Das erzähle mal den Angehörigen der Opfer der Roten Armee.
Die Frage ist m.E. nach keineswegs unangebracht. Man kann nicht auf der einen Seite Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges mehr oder weniger einfordern, auf der anderen Seite aber den Opfern der eigenen Verbrechen mit den lapidaren Hinweis nicht gedenken, da Deutschland der Angreifer war.
Zunächst einmal: Kann es sein, dass Du versehentlich die falsche Zeile zitiert hast? Ich kann nämlich kaum einen Zusammenhang herstellen zwischen dem Zitat und Deiner Erwiderung. In der zitierten Zeile steht ganz ausdrücklich, dass Gewalt keine Gewalt rechtfertigt.
Dennoch erzeugt Gewalt Gegengewalt. Ich argumentiere von der faktischen Ebene her, Du von der ethischen. Ursache und Wirkung einerseits und Schuld und Sühne andererseits sind indes verschiedene Themen und müssen getrennt voneinander betrachtet werden. Eine Tat kann verständlich und dennoch Unrecht sein.
Und die Begriffe "Recht" und "Unrecht" sind für den Gerichtssaal da. In der Lebenswirklichkeit haben sie nun mal untergeordnete Bedeutung. Wenn ich im Straßenverkehr nicht bremse, obwohl mir ein anderer Fahrer die Vorfahrt nehmen wird, nützt es mir nichts, im Recht zu sein, denn es knallt ja dennoch.
Ich wiederhole meine Behauptung: Es war illusorisch, von der roten Armee eine humane Kriegsführung gegen Deutschland zu erwarten. Man müsste überhaupt erst mal eine psychologische Konstellation kreieren, in der der durchschnittliche Rotarmist nicht verständlicherweise Gleiches mit Gleichem vergelten wollte.
So könnte man argumentieren, dass Soldaten aus nicht von Zerstörungen betroffenen Teilen der UdSSR weniger Grund zum Hass auf alles Deutsche hatten. Aber wohin sollen solche Debatten führen?
Mir scheint, wir können kaum anerkennen, dass die Nazis in der Sowjetunion abscheuliche Verbrechen begangen haben und gleichzeitig über die Rache der Roten Armee überrascht sein. Ich glaube wirklich nicht, dass der durchschnittliche Rotarmist damals viel "Aufhetzung" brauchte.
Der durchschnittliche Rotarmist war ein unter der Terrorherrschaft Stalins sozialisierter, nicht sehr gebildeter und tendenziell atheistischer Mann, der nur wusste, dass die Deutschen sein Land überfallen hatten und ihn und sein als "minderwertig" geschmähtes Volk mit Stumpf und Stiel vernichten wollten.
So sehr es widerstrebt, muss man doch anerkennen, dass der durchschnittliche Rotarmist einige mentale Hürden überspringen musste, um überhaupt erst mal den Impuls zu verspüren, gegen deutsche Zivilisten Gnade walten zu lassen. Damit wurde es eben unwahrscheinlicher, dass er Gnade walten ließ.
Und ja, das würde ich auch den Angehörigen der Opfer sowjetischer Kriegsverbrechen sagen. Denn am Unrecht des ihnen angetanen Leids ändert diese Einschätzung gar nichts; ich
erkläre, ich rechtfertige nicht.
Freilich muss ich sagen: Mich wundert, dass die Debatte überhaupt auf diesem Gleis gelandet ist. Ich habe geschichtsforum.de als wesentlich empfindlicher und misstrauischer gegenüber schon dem bloßen Anschein eines "Whataboutism" erlebt, und das ist nicht mal als Stichelei gemeint.
Und wenn 'FranzJunker' ist, wer er zu sein behauptet, kann ich ein wenig verstehen, dass ihn die Gegenfrage empört, ob sowjetische Kriegsverbrechen an Deutschen in Russland erinnert würden. Für ihn hat das mit seiner Frage nichts zu tun. Ich zweifele aber auch, ob es für uns etwas damit zu tun haben sollte.
Sind denn die sowjetischen Kriegsverbrechen und das Schicksal der Heimatvertriebenen in Deutschland noch so präsent, dass es vernünftig wäre anzunehmen, dass sie die deutsche Beschäftigung mit den deutschen Kriegsverbrechen an der Ostfront überdecken?
