, genauso wie alle anderen Ethnopolitiker, die gesamtstaatlichen Lösungen in seinem persönlichen Interesse "offen hintertrieben".
Diese etwas paradoxe Wortkonstellation steht in Klammer, da gerade die serbischen Politiker in den 90er Jahren an kognitiver Dissonanz gelitten haben müssen.
Denn man hat sich auf der anderen Seite als Rechtsnachfolger Jugoslawiens verkauft und als "letzte Bastion des Jugoslawentums", um auf der anderen Seite ethnopolitische Ziele zu verwirklichen.
Ungefähr so: "Schauts wir wollen eh, aber die anderen wollen ned, und darum müssen wir jetzt auch a bisserl auf uns schauen."
Milosevic unterstützt die Serben Kroatiens und Bosniens beim Aufstand, um sie nachher mehr oder weniger fallen zu lassen.
Milosevic setzt sich für serbische Gebiete in Bosnien ein, um dann Karadzic zu sagen, dass er komplett unmenschlich gegen die nichtserbische Zivilbevölkerung vorgehe und die aktuelle Aufteilung Bosniens für die anderen Völker "unfair" sei.
Das zeigt zumindest eines: Milosevic war ein Machtkalkulant, der situationselastisch und in seinem persönlichen Sinne gehandelt hat und keinen Tau gehabt hat was er eigentlich will, und dem es vor allem darum ging ihn, seine Familie und sein Netzwerk an der Macht zu halten.
Und viele Serben haben da womöglich mitgemacht, weil man die nationalistischen Phantasien ausleben konnte und man gleichzeitig irgendwie als "Jugoslawe" dastand (was einem die anderen Völker aber nicht abgekauft haben).
 
Zuletzt bearbeitet:
Kategorisierungen jeglicher Art begegne ich zumeist mit einer gewissen Skepsis. Ich fühle mich auch keinen Ideologien zugehörig, deshalb gibt es auch keinen Grund mich irgendeiner Zweiten Serbischen Begegnung zuzuschreiben.

Ich habe aber, da du so hartnäckig und ausführlich darüber schreibst, nachgelesen was diese "2. Bewegung" ist.
Das sind nicht nur politische Gegner Milosevics im Sinne von "gleiche Sch....e, nur anders verpackt", es handelt sich dabei auch um Antimilitaristen, Pazifisten, Antifaschisten und einfach Leute, die Gewalt und Ultranationalismus nicht als Lösungsstrategie betrachten wollten und dagegen opponiert haben.
Das heißt nicht unbedingt, dass es sich dabei um reine naive Liberal-Kolibris handelte, es waren auch Leute dabei, die durchaus die "tieferen strategischen" Nationalinteressen der Serben im Sinne hatten, aber eine andere Lösungsstrategie, v.a. im Rahmen demokratischer Wahlen, bevorzugten - wie etwa Vuk Draskovic.

Das soll jetzt keine Einladung sein über Vuk Draskovic zu referieren, er sei nur als Beispiel genannt, dass nicht nur "Linke" in der Opposition waren.

Ich finde dass das Benutzen von Worten wie "Narrativ" hier im Forum, aber auch im Sinne von politischen Strömungen, nicht unbedingt zielführend ist. Du schreibst doch selber wie idiotisch dieses Narrativ des 2. Serbien ist.

1) Wenn du das jemandem im Forum andichtest, suggerierst du, dass er eine Agenda hat. Wenn jemand eine nationalistische oder anti-irgendwas-Agenda hat, kann man das sehr leicht anhand dessen verblödeter Kommentare durchschauen. Ich war in diesem Forum bereits vor einem Jahrzehnt angemeldet und habe hier viel mitgeschrieben, weiß daher, wovon ich rede,

