Die Sowjetunion, die 2+Vier-Verträge & NATO-Osterweiterung

Da gehören aber zwei dazu.
Ein Militärbündnis nimmt doch kein Land auf, für das es nicht bereit ist eigene Söhne und Töchter zu opfern. Das liegt ja im Wesen des Bündnisses.
Es müssen also starke Interessen bestehen, die sich bei einem Militärbündnis in einer entsprechenden Strategie ausdrücken sollten.
Und NATO-Mitgliedschaft bedeutet auch NATO-Standards, überlegene NATO-Technik und NATO-Vernetzung.

Und sie beinhaltet auch den großen politischen Hebel einen Bündnisfall zu provozieren, oder auch nur auf diesen zu spekulieren.

Das ist genau der Punkt. Die Osterweiterung der Nato bewegte sich zwischen den Polen einer überweigend politischen oder militärischen Ausrichtung.

Mit der Aufnahme von Polen, Ungarn und der Tschechei in die Nato 1999 wurde die Weichenstellung in Richtung militärische Integration vorgenommen. Allerdings, so Barany, entsprachen diese ersten Mitglieder den Anforderungen der Nato nur in geringem Maße. Am ehesten noch Polen.

Barany, Zoltan D. (2003): The future of NATO expansion. Four case studies. Cambridge: Cambridge University Press.
 
Andreassolar bezieht sich im Kern auf das "Gutachten" des wissenschaftlichen Dienstes.
Du kannst mich ruhig immer direkt ansprechen, sonst wirkt das, bilde ich mir ein, als würdest Du in Deiner Aufregung oder Deinem Ärger über mein Posting manchmal primär versuchen, der 'Forums-Gemeinschaft' klar zu machen und das Urteil nahe zu legen, wie haltlos und fragwürdig meine Argumentation, meine vermeintlichen Kenntnisse in 'Wirklichkeit' ausfallen....;) im Vergleich gar zu den renommierten, anerkannten WissenschafterInnen....
Zurück: Nein, das trifft nicht zu, das war nur ein Beispiel einer knappen Übersicht. Ausgangsbasis sind die Quelleneditionen. Du übersiehst bei Baker konsequent den damals aktuellen historischen Kontext und tatsächlich hat Baker, siehe das Dokument in der sowjetischen Sammlung, die Möglichkeiten und Rahmenbedingungen kommender möglicher Gespräche über 'Deutschland' ausgelotet. Er hatte keineswegs einen mit der US-Regierung und dem US-Präsidenten oder Kohl und Genscher abgestimmten, fixierten und inhaltlich festgelegten Auftrag für verbindliche, dauerhafte Zusagen.

Und natürlich handelt der Secretary of State immer im offiziellen Auftrag. In welchem denn sonst.
Du nutzt im Eifer der Erwiderung offenkundig eine wissenschaftlich wenig haltbare Ungenauigkeit, jene, Baker wäre immer im offiziellen Auftrag unterwegs, was alles und nichts bedeuten kann. Baker war zu einem bestimmten Zweck, in einem bestimmen Rahmen in Moskau, er hatte weder die Autorisation, noch den Auftrag, eine bestimmte, als diplomatisch verbindliche Zusage zu wertende, festgelegte Formulierung im Sinne einer zukünftigen, dauerhaft garantierten Grundlage bilateraler oder multilateraler Qualität zu vermitteln.
Es nützt ja nix, die Grundlagen zu übersehen, die jeweilige historische Situation. Offenkundig ersparst Du dir 'Grundlagenarbeit', zumindest wirkt das aktuell im Eifer so....

Das ist umso verwunderlicher, da Zelikov und Rice sich auf Spohr beziehen und diese Sarotte u.a. als Referenzpunkt für ihre Sicht auswählt. Da von - laut andreassolar- : "m. E. tendenziös und mehr literarisch orientiert" zu sprechen ohne jegliche Belege, ist eine Meinung, aber nicht mehr.

Dass darüberhinaus Zubok Sarotte als kompetenteste Darstellung zu diesem Themenkomplex anspricht ist dann auch - aus der Sicht von andreassolar - wohl auch völlig egal.
Und so werden unkritisch wissenschaftliche Expertise und Kompetenz abgeleitet und übernommen, ein Hilfskonstrukt gewiss, bilde ich mir ein.

Kristina Spohr, die sich vermeintlich auf Sarotte 'stützt', zumindest suggeriert Dein Satz dies, meine ich, nimmt sie keineswegs als 'Referenzpunkt'. Zumindest im auf Dekoder publizierten Wissenschaftstext mit Stand vom 10.2.2022, mit dem Titel Die Geschichte der NATO-Osterweiterung.

