Leningrader Kapitulationsversuche?

SörenH

Neues Mitglied
Hallo zusammen,

ich soll ein Referat (12. Klasse) über die Leningrader Belagerung halten. Ich glaube schon einiges an Material dazu gelesen zu haben, allerdings stolpere ich immer wieder über dieselbe Frage. Ich habe leider auch hier im Forum keine direkte Antwort gefunden.

Mein Verständnis ist, dass die Wehrmacht die Anweisung hatte die Stadt auszuhungern und Übergabeangebote abzuschlagen. Ich habe allerdings keine Informationen zu einem Kapitulationsversuch der Stadt gefunden, ohne welche die Absichten der Wehrmacht doch zunächst irrelevant waren. Wurden die Sowjets über die deutschen Anweisungen informiert oder gab es vielleicht andere Gründe warum es nie zu einem Versuch der Übergabe der Stadt kam?
 
Der Entscheidungsprozess, das Leningrad nicht eingenommen werden sollte, begann bereits im Juli 1941. Der Entschluß zur Abschließung der Stadt war also keine Folge des Widerstandes der Roten Armee. Das OKH befahl der Heeresgruppe Nord, das die Newametropole durch einen möglichst nahe an die Stadt herangeschobenen Ring, um dadurch Kräfte zu sparen, abzuschließen. Eine Kapitulation sei nicht zu fordern.

Leningrad gehörte zum Operationsgebiet der Heeresgruppe Nord. Die Heeresgruppe Nord musste im September ihre Panzerverbände an die Heeresgruppe Mitte vorübergehend abgeben, damit diese in der Lage versetzt wird, Moskau einzunehmen. Damit konnte die Heeresgruppe Nord nicht wie geplant am Westufer das Ladogasees nach Norden vorstoßen, um sich mit den finnischen Streitkräften zu vereinigen. Die Finnen weigerten sich zudem auch über ihre ursprüngliche Landesgrenze hinauszugehen. Also rückten die deutschen Truppen entlang des südlichen Ufers in Richtung Osten bis Tichvin vor. Anfang November gelang es für ein paar Wochen, bis Anfang Dezember, diesen enorm wichtigen Eisenbahnknotenpunkt zu besetzen. Während dieser Zeit ist die Versorgung Leningrads weitgehend zusammengebrochen. Durch die Aufgabe Tichvins Anfang Dezember 1941 wurde die Verteidigung Leningrads erheblich gestärkt.

Unterdessen war es der Roten Armee im Bereich der Heeresgruppe Mitte gelungen, bedeutende Teile der 16.Armee so zu binden, das diese Kräfteverlagerung nach Leningrad unmöglich wurde.

Schon im Juli 41 stand für Hitler fest, das Leningrad, durch die Luftwaffe, den Erdboden gleichzumachen sei. Schon so früh stand die Vernichtungsstrategie Hitlers. Nur war die Luftflotte 1 viel zu schwach, um diese Zielvorgabe umzusetzen.

Im OKW begannen die perversen Überlegungen, was mit der Bevölkerung Leningrads geschehen solle. Warimont überlegte einen elektrischen Zaum um die Stadt zu bauen und mit MG auszustatten. Allerdings fragte er sich, ob man es der Truppe zumuten könne, auf Frauen und Kinder zu schiessen. Nächste Variante war Frauen und Kinder raus, den Rest verhungern lassen oder die Stadt den Finnen zu überlassen.

Die Zivilbevölkerung Leningrads wurde als Ernährungsproblem wahrgenommen. Aber auch Stalin interessierte sich nicht für die Zivilbevölkerung; ihm ging es nur um seine Soldaten.

Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord Ritter von Leeb war wohl der Einzige, der kein Aushungern wollte, sondern die Besetzung der Stadt.

Am 07.Oktober 1941 übermittelte Jodl Brauchitsch den verbrecherischen Befehl das kein deutscher Soldat die Stadt zu betreten habe. Eine Kapitulation sei nicht anzunehmen.
 
Die Stadt zu übergeben...!?

Davon ist mir nichts bekannt. Kann ich mir auch nicht vorstellen dass dies Stalin im Sinn hatte.

Hier ein Link des Vereins „Zukunft braucht Erinnerung (ehemals Shoa.de)“.

Und wenn man dies gelesen hat kann man sich nicht vorstellen dass man jemals in dieser Zeit über eine Kapitulation nachgedacht hat.

Die Blockade Leningrads – Fakten und Mythen einer russischen Kriegstragödie“

Die Blockade Leningrads - Fakten und Mythen | ZbE (zukunft-braucht-erinnerung.de)

Hier noch ein paar Daten:

· Blockade Leningrad 08.09. 1941 – 27.01.1944,
· Schlacht um Moskau 30.09.1941 – 20.04.1941 und
· Schlacht um Stalingrad 23.08.1942 – 02.02.1943.