Nein, da halte ich meinen Vorschlag, ehrlich gesagt, für zielführender. Bis zu einem gewissen Grad ist ein Ungleichgewicht im öffentlichen Bewusstsein berechtigt. Der Holocaust ist ein einzigartiges Verbrechen, die Taten Dirlewangers und Co. sind nicht mal im 20. Jahrhundert einzigartig.
Dass es ein darüber hinausreichendes Ungleichgewicht gibt, darin stimme ich 'FranzJunker' sogar zu – und das schreibe ich als jemand, der das Wort "Schlussstrich" gern vom Schmutz eines Björn Höcke gereinigt sähe *). Doch anders als unser Gast würde ich Ockhams Rasiermesser anlegen.
Der Kalte Krieg schadete einer deutsch-russischen Annäherung und einer gebührenden Aufarbeitung der im Zuge von "Barbarossa" begangenen Kriegsverbrechen. Menschlich ist das verständlich; wenn in den Abendnachrichten Chruschtschow mit nuklearem Feuer droht, will man lieber nicht an Russland denken.
Auch blockierte der Konflikt überhaupt den Austausch, und damit die Aufarbeitung. In den 1950ern urlaubten Deutsche an der Cote d'Azur, in den 1960ern arbeiteten deutsche Jugendliche in Israel im Kibbuz.
Die Sowjetunion jedoch war weit weg, ein Land, dass ausländische Besucher in dieser Zeit nur auf einem Bruchteil seines Territoriums tolerierte, und seinerseits kaum jemanden aus dem Land ließ.
Wie auch immer … ich frage mich, wie diese Diskussion verlaufen wäre, wäre die Gegenfrage nicht auf den Tisch gekommen.
Oder zumindest fragte ich mich das; mittlerweile glaube ich auch, dass dieser Zeitgenosse ein Troll ist oder persönliche Probleme hat. Denn die Irrationalität aus Hass dessen, der persönlich gelitten hat, ist das eine.
Aber bald hundert Jahre später der Kollektivschuld und Sippenhaft das Wort zu reden, und dies noch als ethisch überlegenen Standpunkt darzustellen, ist unverständlich und unredlich.
*) Hinter einem "Schlussstrich" muss nicht zwangsläufig nichts kommen, man kann auch ein neues Kapitel der Erinnerung aufschlagen. Außerdem habe ich philosophische Bedenken gegenüber der Vorstellung nicht nur einer Kollektivschuld, sondern auch einer kollektiven Verantwortung.
Wohlgemerkt, ich sperre mich beileibe nicht grundsätzlich dagegen und würde bspw. jederzeit bejahen, dass Deutschland eine besondere Verantwortung hat, die Sicherheit des Staates Israel zu garantieren, oder das Andenken an den Holocaust wachzuhalten.
Ich sehe aber auch die selektive Handhabung des Begriffs des Kollektivs in der öffentlichen Debatte. Sie ist willkürlich. Ansonsten verfemte Pauschalisierungen werden plötzlich zulässig, wo sie opportun sind, und wie wir unsere nationale Identität definieren sollen, ist voll von Widersprüchen.
Nur ein Beispiel: In diesem Land leben Millionen Immigranten in maximal dritter Generation, deren Vorfahren im zweiten Weltkrieg keine Rolle spielten oder sogar auf der Seite der Alliierten kämpften. Betrifft die kollektive Verantwortung auch sie?
Denn Frau Merkel definierte vor ein paar Jahren den – verfassungsrechtlich durchaus existenten – Begriff des Staatsvolks kurzerhand um und erklärte, das "deutsche Volk" seien alle, die hier lebten, auch wenn sie sich erst gestern niedergelassen hätten.
Die Eliminierung der ethnischen Dimension kappt jedoch auch die Verbindung zur Generation der Täter, denn die waren nun mal Deutsche. Woher kommt also die Verantwortung? Liegt sie innerhalb der deutschen Grenzen, haftet sie quasi an der deutschen Erde?
Wir sollten die Beschäftigung mit der deutschen Vergangenheit auf eine neue Grundlage stellen, und die sollte lauten: Ehrlichkeit und Hinwendung zur Zukunft.
Wir haben in diesem Land zu viel revisionistisches Gesindel, aber für meinen Geschmack auch zu viele Heuchler, für die ihr Antifaschismus nur ein Mittel der Selbstüberhöhung ist.