Wie wurde die Ausgrenzung der Juden ab 1933 umgesetzt?

Wie wurden eigentlich die Juden damals daran gehindert, Geschäfte und Restaurants zu betreten?
Der gelbe Stern war ja 1933 noch nicht eingeführt, also wie prüften Geschäftsinhaber und Wirte, ob jemand jüdisch war? Ließen sie sich bei jedem der in das Restaurant/Geschäft wurde, den Ausweis zeigen?
und stand damals schon im Ausweis, welche Religion jemand hatte?
 
Dieselbe Frage kannst du auch zu den antisemitischen Maßnahmen und Ausschreitungen vor 1933 stellen.
Der österr.-dt. Alpenverein verlangte schon in den 20er Jahren (oder kurz davor) einen Ariernachweis (siehe Wikipedia "Geschichte des Antisemitismus") um nur ein Detail zu nennen. Man konnte sich ab 1933 auf eine lange praktische Erfahrungsgeschichte mit Stigmatisierung und Ghettoisierung und ausfindig machen für die Verschärfung und Änderungen der administrativen Maßnahmen stützen. Bei den Hep Hep Ausschreitungen 1. Hälfte 19. Jh. hatten die Randalierer dasselbe Ziel vor Augen.
Kurzum ein Blick in die Geschichte der Administration/Verwaltung dürfte Aufschluß geben (Kirchenbücher, Staatshandbücher usw)
 
Am 1.April 1933 kam es zu einem organsisierten Boykott gegen jüdische Geschäfte, d.h. die SA stellet sich vor Geschäfte, Arztpraxen oder Kanzleien, die Juden gehörten, und behinderten deren Kundschaft am Betreten. Es folgten die Berufsverbote im "Arierparagraph" 1933 und die Nürnberger Gesetze, die Eumolp eben schon angesprochen hat. Es ging also erst mal darum, Juden aus dem Berufsleben zu verdrängen. Die Nürnberger Gesetze unterteilte die Bevölkerung auch in "Reichsbürger" und jüdische Staatsangehörige mit verminderten Rechten.
1938 nach der Pogromnacht wurden spezielle Kennkarten für Juden eingeführt und sie erhielten zwangsweise den zweiten Vornamen "Sara" oder "Israel". Jetzt wurde ihnen auch der Besuch von öffentlichen Einrichtungen wie Theatern, Schwimmbädern oder Kinos untersagt. Jüdische Schüler mussten eigene Schulen besuchen.

In diesen Zuge brachten einige Restaurantbesitzer auch Schilder an wie "Juden erwünscht". In kleineren Städten wusste man, wer ein Jude ist. Möglicherweise hat der eine oder andere Ladeninhaber sich bei Unbekannten einen Ausweis zeigen lassen. Wobei es wahrscheilich sehr unangenehm war, jemanden "falsch verdächtigt" zu haben. Es gab aber weiterhin ganz legal Läden und Kaufhäuser, die jüdische Kunden hatten.

Eine gute Übersicht bietet LeMO.
 
Wie wurden eigentlich die Juden damals daran gehindert, Geschäfte und Restaurants zu betreten?
Der gelbe Stern war ja 1933 noch nicht eingeführt, also wie prüften Geschäftsinhaber und Wirte, ob jemand jüdisch war? Ließen sie sich bei jedem der in das Restaurant/Geschäft wurde, den Ausweis zeigen?
und stand damals schon im Ausweis, welche Religion jemand hatte?

Das Verbot, Restaurants zu besuchen, bestand ja 1933 noch nicht.
1933 gab es das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Dieses Gesetz, dessen Titel für sich in Anspruch nimmt, einen desolat gewordenen Zustand wieder in Ordnung zu bringen, diente vor allem dazu, missliebige Personen, darunter qua Geburt auch Juden, aus Beamten- und Lehrberufen zu drängen.

Ab 1935 wurden weitere Gesetze geschaffen, die Juden aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen oder "Mischehen" zu unterbinden.
Z.B. Das Schriftleitergesetz oder die Nürnberger Rassegesetze (Blutschutz- und Reichsbürgergesetz).