2) Im Sinne politischer Strömungen könnte man dann behaupte, dass die Grünen, die CDU, die SPD usw. jeweils einem eigenen Narrativ folgen - ich habe nie davon gehört, dass man im öffentlichen Raum so über Parteien schreibt. Das wäre sogar sehr kritisch von den Medien und gerade deshalb sehr ungewöhnlich, da es suggeriert, dass die Parteien ein Narrativ "verkaufen" wollen:
- Das Narrativ der SPD ist die Steigerung des Realeinkommens der "Arbeiterklasse"
- Das Narrativ der CDU ist eine christlich-soziale Erziehung der Bevölkerung
Das sind jetzt komplett vereinfachende, triviale Aussagen, die nicht einmal stimmen müssen, und die als Kernaussagen eines parteidefinierenden "Narrativs" dienen können, welches aber natürlich nur als "Stellvertreter" für andere Interessen und Strukturen dient, aber öffentlich so "verkauft" wird.

Wenn eine bunt durchgemischte Opposition demnach gegen Gewalt und unfaire Wahlen demonstriert, ist das nicht unbedingt ein "Narrativ", sondern einfach nur "Opposition".

By the way:
Ich denke kaum, dass es zu einer Zeit am Balkan, als man mit aller Gewalt versuchte alle Spuren des osmanischen Reiches abzuwerfen (inkl. Kampf und leider auch Massenmord) und man mit Nation Building beschäftigt war, es tatsächlich "Liberale" oder "Progressive" im heutigen Sinne gab. Man muss Sozialwissenschafts-Lexika konsultieren, um selbst Leute im "höher entwickelten" "Westen" zu finden, die ehrlich progressive Gedanken hegten. Und das betrifft dann nicht nur den Nationalgedanken, sondern auch Frauenrechte usw..

Ich verstehe zwar, worauf du hinaus willst und wieso du Dositej Obradovic ins Spiel gebracht hast. Danke für die Ausführungen, aber das war meiner Meinung nach nicht notwendig, da ich diesbezüglich komplett schmerzfrei und unberührt bin, regelrecht jungfräulich.


Sprechen wir über Politik oder Geschichte und ja das Geschichtsbild vieler Leute um Latinka Perovic ist genauso mythenhaft wie der Nationalisten. Darum geht es mir, dass war meine Kritik an deinem Post. Das mir Latinka und andere menschlich sympathischer sind, als Seselj steht auf anderem Blatt.

Das Vuk Draskovic jemals zu dieser Bewegung gezählt hätte, wäre mir neu.
 
Zum 2. Absatz: Gerade Kroaten waren starke Befürworter und auch Mitbegründer des Panslawismus. Zu dieser Zeit gab es einen ganz feinen Übergang zwischen jugoslawischem und serbischem Nationalismus und die Serben genossen regional und überregional, zumindest bei den slawischen Völkern, NOCH einen guten Ruf. Der serbische Mythos war bei den umliegenden Völkern irgendwie ein freiheitliches Ideal. "Großserbien" war damals, falls dieser Begriff in der Form damals überhaupt "großflächig" angewendet wurde (was ich bezweifle), nicht unbedingt ein negativer Begriff.
Es kam zum nationalen "Erwachen" dieser Völker und die ganzen Eigenarten und Grundlagen des Nationalbewusstseins wurden erst konkretisiert und es befand sich alles in der Konsolidierung. Die primären Widersacher dieses Nation Buildings waren die k.u.k. Monarchie und das Osmanische Reich.

Die K.u.K.-Monarchie und das Osmanische Reich waren primäre Widersacher des Nation Buildings? Weiß ich nicht. Sie waren natürlich massive Gegner eigener südslawischer Staatlichkeit. Aber inwiefern haben sie die kulturelle Ausprägung eines entsprechenden Nationalbewustseins entscheidend behindert?