Sie schreibt dort u.a.:
[...]
Laut Putin hatte Moskau in diesen Fragen nur nachgegeben, weil die NATO dem Kreml zugesichert habe, sich künftig „keinen Zoll ostwärts“ auszudehnen. Dieses Versprechen sei später immer wieder gebrochen worden. Dass der Westen damit durchkam, liege vor allem daran, dass es nie eine verbindliche Vereinbarung oder ein schriftliches Abkommen zu diesem Punkt gegeben hatte.

Dieser Teil der Erzählung, mit Bezug auf 1990, beruht jedoch sowohl auf einem Missverstehen der diplomatischen Prozesse auf verschiedenen Ebenen als auch auf der Missinterpretation des 2+4 Vertrags.

Bei der viel-zitierten „keinen Zoll ostwärts“-Aussage vom 9. Februar 1990 handelt es sich um eine Formel des US-Außenministers Baker, und nicht (wie mitunter kolportiert) des US-Präsidenten George H.W. Bush, dem die außenpolitische Richtlinienkompetenz und Entscheidungsgewalt letztlich unterlag. Baker benutzte jenen Wortlaut in einem frühen Stadium der Sondierungsgespräche mit dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow, die bei der Lösungsfindung zur deutschen Frage in einer sich stetig verändernden europäischen Sicherheitsordnung helfen sollten. Hier ging es vor allem darum, der Sowjetunion die Angst vor einem sich vergrößernden Deutschland zu nehmen, indem man zusicherte, weder integrierte NATO-Kommandostrukturen auf das „Territorium der vormaligen DDR“ zu verlegen noch NATO-Truppenstationierungen dort vorzunehmen.
Da Bakers Formulierung „keinen Zoll ostwärts“ es allerdings verunmöglicht hätte, die Sicherheitsgarantien der NATO gemäß Artikel 5 auf Gesamtdeutschland anzuwenden, schlug Bush Bundeskanzler Helmut Kohl in einem Brief am selbigen Tag vor, künftig von einem „speziellen Militärstatus“ für die DDR zu sprechen. Dieser Wortlaut wurde am 24./25. Februar 1990 von beiden bei ihrem Treffen in Camp David bestätigt und fand auch Eingang in den späteren 2+4 Vertrag.

Bei den Gesprächen im Februar 1990 ging es also nie um die Erweiterung der Mitgliedschaft der NATO, sondern einzig um die Ausdehnung der integrierten NATO-Verteidigungsstrukturen nach Ostdeutschland. Dabei ist auch zu bedenken, dass zu diesem Zeitpunkt der Warschauer Pakt noch bestand und es somit gar keinen Anlass gab, sich mit der Sowjetunion über zukünftige NATO-Osterweiterungen auszutauschen oder sich gar auf mögliche territoriale Einschränkungen einzulassen.

Bei aller Unsicherheit, wie die Sowjetunion mit der deutschen Frage umging, standen im Winter/Frühjahr 1990 natürlich auch andere europäischen Sicherheitsmodelle im Raum und hinter verschlossen Türen wurden vielerlei diplomatische Versuchsballons gegenüber Moskau gestartet, um die politischen roten Linien der sowjetischen Führungsriege in Erfahrung zu bringen.
[...]​

Die Position von Spohr lässt sich lückenlos, substanziell beispielsweise mit den Quelleneditionen belegen. Mein Hinweise oben gelten nach wie vor, bislang nutzen Deine Postings lediglich das direkt und indirekt abgeleitete 'Renommee', um sich den ganz banalen Grundlagen-Fragen zu entziehen, bilde ich mir ein.
Man würde zusätzlich andreassolar empfehlen, sich wenigstens die Teile von Sarotte anzusehen, in denen sie methodisch die Probleme reflektiert, die sich aus dem eingeschränkten und schwierigen Zugang von teils noch "klassifizierten" Dokumenten ergeben. Und genau die Gewährung des Zugangs für einzelne Personen / Historiker sollte man sich genau ansehen. Also wer welchen Zugang zu welchen "geheimen" Papieren erhalten hat und an diesem Punkt unterscheidet sich die Qualität der Darstellungen doch erheblich, auch bedingt, dass einzelne Arbeiten früher und so mit eingschränktem Zugang konfrontiert waren.
Gerne empfehle ich nochmals die Grundlagenarbeit von
  • Werner Weidenfeld u.a., Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgart 1998, 952 Seiten.
Hier wurden, wie es sich gehört, zahllose Interviews mit zahllosen Akteuren und mehr oder weniger auch zeitweise Beteiligten aus allen möglichen Ländern geführt (66 Personen), zusätzlich zu und vergleichend mit den eingesehenen Dokumenten, Akten, Notizen, aber auch bereits publizierten Memoiren usw. Der Anmerkungsapparat ist entsprechend sehr detailliert und umfangreich.
Ähnlich wurde die sowjetische Dokumentensammlung in der dt. Ausgabe von den deutschen Herausgebern gegengeprüft, verglichen etc. etc.
Ein ganz normales, wissenschaftliche und geschichtswissenschaftliches Vorgehen.