Es hat weitere Gesetze gegeben, um Juden a priori von bestimmten Berufszweigen auszuschließen, aber dir geht es ja um den Besuch öffentlicher Einrichtungen.

Ab 1938 erst mussten Juden ein Dokument mit sich führen, dass sie als jüdisch auswies, zunächst als Kennkarten und später mit einem Stempel >J< im Ausweis.

Weitere Maßnahmen kamen nach den Novemberpogromen, wie etwa der Entzug der Fahrerlaubnis.

Der Zugang zu Restaurants wurde ab 1938 durch die Betreiber selbst geregelt.
Ab Kriegsbeginn wurden Lebensmittelkarten augegeben, die für Juden wurden wiederum mit >J< markiert und örtlich wurde sogar vorgegeben, in welchen Geschäften Juden überhaupt nur noch einkaufen durften.

Die Ausgrenzung geschah zunächst also über den Beruf: Juden wurden zuerst aus den Beamtenberufen und aus dem Arzt- und Rechtsanwaltspositionen entfernt, dann aus weiteren akademischen Berufen (Reichsschriftleitergesetz) und schließlich auch aus unternehmerischen Positionen. Das war natürlich mit Einkommenseinbußen verbunden, die die Gelegenheiten zu Restaurantbesuchen verringerten.

Erst später kam dann die Kenntlichmachung vor allem durch >J<-Stempel auf Lebensmittelmarken und dann den Stern. Aber mal ehrlich, würdest du essen oder kaufen wollen, wo du nicht erwünscht bist? (So von wegen Kontrolle?)
Die reduzierten Kalorien auf den Lebensmittelmarken für Juden führten natürlich wiederum dazu, dass auch Restaurantbesuche schwieriger wurden. Und ab 1941 begannen dann die Deportationen.
 
Gab es denn überhaupt ein formelles Verbot für Juden, Geschäfte und Restaurants zu betreten? Ich kenne zwar auch aus historischen Dokumentationen und Literatur die Abbildungen von Schildern mit dem Text "Juden unerwünscht" o. ä., aber ich konnte nicht herausfinden, ob das eine rechtliche Regelung war, oder ob diese Schilder von übereifrigen Restaurant- und Geschäftsinhabern aufgehängt worden sind. In Chronologie des Holocaust :: Chronologie Übersicht Langfassung habe ich dazu noch folgendes gesehen:

Lediglich 250 Gulden Bargeld sollen pro Person danach noch zur Verfügung stehen. Zum gleichen Datum müssen Juden allen Schmuck, wertvolle Sammlungen und Kunstwerke abliefern. Juden dürfen - außer in "jüdischen" Geschäften - nur noch nachmitags zwischen drei und fünf Uhr einkaufen, keine öffentlichen Transportmittel mehr benutzen, sich nicht mehr in nicht-jüdischen Einrichtungen und Häusern aufhalten, keine öffentlichen Fernsprecher benutzen; zwischen 20 und 6 Uhr gilt eine totale Ausgangssperre.​

Nicht ersichtlich ist allerdings, ob es sich dabei um eine Regelung nur für die besetzten Niederlande handelte, und ob undwelche rechtliche Grundlage diese hatte.

Gleiches gilt für die Bänke im öffentlichen Parks und Gartenanlagen. Da gab es Bänke für Juden und für Arier. Die jüdischen Bänke waren wohl gelb lackiert. Unter "Gelbe Parkbänke für Juden" bei der Google-Suche finden sich auch einiges an Bildern dazu. Und auch hier wäre die Frage, ob das Maßnahme der jeweiligen Parkbetreiber, also im Regelfall die Kommunen, oder eine Regelung des Reiches war.

Eine Kennzeichnungspflicht für Juden gab es erst ab 1941 mit dem Judenstern. Aber ich vermute, wenn ein Jude vorher in einem Bereich, der für ihn verboten war, bei einer Kontrolle aufgefallen wäre, hätte es für ihn ganz üble Konsequenzen gehabt.
 