Zum 3. Absatz: Das 2. Jugoslawien basierte auf der Person Tito und einer Müdigkeit in der Bevölkerung aufgrund der vorher geschehenen Umwälzungen. Der jugoslawische Nationalismus war immer ein "Hintergrundrauschen", natürlich gab es viele Anhänger, aber darunter köchelte immer der ethnische Nationalismus weiter, und sollte wieder hochkochen, sobald eine politische und wirtschaftliche Instabilität Überhand nehmen sollte.
Zerfall: Das "Großserbentum" hat eine große Mitschuld, aber nicht die Alleinschuld. Bei fast allen Völkern kamen Hardliner und Ethnopolitiker an die Macht mit einem eigenen Plan für einen Nationalstaat. Die Serben haben dank stümperhafter Politik und eines öffentlichen Auflebens des serbischen Mythos den anderen nationalistischen Politikern ermöglicht auf Serbien mit dem Finger zu zeigen und zu sagen: "Schauts, darum wollen wir weg!".
Ich bin auch weit davon entfernt überhaupt irgendwelche Schuldzuschreibungen machen oder ein Narrativ für falsch oder richtig erklärem zu wollen.
Es ist aber auch eine Tatsache, dass sich ja schon während der 1930er Jahre im besonderen der Kroatische Nationalismus ganz deutlich bemerkbar machte.
Die Kroatische Kooperation mit NS-Deutschland und Italien im 2. Weltkrieg, nach der Besetzung Jugoslawiens kam ja auch nicht von ungefähr.
Das war sicherlich nicht die Bevölkerungsmehrheit, sondern das waren die äußersten Extremisten, aber es waren immerhin genug um ein weitgehend Tragfähiges Regime zu installieren. Das Verschwand ja mit der Befreiung Jugoslawiens nicht einfach, auch wenn die Vertreter dieser Richtungen poltische erstmal abgewirtschaftet hatten.

Wie gesagt, mir gehts überhaupt nicht um die Verschiebung irgendeiner Verantwortung, sondern rein um die Feststellung, dass es die Vorstellung einer Fremdbeherrschung durch Serbien, vor allen Dingen in Kroatien schon sehr lange gab und dass entsprechende damit verbundene "großserbische" Narrative keinesfalls Erfindungen irgendwelcher Propagandamedien in Deutschland, Österreich oder Ungarn sind, wie @Maglor das postuliert hat.
 
Die K.u.K.-Monarchie und das Osmanische Reich waren primäre Widersacher des Nation Buildings? Weiß ich nicht. Sie waren natürlich massive Gegner eigener südslawischer Staatlichkeit. Aber inwiefern haben sie die kulturelle Ausprägung eines entsprechenden Nationalbewustseins entscheidend behindert?

Gehört Staatenbildung nicht zum Nation Building? Ist Nation Building nicht mehr als eine kulturelle Ausprägung eines Nationalbewusstseins?

Dem Rest kann ich nur zustimmen. Zum serbischen Nationalismus und zur Destruktivität des serbischen Mythos habe ich ja oben bereits meine Meinung kundgetan.
Es war natürlich nicht alles Friede-Freude, es gab ja schon, wenn ich mich richtig erinnere, im 17. und 18. Jahrhundert Versuche seitens der katholisch-slawischen bzw. kroatischen Elite, die orthodoxe Bevölkerung der habsburgischen Militärgrenze zu katholisieren, und man versuchte das in Wien durchzusetzen.
Und natürlich wurden von diversen serbischen Akteuren (Ilija Garasanin und Co.) Kroaten als "katholische Serben" bezeichnet und sollten Teil des neuen serbischen Staates werden.
Darum auch meine Frage an Zoki irgendwo in diesem Forum, ob es Beweise für die Existenz "katholischer Serben" im 18. oder 19. Jahrhundert gibt, weil ich das nur von der serbisch-nationalistischem Rhetorik kenne.
Wann genau die Sympathie zugunsten eines offenen Antagonismus umschlug (in Bezug auf die Mehrheitsmeinung) würde mich selber sehr interessieren.
Ich schätze einmal gegen Ende des 19. Jahrhunderts bzw. Anfang des 20., und spätestens nach dem Ersten Weltkrieg.
 