Ich meine, damit wäre eine vermeintliche geheimnisvolle 'Verschwörung' oder vertuschte Geheimstrategie zwangsläufig weniger Beteiligter schon längst aufgedeckt worden, wäre längst aufgefallen, aufgrund der 'Lücken'.
 
Dafür, dass da irgendein unverbindliches Zeugs gelabert wurde, dafür ist es erstaunlich, dass Bush diese "völlig unverbindliche Sicht" als die aus seiner Sicht zutreffende und verbindliche schildert. Ohne sie zu kritisieren oder zu hinterfragen.

"Baker broached Two-plus-Four to Gorbachev on February 9, with the preconditions necessary, including that the process could start only after the elections—to let the Germans make up their minds about reunification first.

Gorbachev said he could accept the plan, as long as it relied on an international legal basis. He appeared to be less worried about a resurgence of German military power than did Shevardnadze. He told Baker he shared the American view that “there is nothing terrifying in the prospect of a unified Germany.” However, he still had reservations about German membership in NATO.

Baker asked whether Gorbachev would rather have a Germany independent and outside of NATO or one tied to the alliance, with assurances “that there would be no extension of NATO’s current jurisdiction eastward.” Gorbachev had not made up his mind on the matter, but he was against an enlargement of NATO. Baker reiterated that “there would be no extension of NATO’s jurisdiction for forces of NATO one inch to the east.” [Meine Hervorhebung]

Gorbachev said he could see advantages to keeping US forces in Germany. He didn’t want a replay of Versailles either, with Germany rearming. “What you have said to me about your approach and preference is very realistic,” he said. “… But don’t ask me to give you a bottom line right now.”"

Bush, George H. W.; Scowcroft, Brent. A World Transformed (S.417-418). Knopf Doubleday Publishing Group.
 
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Und was bedeutet dieses Kein-Zoll-ostwärts-Versprechen für das vereinte Deutschland?
Hätte man die NVA nie in die Bundeswehr integrieren dürfen? Hätten in Ostdeutschland die NVA als neutrale Armee weiter existieren müssen?

Eine Stationierung der Bundeswehr in Ostdeutschland verbietet der 2+4-Vertrag bis zum Abzug der sowjetischen Truppen.
Dann ist nur die Stationierung von ausländischen Streitkräften und Atomwaffen in Ostdeutschland verboten. (Die Amerikaner, Franzosen und Briten rücken also tatsächlich keinen Zoll vor!)
Diese Vertrags-Klausel wurde eingehalten!

Artikel 5 Abs. 3 des Zwei-plus-Vier-Vertages:
Nach dem Abschluß des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins können in diesem Teil Deutschlands auch deutsche Streitkräfteverbände stationiert werden, die in gleicher Weise militärischen Bündnisstrukturen zugeordnet sind wie diejenigen auf dem übrigen deutschen Hoheitsgebiet, allerdings ohne Kernwaffenträger. Darunter fallen nicht konventionelle Waffensysteme, die neben konventioneller andere Einsatzfähigkeiten haben können, die jedoch in diesem Teil Deutschlands für eine konventionelle Rolle ausgerüstet und nur dafür vorgesehen sind. Ausländische Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger werden in diesem Teil Deutschlands weder stationiert noch dorthin verlegt.​
 
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Die unterschiedlichen Modelle, die diskutiert wurden, verfolgten unterschiedliche Ziele. 1. Die Vereinigung der beiden Teile Deutschlands. 2. Die Berücksichtigung der militärischen Interessen der USA in der BRD und die 3. Sicherheitsinteressen der UdSSR

zu 1. Um das zu erreichen wurden Alternativen als "neutraler Staat" oder asl integriert in der Nato diskutiert. Bush und Kohl waren gegen ein Verlassen der BRD aus der Nato. Genscher wollte die beiden Militärblöcke in eine gemeinsamge "Sicherheitspartnerschaft" überführen. Um die Vereinigung der beiden Teile zu erreichen und das Verbleiben der BRD in der Nato zu sichern, kam der Vorschlag (war von Bush oder Genscher) die Jurisdiktion der Nato, also primär die Geltung des §5 nicht auf die Gebiete der DDR anzuwenden. Das brachte gravierende Probleme und Unklarheiten mit sich und es wäre ein völkerrechtliches Unikum entstanden. Das hat man schnell begriffen und ad acta gelegt.

zu 2. Den USA waren die Gebiete in der DDR eher egal. Bush dachte in Kategorien von "arms-reduction" und wollte eine Verringerung der Streitkräfte in Zentral-Europa erreichen. Die Obergrenze sollte bei 195.000 für je eine Seite liegen. Mit dem Abzug der Russen aus der ex-DDR wäre das zu erreichen gewesen, da dort ca. 395.000 Soldagten stationiert waren.