Gab es denn überhaupt ein formelles Verbot für Juden, Geschäfte und Restaurants zu betreten?
So weit ich weiß nicht. Dies geschah aus Eigenintiative der Inhaber der Geschäfte und Restaurants. Irgendwo mussten Juden ja auch ihre Lebensmitteln kaufen. Im Zuge der "Arisierungen" waren bis 1938 bereits 60% aller jüdischen Unternehmen enteignet, so dass es immer schwieriger wurde, in jüdischen Geschäften einzukaufen.

Ich kann mir gut vorstellen, dass Restaurants, die koscheres Essen anboten, bereits bei den ersten Krawallen 1933 zerstört wurden. Diese Restaurants musste ja auch für ihr koscheres Essen gut sichtbar nach außenhin werben. Das machte sie auffällig und die SA wird wenig Interesse daran gehabt haben, dass ein jüdisches Restaurant mit koscheren Speisen wirbt. Daher dürften sie auch zu den ersten Opfern gehört haben.
 
Eine Kennzeichnungspflicht für Juden gab es erst ab 1941 mit dem Judenstern. Aber ich vermute, wenn ein Jude vorher in einem Bereich, der für ihn verboten war, bei einer Kontrolle aufgefallen wäre, hätte es für ihn ganz üble Konsequenzen gehabt.
Die Kennkarte mit dem eingetragenen "J" existierte bereits ab 1938, oder?
Aber ich vermute, wenn ein Jude vorher in einem Bereich, der für ihn verboten war, bei einer Kontrolle aufgefallen wäre, hätte es für ihn ganz üble Konsequenzen gehabt.
Ganz genau.

Man sollte die Unterschiede zur Infrastruktur und dem Sozialverhalten der Vorkriegszeit bedenken. So war die persönliche Mobilität geringer, und überhaupt lebten mehr Menschen auf dem Land und in kleineren Gemeinden. Man war mehr auf das eigene unmittelbare Umfeld beschränkt, das eigene Dorf, den eigenen Kiez. Also war auch die Gefahr größer, Dritten als jüdisch bekannt zu sein und erkannt zu werden.

Das wäre nur halb so schlimm, hätten die Betroffenen wenigstens noch eine gewisse Rechtssicherheit gehabt – wäre es also bei einer vorhersehbaren, gewöhnlichen Sanktion (wie einem Bußgeld) geblieben. Stattdessen mussten Juden spätestens ab 1938 straflose Misshandlung durch Staat und Gesellschaft fürchten.
 
Ja wie war dies mit der Ausgrenzung?
Hier mal 10 namentliche Beispiele:

Es gibt ja auch viel, sehr viel im Netz dazu.

Und ich glaube das Verbrechen an diesen Menschen, ihr Ausmaß an Abscheulichkeit wird auch sichtbar, wenn das Verbrechen ein Gesicht bekommt.
Und da finde ich das Buch von Monica Gibas/Historikerin ganz besonderes Interessant.
Ich greif mal auf die Veröffentlich zurück die von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, 99084 Erfurt, Regierungsstraße vorgenommen wurde.
https://www.lztthueringen.de/media/chicksale.pdf

Titel:

„Ich kam als wohlhabender Mensch nach Erfurt
und ging als ausgeplünderter Jude davon.“


David Littmann, damals Besitzer der Mohrenapothekr in Erfurt, Schlösserstr. 9

Schicksale 1933–1945.​

Da schreibt:

· Ramona Bräu über den Studienrat in Gotha und Gera Dr. Walter Spiegel.

· Janine Heiland über den Besitzer der Erfurter Mohrenapotheke David Littmann.

· Philipp Gliesing über den Eigentümer des Kaufhauses „Römischer Kaiser“ (jetzt „Anger 1“), Erfurt.

· Thomas Wenzel über die Industriellen Familie Ruppel in Gotha/Saalfeld.

· Christian Faludi über die Familie Bernhard Prager aus Apolda.

· Henriette Rosenkranz über das Schicksal der Sopranistin Jenny Fleischer-Alt.