"Die südosteuropäischen Nachfolgestaaten begründeten ihre Legitimität mit der angeblichen moralischen und politischen Überlegenheit im Vergleich zum osmanischen Regime." schreibt Maurus Reinkowski in "Das Osmanische Reich - ein antikoloniales Imperium". Diese Auffassung würde bedeuten, dass sich die scheinbar "Kolonisierten der Kolonialmacht in wirtschaftlicher, politischer und ideologischer Sicht" (i.S.v. Wolfgang Reinhard) überlegen fühlten und daher der Kolonial- und demzufolge auch Dekolonisationsbegriff nicht anwendbar wäre.
So wie ich es verstehe behandelt Dein interessanter Link den von Dir hervorgehoben Aspekt erst ab dem 19. Jahrhundert.
Will man die Geschehnisse dieser Zeit auf einer Bühne der Dekolonisation sehen, so beginnt sie auf dem Balkan doch gerade zu dieser Zeit.
Verbunden ist sie m. E. sicher mit dem Entstehen des Nationalismus. Dieser findet sein erstes großes "Erwachen" mit der Gründung Amerikanischen Nation, die untrennbar mit einer frühen Dekolonisation verbunden ist.

Insofern würde ich den Gedanken, dass man die Situation Serbiens vor dem Ersten Weltkrieg unter der Voraussetzung des Geschehens einer Dekolonisation gewinnbringend anwenden kann nicht verwerfen.
Sondern vermute eher, dass dieser Aspekt ein bisher zu wenig beachtetes Licht auf die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs werfen kann, und auch auf die Rolle Serbiens dabei.
 
Nach dem Zerfall Jugoslawiens wurde Restjugoslawien völkerrechtlich nicht mehr als Jugoslawien anerkennt, obwohl jener Staat noch immer aus zwei Republiken, nämlich Serbien und Montenegro bestand, und sich selbst bis 2002 als Jugoslawien bezeichnete.
Genauer gesagt wurde dem geschrumpften Jugoslawien 1992 von den UN die Anerkennung seiner Rechtskontinuität mit dem früheren Jugoslawien verweigert und es als neu entstandener Nachfolge-Staat betrachtet, was u. a. zur Folge hatte, dass Jugoslawien nicht mehr UN-Mitglied war.
Das kann man natürlich durchaus kritisch sehen, zumal Russland nach dem Zerfall der UdSSR sehr wohl die Rechtsnachfolge der Sowjetunion zugestanden wurde.

In den deutschsprachigen Medien ist aber fast immer nur pars pro toto von Serbien die Rede gewesen, obwohl es mit Montenegro immer noch eine weitere Teilrepublik gab.
Wenn ein Serbe oder Jugoslawe in den 1990er "Jugoslawien" gesagt oder geschrieben hat, hat man das in Deutschland entweder als "Serbien" oder als "Großserbien" übersetzt. Warum nur?
Das lag wohl daran, dass Milosevic die maßgebliche Person war, obwohl er von 1989 bis 1997 "nur" Präsident der Teilrepublik Serbien war. Die Vorsitzenden des Präsidiums der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (bis 1992) und danach jugoslawischen Präsidenten (Cosic und Lilic) führten vergleichsweise ein Schattendasein. Das änderte sich erst als Milosevic 1997 selbst jugoslawischer Präsident wurde.
Insofern finde ich es nicht verwunderlich, wenn davon die Rede war, der "serbische Präsident" oder einfach nur "Serbien" tue dies oder das.
 
Gehört Staatenbildung nicht zum Nation Building? Ist Nation Building nicht mehr als eine kulturelle Ausprägung eines Nationalbewusstseins?


Darum auch meine Frage an Zoki irgendwo in diesem Forum, ob es Beweise für die Existenz "katholischer Serben" im 18. oder 19. Jahrhundert gibt, weil ich das nur von der serbisch-nationalistischem Rhetorik kenne.

In Dubrovnik sicher. Dort gab es eine ganze serbisch-katholische Bewegung, aber nur kurz. Wobei Dubrovnik ist sowieso ein eigene Geschichte. Bis zum 19. Jahrhundert war die ethnische Zugehörigkeit "Dubrovniker" und die Sprache "naski" die Unsere.

Ivo Banac dazu.

Banac, Ivo (1983). "The Confessional "Rule" and the Dubrovnik Exception: The Origins of the "Serb-Catholic" Circle in Nineteenth-Century Dalmatia".