Wenn man sich diese 3 Daten ansieht versteht man, warum über eine Kapitulation nie ernsthaft nachgedacht wurde.
 
Super! Vielen Dank für eure Antworten.

Mein Missverständnis der Thematik verschiebt sich durch eure Antworten nun allerdings etwas. Ich habe die Leningrader Belagerung bisher vor dem Hintergrund eines Kriegsverbrechens verstanden. Wie ist dieser Begriff "Kriegsverbrechen" hier zu verstehen? Waren die Deutschen verpflichtet während der Belagerung die Zivilbevölkerung mit Nahrungsmitteln zu versorgen? Mir erschließt sich die entscheidende Rolle der Wehrmacht nicht, wenn es nie einen Kapitulationversuch der Stadt gab.
 
Das liegt doch auf der Hand. Das deutsche Heer hatte die Stadt eingeschlossen und ließ die Bevölkerung in der Stadt verhungern. Die deutschen Belagerungstruppen ließen niemanden aus der Stadt raus; wurde es versucht, wurden diese Menschen gnadenlos erschossen.
 
@SörenH. Ich weiss ja nicht welche Literatur du über die Belagerung von Leningrad gelesen hast.
Die Belagerung gehörte zum Vernichtungskrieg im Osten.

Leningrad: "Niemand ist vergessen"

Zitat aus dem Artikel:
Die Blockade um Leningrad war ein Teil des Vernichtungskriegs im Osten. Sie war „ein genozidaler Akt, bei dem rund 1,1 Millionen Menschen gestorben sind“, sagt Hans-Christian Petersen. Er lehrt am Institut für Geschichte der Universität Oldenburg, unter anderem mit Schwerpunkt auf die Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Die Stadtbevölkerung, also Zivilisten und Zivilistinnen, sollte gezielt ausgehungert werden. „Das macht es zu einem Kriegsverbrechen“, sagt er. Zudem stand die Stadt unter ständigem Artilleriebeschuss.
 
Zuletzt bearbeitet:
Meinem Verständnis nach sind/waren Blockaden ein legitimes militärisches Mittel. Ich hoffe damit liege ich nicht bereits falsch. Nun weiß ich natürlich nicht welche Verpflichtungen der Belagernde nach damals geltendem Recht dabei hatte. Musste er z.B. den Zivilisten erlauben die Stadt zu verlassen? Mit anderen Worten frage ich mich, an welcher Stelle aus der Belagerung formal ein Kriegsverbrechen wurde.
 
Ich bin mir als Nichtjurist relativ sicher, das sich das perverse Vorgehen der Wehrmacht nicht mit der Haager Landkriegsordnung in Einklang bringen lässt.
Bei der Blockade von Leningrad kam man von einen geplanten Massenmord an die Zivilbevölkerung durch die Wehrmacht sprechen.
 
Meinem Verständnis nach sind/waren Blockaden ein legitimes militärisches Mittel. Ich hoffe damit liege ich nicht bereits falsch. Nun weiß ich natürlich nicht welche Verpflichtungen der Belagernde nach damals geltendem Recht dabei hatte. Musste er z.B. den Zivilisten erlauben die Stadt zu verlassen? Mit anderen Worten frage ich mich, an welcher Stelle aus der Belagerung formal ein Kriegsverbrechen wurde.

Hast du den von mir verlinkten Artikel gelesen?
 
Hast du den von mir verlinkten Artikel gelesen?

Ja, habe ich. Allerdings finde ich dort keine Antwort auf meine Frage. Ich komme mir gerade etwas blöd vor. Was übersehe ich? Der Artikel spricht ausschließlich von der deutschen Absicht der Aushungerung:

Sich aus der Lage der Stadt ergebenden Bitten um Übergabe werden abgeschlagen werden.

Da es seitens der Sowjets nun scheinbar nie einen Versuch einer solchen Übergabe gab, sollte die deutsche Absicht doch faktisch irrelevant rein. Bis zu einer Kapitulation der Stadt war das Heft des Handelns doch in sowjetischer Hand oder etwa nicht?
 
Nein, denn die Wehrmacht war angewiesen diese nicht anzunehmen. Habe ich oben bereits geschrieben. Die deutsche Luftwaffe und die Heeresverbände schmissen und warfen regelmäßig Brand- und Sprengbomben auf Leningrad ab. Hier sollte eine ganze Stadt ausgehungert werden.

Es wurden Befehle vom Oberkommando der Wehrmacht in Bezug auf das Unternehmen Barbarossa und Leningrad erlassen, die schwerlich mit der Genfer Konvention und der Haager Landkriegsordnung, so meine ich, in Einklang zu bringen waren. Vielleicht solltest du dort einmal recherchieren und nicht eine fertige Auskunft für die Schule erwarten.

Es bleibt aber auf jeden Fall ein entsetzliches Verbrechen der Wehrmacht über eine Million Menschen in Leningrad ermordet zu haben.
 