· Christine Schoenmakers über das Schicksal der Familie Friedmann in Jena.

· Marion Kaiser über das Schicksal des Unternehmen „Gebr. Heilbrun“ in Nordhausen.

· Tina Schüßler über das Schicksal der Familie Kirchheimer in Eisenach.

· dann nochmal Philipp Gliesing zum Schicksal von David Binder/Pößneck.

Die Autorin schreibt auch in der Einleitung wie es losging 1933…
Der war dann zu hören und zu lesen:
Arisch, „Arierparagraph“, “Arisierung, alles Begriffe aus dem Wortschatz des Rassenantisemitismus der Nationalsozialisten die 1933 an die Macht kamen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Wie wurden eigentlich die Juden damals daran gehindert, Geschäfte und Restaurants zu betreten?
Der gelbe Stern war ja 1933 noch nicht eingeführt, also wie prüften Geschäftsinhaber und Wirte, ob jemand jüdisch war? Ließen sie sich bei jedem der in das Restaurant/Geschäft wurde, den Ausweis zeigen?
und stand damals schon im Ausweis, welche Religion jemand hatte?

In der Gastronomie- und Tourismusbranche, aber nicht nur dort, ist auch von einem hohen Maß von vorauseilendem Gehorsam auszugehen. Lokalblätter etwa aus Borkum, Sylt oder anderen Seebädern jubelten darüber, dass weniger Juden sichtbar vorhanden waren, wenn man nicht gleich in eigener Initiative versuchte, dafür zu sorgen, dass sie "judenfrei" wurden. Viele Gastwirte hängten Schilder auf, dass Juden unerwünscht waren.

Durch den Ausbau der Organisation "Kraft durch Freude" wurde Deutschland stärker touristisch erschlossen. Viele Bürger, die sich früher keine Reisen leisten konnten, machten Gebrauch von dieser Möglichkeit, und viele machten die ideologische Berieselung eher oberflächlich mit. Die Veranstalter achteten natürlich darauf, die Akteure auf Linie zu bringen, und Gastwirte, Hoteliers, Pensionsbesitzer passten sich natürlich dem Zeitgeist an.

Manche Juden verstanden die Welt nicht mehr. In Nord- und Mittelhessen gab es viele Juden, mehr, als im Reichsdurchschnitt. Viele Holocaustüberlebende berichten, dass ihr Zusammenleben vor 1933 relativ harmonisch war, nach 1933 aber Nachbarn plötzlich nicht mehr grüßten, den Kontakt abbrachen.

Hans Frankenthal berichtete, dass er mit seinen Brüdern ein Schwimmbad besuchen wollte. Der Bademeister war ein Freund des Hauses, dessen Schwester war Kindermädchen in der Familie Frankenthal und hatte die Söhne praktisch aufgezogen. Der Bademeister warf aber die Frankenthals raus, erklärte, dass Juden in deutschen Schwimmbädern nichts zu suchen hätten.

In kleineren Städten wusste man in der Regel, wer Jude war. In praktisch jeder deutschen Stadt hätte man nach 1933 Schilder, Hinweise gefunden, dass ein Lokal, eine Parkbank, ein Ort, eine Grünanlage, ein Schwimmbad, ein Kino, der deutsche Wald Juden verboten war, dass sie unerwünscht waren. Von 1933-35 wurden Juden aus den freien Berufen, aus der Beamtenschaft entfernt. Viele Zeitgenossen schienen nach 1933 davon überzeugt, dass Schulden bei Juden nun null und nichtig waren. Es wurde für Juden enorm schwer, Außenstände bei "arischen" Volksgenossen einzutreiben. In Nordhessen wurden einem jüdischen Metzger von SA-Leuten und Dorfbewohnern Schächtmesser gestohlen. Das zuständige Gericht verfügte die Herausgabe. Das war 1933, 1935 wäre ein solches Urteil schon nicht mehr möglich gewesen. Nach 1935 wurde die Schraube immer weiter angezogen. 1938 mussten Juden zusätzlich die Namen Israel und Sara annehmen, es wurde ihnen nach und nach untersagt, Kraftfahrzeuge oder Waffen zu halten oder zu führen, optische Geräte außer einer Brille zu besitzen, den Fahrstuhl zu benutzen, Luxusartikel zu besitzen. Tee, Kaffee, Tabak, Schokolade, Benzin oder Alkohol zu kaufen, wurde für Juden immer schwieriger, zuletzt völlig unmöglich.