Ein Grabstein eines serbischen Katholiken in Zadar.

1

VIVITE MORTALES CVRE QOT VIVITIS ANOS
NON SIT. SED VOBIS Q BONA VITA FVIT
STEPHANO. ZOVINICHIO.
SERVIANO. VI. TURCHAR
PROFVGO. VIRO. OPT.
PATRI. CHARISS. BONAE Q.
INDOLIS. V. FRATRIB.
DILECTISS. DESCE-
NDENTIB Q. IO IOVINVS.
IV. VT. DOC. VNA.
CVM. MATRE. VRSVLA.
PIENTISS. MOESS. Q. POSV.
OB. M. D. XXVII. DIE
XXV. AVGVSTI.
- SI -

Im Zumberak gibt es heute keine Orthodoxen und Serben, aber einige Dörfer sind serbisch gewesen. Hir die Privilegien von Kaiser Leopold.

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4


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Ich hab auch nicht gesagt 18. und 19. Jahrhundert, sondern allgemein. Wahrscheinlich gab es auch zu tausenfach vor allem in Bosnien am Anfang der Osmanischen Herrschaft den Übertritt von Katholiken in die Orthdooxen. Diese kroatischen Orthdoxen wurden genauso Serben, wie die katholischen Serben Kroaten.
 
Spielt das Türkenjoch in einem bosniakischen Geschichtsbild überhaupt eine Rolle? Wird von bosnaikischer Seite nicht eher die Osmanische Zeit verklärt? (Mit den Bosniaken meine ich jetzt die heutigen Bosniaken, also die muslimische Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina, vor ein paar Jahren noch bekannt als ethnische Muslime, slawische Muslime, muslimische Jugoslawen usw. usf. ...)

Solltet ihr Interesse habt können wir einen eigenen Thread aufmachen.

Das Türkenbild der Osmanen ist sehr vielschichtig. Einerseits ist man stolz auf die vielen bosniakischen Würdenträger, andererseits versucht man sich selber mit dem mittelalterlichen Bosnien zu identifizieren. Das geht nicht wirklich ohne Widersprüche, die man irgendwie zurechtbiegt.

So ist in den letzten Jahren das Interesse an den Muslimen im eigentlichen Serbien in der osmanischen Zeit gewachsen. Irgendwie will man die 67.000 muslimischen und mehrheitlich serbokroatisch sprechenden, von Evlija Celebija beschriebenen Muslimen in dieses Narrativ pressen. Most 174 (85) - Abdulah Talundžić: Džamije u Beogradu poslije odlaska Turaka, Esad Rahić: “Beograd je bio kinjasti MUSLIMANSKI grad, divila mu se čitava EVROPA” | - Sandžak Danas (sandzakdanas.rs)


Retten will man den Bosnien Bezug damit, dass man ausgeht, dass diese Menschen aus Bosnien stammen und nach den Kriegen gegen die Österreicher und ihren serbischen Verbündeten und dann den Kriegen der Serben, einfach zurückgekehrt sind. So kann man sowohl eine Kontinuität zwischen mittelalterlichen Bosnien und allen serbokroatischen Muslimen konstruieren. Ich bin da sehr kritisch, ich gehe davon aus, wenn Belgrad die größte muslimische serbokroatische Community hätte, der Begriff Bosniake für alle sich nicht durchgesetzt hätte.

Esad Rahic geht sogar soweit das bis 1804 (also dem Beginn des Ersten Serbischen Aufstands), Zentralserbien mehrheitlich muslimisch war. (2) Južni Sandžak – Beiträge | Facebook Dies ist Wunschdenken, die muslimische Bevölkerung Zentralserbiens wurde schon beim Großen Türkenkrieg vertrieben und vernichtet. Belgrad war ein Kaff von 6.000 (nach dem Großen Türkenkrieg) und die Muslime konzentrierten sich nur auf die Städte und einigen nahen Dörfer. Die serbischen Rebellen und Gesetze des 19. Jahrhundert haben dann nur noch den Rest, der muslimischen Bevölkerung vertrieben oder ermordet. Iseljavanje muslimana iz Srbije - Wikipedia

