1949 als die Bundesrepublik gegründet wurde betrug die Bevölkerungszahl ca. 50 Millionen. Es ist schwer vorstellbar, das man aus einem so großen Reservoir nicht ein paar tausend unbescholtene Polizisten, Lehrer und Juristen rekrutieren hätte können.
Das klingt, als seien alle Polizisten, Lehrer und Juristen Altnazis gewesen, was nicht der Fall war. Aber Du stellst meiner Ansicht nach die falschen Fragen.
1949 wies die deutsche Gesellschaft kriegsbedingt einen Frauenüberschuss auf; die Frauen müssen in dieser Rechnung jedoch entfallen, da sie nach damaliger Auffassung, im Widerspruch zum Gleichheitsgrundsatz der Verfassung, für die hier diskutierten Rollen kaum infrage kamen.
Was bereits darauf hinweisen sollte, wie weit der moralische Anspruch und das Machbare auseinanderlagen.
Aber wie viele Männer bleiben? Kriegsbedingt waren deren viele zu alt, zu jung oder zu versehrt für öffentliche Funktionen. Außerdem: wir sprechen hier über die Jahre 1946-1949. Es hatte nicht gut jeder zweite einen Hochschulabschluss. Der Pool für Funktionäre war auch deshalb kleiner.
Drittens: Obwohl man für die Funktionsfähigkeit und Akzeptanz des neuen Staates funktionierende Organe wie bspw. eine Polizei brauchte, heißt das nicht, dass es auf den einzelnen Schutzpolizisten angekommen wäre. Es kam jedoch durchaus auf die Beamten an, die Führungs- und Verwaltungsaufgaben übernahmen.
Sie hatten den Staat nach den politischen Maßgaben aufzubauen und die Funktionsfähigkeit ihrer Behörden zu garantieren. Und hier gab es nun mal zu wenige unbelastete Bewerber für diese Aufgaben. Ich sage es abermals: Ethisch war dieser Zustand untragbar, aber praktisch unumgänglich.
Wer das nicht glaubt, dem empfehle ich einen Blick in jene Länder, in denen Revolutionäre ohne Regierungserfahrung an die Macht kamen. Selbst dort, wo der Systemwechsel friedlich erfolgte, wie z.B. in Südafrika, machte sich der Verlust der Verwaltungserfahrung der Schergen des alten Systems empfindlich bemerkbar.
Ohne all die Ministerialdirektoren, Professoren und Polizeioffiziere war kein funktionsfähiger Staat zu machen. Daher halte ich die damalige Politik, wenn auch widerstrebend, für verständlich.
Als jemand, der eine Zeitlang im politischen Berlin gearbeitet hat, halte ich es für völlig illusorisch, dass ein zeitnaher Aufbau der Bundesrepublik Deutschland ohne Rückgriff auf Nazi-Funktionäre möglich gewesen wäre. Ein modernes Staatswesen ist dafür einfach zu kompliziert.
Warum der Zeitdruck bestand, habe ich zu erläutern versucht. Zumindest darüber, dass die erste Bundesregierung diesen Zeitdruck empfand, kann man meines Erachtens nach nicht streiten, und ihr Empfinden ist alleinig maßgeblich.
Praktikable Alternativen vermag ich keine zu erkennen, außer vielleicht eine langwierige Besatzung und Übernahme der Verwaltung durch die Besatzungsbehörden.
Man muss sich nur einmal beispielshalber verdeutlichen, wann die ersten Jura-Studenten, die im befreiten Deutschland ihren Abschluss machten, ihre Befähigung zum Richteramt erlangten.
Auch später, als die Bundesrepublik florierte und gedeihte, hat man sich nicht sonderlich bemüht die Nazi Verbrecher zu belangen. Ein ganz trauriges Stück deutscher Geschichte.
Sehr richtig.
Interessant ist, dass die rechtliche Aufarbeitung auch dann kaum in Gang kam, als mit den gesellschaftlichen Umwälzungen von 1968, mit dem Aufschlagen von unbelasteten Neulingen im öffentlichen Dienst und einer Schar weisungsbefugter SPD-Minister, eine bessere Grundlage dafür erstand.
Hier mag Karrierismus ebenso gebremst haben wie das grundlegende Legitimationsproblem des langjährigen Nichttätigwerdens. Die alte Garde und ihre Erfüllungsgehilfen waren noch immer in Amt und Würden, und ein junger Staatsanwalt, der deren Amtsführung implizit kritisierte, brauchte ein dickes Fell.
Wobei man zugeben muss, dass in der historischen
Gesamtschau zumindest die moralische Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatur in Deutschland besser gelaufen ist als in beinahe jeder anderen Gesellschaft.
Japan bewegt sich noch heute auf dem Stand von Deutschland 1953.
In Spanien hat die Aufarbeitung der Verbrechen Francos noch nicht einmal richtig begonnen.
In Italien führte der Sturz Mussolinis zu einer Geisteshaltung der Nicht-Verantwortlichkeit, mit dem Ergebnis, dass selbst offener Faschismus dort heute noch hoffähig ist.
Die Beispiele sind Legion.