Bis zur Kennzeichnungspflicht in Papieren war es Juden noch möglich, mal ein Kino, Lokal oder Restaurant inkognito zu besuchen. Im Laufe der Zeit wurden das aber immer weniger Juden, die sich so etwas noch leisten konnten. Etliche Lokale, die früher liberal waren, wurden arisiert, gleichgeschaltet oder ihre Inhaber passten sich dem neuen "Zeitgeist" an. Juden mussten aber immer damit rechnen, dass sie gefragt wurden, ob sie arisch seien, dass sie in entwürdigender Weise kontrolliert wurden, dass ihnen Schilder, Notizen etc. auf Schritt und Tritt mitteilten, dass sie unerwünscht sind.

Besonders krass war der Umschwung in Österreich. Das, was in Deutschland fünf Jahre gedauert hatte, geschah in Österreich 1938 praktisch über Nacht.
 
Manche Juden verstanden die Welt nicht mehr. In Nord- und Mittelhessen gab es viele Juden, mehr, als im Reichsdurchschnitt. Viele Holocaustüberlebende berichten, dass ihr Zusammenleben vor 1933 relativ harmonisch war, nach 1933 aber Nachbarn plötzlich nicht mehr grüßten, den Kontakt abbrachen.
Diese Passage möchte ich ein wenig anzweifeln, das halte ich für nachrägliche Verklärung der Zeit vor dem NS, gerade, was diese Region angeht.
Das war schon die Hochburg des politischen Antisemitismus im Kaiserreich.

Die waren zwar noch keine Nazis, besonders harmonisch wird es, was Juden betrifft, gerade in der Provinz Hessen-Nassau, nicht ausgesehen haben.
 
Diese Passage möchte ich ein wenig anzweifeln, das halte ich für nachrägliche Verklärung der Zeit vor dem NS, gerade, was diese Region angeht.
Das war schon die Hochburg des politischen Antisemitismus im Kaiserreich.

Die waren zwar noch keine Nazis, besonders harmonisch wird es, was Juden betrifft, gerade in der Provinz Hessen-Nassau, nicht ausgesehen haben.

Im heutigen Schwalm-Eder Kreis war die NSDAP bereits vor 1933 die stärkste Partei. Schon im Kaiserreich hatte Max Libermann von Sonnenberg, Reichstagsabgeordneter mit antisemitischen Themen und Parolen Wahlkampf gemacht und damit mehrere Wahlerfolge eingefahren.

Ein gewisser Carl Schwalm musste bereits 1932 das Gymnasium verlassen, weil er mit antisemitischen Mitschülern in eine Schlägerei verwickelt wurde. Dennoch war die Fassungslosigkeit auf Seiten mancher Juden groß, als sich Bekannte und Freunde zurückzogen. Marga Spiegel, geborene Rothschild aus Oberaula berichtete über ihre Jugend vor 1933:

"Wir waren bis dahin Nachbarn unter Nachbarn... und dann grüßten sie eines Tages nicht mehr. Etwas später trugen sie das Parteiabzeichen am Revers, einige sahen wir mit schwarzen oder braunen Hemden. Nun ja, es war ein bisschen unbehaglich, aber Gefahr schien uns nicht zu drohen. Es waren doch anständige Menschen, unsere Nachbarn, die Goethe und Schiller im Bücherschrank stehen hatten. Natürlich hörten wir nachts die SA_Kolonnen hören, wenn sie im Gleichschritt durch die Straßen marschierten und ihre Lieder grölten, etwa "Wenn das Judenblut vom Messer spritzt", aber solche Typen konnte man doch eigentlich nicht ernst nehmen."