Bleiben konnten nach 1867 nur die Muslime die sich zum Serbentum bekannten oder sich als Roma identifizierten, den diese bekamen nur die serbische Staatsbürgerschaft. Die große Masse der übrig gebliebenen Muslime war zu stolz für diesen Schritt. Die meisten verließen Serbien Richtung Podrinje (Srebrenica, Zvornik, Bratunac e.t.c.), der Posavina (Brcko, Samac e.t.c.) und Sarajewo. Ich habe ein Gespräch von Cedomir Antic und Predrag J. Markovic gehört, wo diese beiden (in Serbien sehr publikumswirksame öffentliche Historiker, welche ständig in den Medien waren) Historiker meinten die Übergabe der Städte und der erlaubte Exodus der Muslime war ein Geschenk an Serbien, weil die Serben trotz massiven öffentlichen Drucks und dem Willen des Militärs, den Russen nicht im Krimkrieg beistanden.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die muslimischen alten Familien in der Zeit des osmanischen Reichs, fast alle eine Familiengeschichte weitergaben, in welcher diese Familien von türkischen, arabischen oder persischen Familien abstammen. Was witzig war wenn Familien mit den Familiennamen (Vidajic (von slawischen Namen Vidoje), Brankovic (vom Namen Branko, diese Familie ist meiner Hypothese auch Schuld, dass Vuk Brankovic als Verräter im Kosovo Mythos gilt, anfänglich behauptete diese Familie sie stamme von den Brankovics ab, später wurde ein orientalischer Mythos geschaffen) oder Ostojic (vom slawischen Ostoja) behaupten sie würden direkt im Mannesstamm aus dem Orient stammen. Heute wollen sich alle Muslime von bosnischen mittelalterlichen adeligen Familien abstammen. Die serbischen Familiengeschichten sind aber genauso voller Löcher, wenn man von einem Berg aus Montenegro oder der Herzegowina (wo man sich super verstecken kann und der mutigste Janitschar sich nicht raufgetraut hätte) in die Nähe von Belgrad oder Sarajevo zieht (wo es vor osmanischen Militär wimmelt), weil man einen (meist hohen) muslimischen Würdenträger ermordet hat (was macht so einer am Arsch der Welt in den kaum beherrschten montenegrinischen und herzegowischen Bergen).

Dieses Phänomen ist sehr neu. Während in Bosnien die serbischen Mythen über Kosovo bis Smederevo von den Orthodoxen weitergegeben wurden, findet man sowas ähnliches nicht bei den Muslimen. In Bosnien ist sowieso nur der Spruch "von Kulin und den guten Tagen" vom mittelalterlichen Überlieferungen geblieben und dort ist die Frage ob es die Christen, die Muslime oder beide Gruppen weitergegeben haben. Die bosnischen seriöse Geschichtswissenschaft hat kein spezielles Interesse der Muslime vor dem Versuch der Österreicher eine bosnischen Identität zu schaffen entdeckt. Die Bosniaken kritisieren gerne die Serben für ihre Mythen, hätten aber gerne solche für ihre bosnische Dynastie. Die Bosniaken konstruieren einen Mythos, dass es einen Mythos über das mittelalterliche Bosnien gibt.:)

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Auch manche Aufstände gegen die Osmanen werden Teil des bosniakischen Selbstbewusstseins. Problem ist wieder dieses, dass diese Aufstände gegen die Europäisierung, die Modernisierung und Liberalisierung des Osmanischen Reichs waren. Wirklich mit dem Narrativ der 90er Jahre von den europäischen, liberalen und toleranten Bosniaken zusammenpassen tut es nicht. Den Drachen von Bosnien Husein Gradascevic würden wir eher als eine Art Taliban des 19. Jahrhunderts definieren.

Über ihn habe ich auch bei meiner Diplomarbeit geschrieben (ist jetzt online), wer sich interessiert. 2016-05-12_0902043.pdf (univie.ac.at) ab Seite 55
 
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