Nein, denn die Wehrmacht war angewiesen diese nicht anzunehmen.
Das entscheidende ist hier für mich, dass es sich dabei zunächst lediglich um eine Anweisung handelt, wie du selbst sagst. Diese hätte aber nur zum Tragen kommen können, wenn die Stadt auch tatsächlich die Kapitulation angeboten hätte. Die Wehrmacht hatte doch also gar nicht die Gelegenheit die Pläne umzusetzen, da die Sowjets ihnen diese Entscheidung abgenommen haben. Auf ein anderes Ergebnis kann ich auch weiterhin trotz eurer Hilfe nicht kommen, aber vielleicht geht das auch zu weit.
 
Seit wann macht es einen verbrecherischen Befehl - nämlich die Leute im wahrsten Sinne des Wortes verhungern zu lassen: das und nichts anderes war das Ziel dieses Befehls! - weniger verbrecherisch, wenn der für diese Leute verantwortliche Kriegsgegner die Übergabe der Stadt nicht anbietet?
 
Meinem Verständnis nach sind/waren Blockaden ein legitimes militärisches Mittel. Ich hoffe damit liege ich nicht bereits falsch. Nun weiß ich natürlich nicht welche Verpflichtungen der Belagernde nach damals geltendem Recht dabei hatte. Musste er z.B. den Zivilisten erlauben die Stadt zu verlassen? Mit anderen Worten frage ich mich, an welcher Stelle aus der Belagerung formal ein Kriegsverbrechen wurde.

Ich glaube hier liegt ein Denkfehler vor. Bin kein Experte, aber Blockaden waren historisch gesehen immer ein Mittel um bestimmte (Kriegs-)Ziele zu erreichen. Bspw. Belagerung von Burgen oder Städten. Der Unterschied liegt in der Absicht des Belagerers. Ziel war eigentlich immer die Stadt zu erobern. Sicher verhungerten bei einer Belagerung auch Menschen. Das war aber nicht das primäre Ziel sondern nur ein "Nebeneffekt" der in der Natur einer Belagerung liegt. Bei Leningrad war es aber genau entgegengesetzt. Es war nicht gewollt die Stadt zu erobern. Ziel war die Vernichtung der Bevölkerung durch aushungern. Und genau das ist der entscheidende Unterschied.
 
Seit wann macht es einen verbrecherischen Befehl (...) weniger verbrecherisch, wenn der für diese Leute verantwortliche Kriegsgegner die Übergabe der Stadt nicht anbietet?
Selbstverständlich war der Befehl mögliche Kapitulationen abzulehnen und die Stadt auszuhungern verbrecherisch bzw. wäre seine Durchführung ein Kriegsverbrechen. Mit dieser Logik habe ich keine Probleme. Vielleicht sehe ich das zu trocken, aber formal hätte der Befehl erst Wirkung zeigen können, sobald eine solche Übergabe der Stadt angeboten worden wäre. Erst ab diesem Punkt hätte das Hungern in der Stadt von der Wehrmacht direkt erzwungen werden können. Denn erst dann wäre aus der sowjetischen Entscheidung die Stadt um jeden Preis zu verteidigen eine deutsche Entscheidung die Stadt auszuhungern geworden. Zwischen dem Befehl und seiner Durchführung stand nach meinem derzeiten Verständnis also zunächst die Durchhaltedoktrin der Sowjets.
 
Du übersiehst wohl die "Kleinigkeit" der hunderttausenden von Menschen, die tatsächlich ausgehungert worden sind.

Und ja, du siehst das für einen Schüler der 12.Klasse erschreckend trocken. Die Kapitulation hätte, du weißt es mittlerweile, nichts, rein gar nichts geändert. Was bleibt, ist der Massenmord der Wehrmacht.
 
Die Kapitulation hätte, du weißt es mittlerweile, nichts, rein gar nichts geändert. Was bleibt, ist der Massenmord der Wehrmacht.
Offensichtlich sind wir mittlerweile im Konjunktiv angekommen. Ein Kriegsverbrechen ist doch kein hypothetisches Konstrukt. Wenn eine solche Argumentation vor Gericht durchginge, wären die Gefängnisse morgen voll.
 
Entschuldige, ich wollte nicht beleidigend klingen.

Tatsächlich denke ich, dass es Aufgabe der Sowjetunion gewesen ist in einer solch auswegslosen Lage Leningrad zur freien Stadt zu erklären; in der Hoffnung weiteres Leid der Zivilbevölkerung abzuwenden. Ich möchte an der Stelle aber nicht weiter spekulieren.

Lieber würde ich mein Argument einmal andersherum als Frage formulieren: Welchen Unterschied machte es, dass es diesen ominösen Befehl gab? Inwiefern hat er das Geschehen in Leningrad beeinflusst?
 
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