Antisemitismus war bereits vor dem Weltkrieg verbreitet, dennoch waren Juden Mitglieder lokaler Vereine und seit Generationen in der Region verwurzelt. Marga Spiegel war nicht die einzige Holocaust-Überlebende, die vor 1933 Freundschaften zu "arischen"/christlichen Nachbarn pflegten. Senta Wallach, geboren 1926 sagte:

"Bevor Hitler an die Macht kam, hatten wir eng mit unseren christlichen Nachbarn. Sie kannten uns gut, außer dass wir uns an den Schabbes hielten und am Samstag in die Synagoge gingen, unterschied sich unser Lebensstil kaum. Ich spielte mit meinen christlichen Nachbarn und ging mit ihnen zur Schule." Auch Schmuel Levi berichtete über relativ normale Beziehungen während seiner Jugend im hessischen Neukirchen:

"Die Juden waren Mitglieder aller Vereine und nahmen an allen Veranstaltungen teil. Am Tag vor der Kirmes, wenn die Musikkapelle jeder Familie ein Ständchen brachte, wurde den Juden eine religiöse oder jüdische Melodie vorgespielt. Obwohl die Nazipartei schon vor der Machtergreifung an Einfluss gewann, waren die nachbarschaftlichen Beziehungen vielfach noch ungestört."

Zitiert nach Katherina Stengel, 1933-1939 Nationalsozialismus in der Schwalm S. 294 ff.
 
Diese Passage möchte ich ein wenig anzweifeln, das halte ich für nachrägliche Verklärung der Zeit vor dem NS, gerade, was diese Region angeht.
Das war schon die Hochburg des politischen Antisemitismus im Kaiserreich.

Ausgerechnet eine NSDAP-Ortschronik zeugt vom harmonischen Zusammenleben zwischen Juden und Nicht-Juden in meiner nordhessischen Heimatstadt Bad Wildungen vor 1933:
"Wildunger Juden gehörten mit zu den angesehensten Bürgern. Sally Hirsch war sogar Stadtverordneter. In allen Vereinen waren sie zuhause. Die meisten von uns wären totunglücklich gewesen, hätten sie ihre Weihnachtsgeschenke nicht im anerkannt feinsten Spielwarengeschäft des Juden Sally Hirsch kaufen können (...) Es wäre Sache unserer Wildunger Metzger gewesen, aufklärend zu wirken. Sie taten es nicht. Das Vieh, das sie kauften, musste unbedingt vom Marx oder vom Oppenheimer oder vom Katz sein. Dass Hammerschlags Manufakturwarengeschäft am Marktplatz bei solcher Einstellung unserer Wildunger eine Goldgrube war, versteht sich am Rande. Wenn die "gnädige Frau" oder die "Frau ... Rat" oder die "Frau Doktor" oder sonst eine vornehme Dame irgend ein gutes Kleid brauchte, dann konnte das eben nur Hammerschlag liefern, allenfalls noch Leiser in der Lindenstraße, der ein sehr "seriöser" und "diskreter" und "hochanständiger" Kaufmann war (...). Bekannte "nationale" Männer unserer Stadt machten sich eine Ehre daraus, mit dem Juden Leopold Külsheimer an einem Tisch sitzen zu dürfen, mit ihm Skat spielen zu können oder neben ihm Sulperknochen zu verzehren".

Es gab jüdische Hotels in Bad Wildungen, die damit warben, dass sie koscher waren. Da dort kein Schweinefleisch serviert wurde, bevorzugten auch moslemische Gäste ein koscheres Hotel, so z.B. Generalfeldmarschall Abdul Rachman Khan (1), ein Begleiter des afghanischen Königs (2), der 1928 in Bad Wildungen zur Kur war.

Die kurz vor dem 1.Weltkrieg neu errichtete Synagoge an prominenter Stelle in der Stadt wurde nichtsdestotrotz in der Pogromnacht vollkommen vernichtet.

(1) "Der Israelit" vom 05.07.1928
(2) "Jüdische Wochenzeitung für Kassel, Kurhessen und Waldeck" vom 06.07.1928, beides aus Alemannia Judaica
 
Lokalblätter etwa aus Borkum, Sylt oder anderen Seebädern jubelten darüber, dass weniger Juden sichtbar vorhanden waren, wenn man nicht gleich in eigener Initiative versuchte, dafür zu sorgen, dass sie "judenfrei" wurden. Viele Gastwirte hängten Schilder auf, dass Juden unerwünscht waren.
der berüchtigte "Bäder-Antisemitismus" einigen - nicht allen! - der schon im Kaiserreich touristisch beliebten Nord- und Ostseeinseln war schon vor 1933 im Gange.
 
nur nebenbei, quasi kleiner Exkurs:
Schwalm-Eder Kreis, Bad Wildungen - also cum grano salis Nordhessen: im Fuldatal bei Rotenburg (großer alter jüdischer Friedhof auf dem Berg oben, unten in der Stadt eine sehenswerte historische Mikwe) gibt es einen verwunschenen winzigen jüdischen Friedhof bei Baumbach; ein wirklich sehr großflächiger befindet sich unweit von Bad Hersfeld im Haunetal - zu letzterem führt kein Weg (!) Ich hatte den mehrmals von der Straße aus und von der Bahn aus gesehen, aber noch keinen Weg entdeckt; ich probiere das aber, wenn ich wieder in diese Gegend komme.
 
Nun ja, Deutschland war damals in der Fläche eher dörflich-kleinstädtisch geprägt und in dem Miliieu wusste ohnehin jeder vom anderen fast alles.
Hinzu kam, dass die Mobilität nicht so ausgeprägt war, die Leute sich also normalerweise durchgängig immer im gleichen Umfeld bewegten. Insoweit erübrigte sich ausserhalb der echten Großstädte Hamburg, Berlin, Köln,München zunächst eine systematische Erfassung und Registrierung
Hinzu kam der Druck,den örtliche NSDAP-Gruppen ausübten ,in dem sie jüdische Geschäfte und Einrichtungen beobachteten und deren Besucher und Kunden öffentlich durch Aushängen von entsprechenden Listen anprangerten.
Meine Oma berichtete,dass sie (obwohl Gattin eines PG) des öfteren auf solchen Listen ausgehängt wurde, weil sie es sich nicht nehmen lies,beim jüdischen Lebensmittelhändler (und Nachbarn) einzukaufen.
Ihr war das zwar egal,aber diese soziale Ausgrenzung verfehlte ihre Wirkung in der Breite natürlich nicht, besonders dann,wenn die örtlichen Autoritäten (Bürgermeister,Pfarrer,Amtsrichter,Vereine) dies förderten.
 
Nun ja, Deutschland war damals in der Fläche eher dörflich-kleinstädtisch geprägt und in dem Miliieu wusste ohnehin jeder vom anderen fast alles.
Hinzu kam, dass die Mobilität nicht so ausgeprägt war, die Leute sich also normalerweise durchgängig immer im gleichen Umfeld bewegten. Insoweit erübrigte sich ausserhalb der echten Großstädte Hamburg, Berlin, Köln,München zunächst eine systematische Erfassung und Registrierung
Hinzu kam der Druck,den örtliche NSDAP-Gruppen ausübten ,in dem sie jüdische Geschäfte und Einrichtungen beobachteten und deren Besucher und Kunden öffentlich durch Aushängen von entsprechenden Listen anprangerten.
Meine Oma berichtete,dass sie (obwohl Gattin eines PG) des öfteren auf solchen Listen ausgehängt wurde, weil sie es sich nicht nehmen lies,beim jüdischen Lebensmittelhändler (und Nachbarn) einzukaufen.
Ihr war das zwar egal,aber diese soziale Ausgrenzung verfehlte ihre Wirkung in der Breite natürlich nicht, besonders dann,wenn die örtlichen Autoritäten (Bürgermeister,Pfarrer,Amtsrichter,Vereine) dies förderten.

Das mochte zutreffen auf Juden, die ihre Religion praktizierten, bei säkularen Juden wurde es schon schwieriger. Es gab "Judenchristen", die teilweise schon Generationen früher zum Christentum konvertiert waren, und es gab zahlreiche Mischehen.

Wer nach der NS-Rasseideologie Halb- oder Vierteljude war, hätte sich in vielen Fällen nicht so leicht eruieren lassen, wenn nicht Behörden und die Kirchen in vorauseilendem Gehorsam Kirchenbücher und aufzeichnungen dafür zur Verfügung gestellt hätten.

Vor allem im ländlichen Raum konnte das "herausfallen aus der Volksgemeinschaft" drastische Folgen haben. Selbst ehemalige Gegner konnten- vorausgesetzt sie "sahen ihren Irrtum ein und verhielten sich ruhig-wieder aufgenommen werden. Julius Streicher hatte die Marotte, dass er jedes Jahr zu Weihnachten einen Sozialdemokraten oder Kommunisten freiließ und ihn beschenkte. Das setzte aber sichtbares mitmachen voraus, immer wieder bekundete öffentliche Zustimmung zum NS-Regime.
 
gerade der ländliche Raum stellte sich für die NS-Ideologen allerdings problematisch dar.
zwar waren konfessionelle und religiöse Abgrenzungen da oft grösser und schärfer (und über Generationen überliefert), aber andererseits waren verwandtschaftliche Beziehungen und Bindungen ebenfalls teilweise über Generationen gewachsen und dort ,wo Obrigkeit und besonders die Kirche nicht mitspielten fiel es schwer,die NS-Ideologie auf breiter Basis zu verankern oder durchzusetzen. Das war wohl letztlich auch ein Grund für die Gleichschaltung von Vereinen,Verbänden,Körperschaften und insbesondere auch Jugendorganisationen um entsprechenden Einfluss zu gewinnen .
 
Jene Beschreibung eines raschen Stimmungsumschwungs vom Miteinander zur Feindseligkeit im ländlichen Raum wundert mich überhaupt nicht. In kleinen Gemeinschaften war und ist die sog. "Gruppenhygiene" sehr stark, d.h. der Druck auf das Individuum, nicht durch sein Verhalten zum Abweichler zu werden.

Aus dem Blickwinkel der Evolution handelt es sich um eine Errungenschaft des sozialen Tiers Mensch, das dessen Erfolg als Spezies entscheidend befördert hat. Wo alle an einem Strang ziehen müssen, damit Essen auf den Tisch kommt oder Gefahren abgewehrt werden, kann Unterordnung eine Tugend sein.

Leider lässt sich dieses Verhalten missbrauchen bzw. kann eine verhängnisvolle Eigendynamik entwickeln. Noch in den fünfziger Jahren konnte man z.B. in mancher ländlichen Gegend Deutschlands seinem sozialen Umfeld Ade sagen, wenn man als Protestant einen katholischen Ehepartner heiratete (oder umgekehrt).

Wer da nicht mitmacht, grenzt sich selber aus.

Deswegen müssen Extremisten auch niemals eine ganze Gesellschaft bekehren, ja nicht einmal sämtliche Abweichler bestrafen. Es genügt, das etablierte soziale Gefüge für die eigenen Zwecke einzuspannen.

Darin sehe ich übrigens einen wichtigen Grund, warum die NS-Ideologie in Bayern erfolgreich war, wo sie nicht nur die mit ihr unvereinbaren Prinzipien eines inbrünstig gelebten Katholizismus hätte gegen sich haben müssen, sondern auch eine damals noch recht lebendige Abneigung der ländlichen Bevölkerung gegen jeden Versuch, die Reihenfolge "erst Bayer, dann Deutscher" in "erst Deutscher, dann Bayer" umzukehren.

Normalerweise schwächt sich das Phänomen der Gruppenhygiene ab, wo der Wohlstand wächst, mit steigender Mobilität die Durchmischung des Umfelds zunimmt und die Informationsgesellschaft die weite Welt vor dem inneren Auge präsent werden lässt. In einer individualistischen Gesellschaft tanzt jeder aus der Reihe.
 
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