Gleichzeitig war der Erhalt der Mitgliedschaft der BRD in der Nato von extremer Bedeutung, da die komplette Infrastruktur der US-Armee dort angesiedelt war. Ein Aussscheiden der BRD aus der Nato hätte fast zwangsläufig den Abzug der USA aus Europa zur Folge gehabt.

zu 3. Zum Zeitpunkt der Gespräche (1989/90)war die Lage in der UdSSR zwar angespannt, aber kein Experte prognistizierte einen Zusammenbruch der UdSSR oder des WP. Insofern war "not one inch" aus der Sicht von Gorbatschow zum einen auf die DDR bezogen und zum anderen in einer eher generellen Sichtweise formuliert. Allerdings ohne explizit damit die anderen WP-Staaten zu meinen, weil zu dem Zeitpunkt die Struktur und die Mitgliedschaft im WP der anderen Staaten - noch - nicht thematisiert war.

In diesem Sinne wurden die strategischen Sicherheitsinteressen der UdSSR aus der Sicht von Gorbatschow mit der Vereinigung der beiden Staaten nicht zentral berührt und er hat in dem vereinten Deutschland auch keine militärische Bedrohung gesehen. Nicht zuletzt, da sie in die Nato-Strukturen integriert war.

Zur Frage der Veränderung der Bedrohungswahrnehmung in Russland schreibe ich wohl heute noch etwas.
 
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Entlang des Themas dieses Fadens geht es in diesem Beitrag erneut um vermeintliche Versprechen/Täuschung der Moskauer Führung bzw. ein vermeintlicher, gewisser Bruch mit diplomatischen Gepflogenheiten, besonders auf der Ebene zwischen Moskau und Washington D.C. wegen der schon genannten, nicht abgesprochenen Äußerungen von US-Außenminister Baker am 9. Februar 1990 in Moskau oder auch Genschers Ende Januar 1990, allesamt vor Beginn des gemeinsamen Beschlusses der Außenminister der beiden Deutschland sowie der Vier Mächte in Ottawa am 13.2.1990, in den 2+4-Konferenzen die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit sowie Sicherheitsfragen der Nachbarn zu erörtern, gefallen.
Erneut sei auf diverse Literatur aus den 1990ern hingewiesen, die nochmals wissenschaftlich valide belegen kann, dass die sowjetische Führung sich keineswegs getäuscht sah und auch keinen Bruch mit gewissen diplomatischen Gepflogenheiten von Seiten der US-Administration erkannte, was die vermeintliche 'Zusage' Bakers von Anfang Februar 1990 betrifft.

Wie schon mehrfach angesprochen, lies sich stets und lässt sich immer noch luzide, dicht und substanziell belegen - dass sowohl die Vorgespräche wie die Hauptverhandlungen der 2-4-Konferenzen wie auch sonstigen Positionierungen beispielsweise der US-Regierung seit Mitte-Ende Februar 1990 gegenüber der sowjetischen Führung stets die Mitgliedschaft der BRD und eines kommenden geeinten Deutschlands in der NATO betonten. Da gab es keine 'Täuschungen'. Genauso wenig wurde in diesem Rahmen etwa eine Grundsatzentscheidung getroffen/gemeinsam oder wiederholt oder abgestimmt formuliert zu einem expliziten Verzicht auf eine sonstige 'NATO-Osterweiterung'.
Speziell Bush sr. hatte als US-Präsident immer die Notwendigkeit der Nato-Mitgliedschaft Deutschlands postuliert.

Entsprechend fehlten und fehlen nach wie vor in den nachfolgend aufgeführten Publikationen aus den 1990ern alle wissenschaftlich substanziellen Belege für eine 'Täuschung' oder einen 'Bruch mit gewissen Spielregeln' zu Lasten der erkennenden sowjetischen Führung durch die vermeintlichen 'Zusagen' von Ende Januar/Anfang Februar 1990 durch Baker/Genscher etc.

  • Valentin Falin, Konflikte im Kreml, 1997
  • Valentin Falin, Politische Erinnerungen, 1993
  • Julij Kwizinskij, Vor dem Sturm. Erinnerungen eines Diplomaten, 1993
  • Anatolij Tschernjajew, Tagebuch 1990, übersetzt ins Englische, online gestellt von The National Security Archive, 25. Mai 2010
  • Thesen des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik [Russland], Rußland und die NATO, in: August Pradetto (Hrsg.), Ostmitteleuropa, Rußland und die Osterweiterung der NATO, 1997, S. 161-177.
Wissenschaftliche Publikationen:
  • Boris A. Schmeljow, Ist Rußlands Nein endgültig?, in: Wolfram Wallraf (Hrsg.), NATO-Osterweiterung: Neue Mitglieder für ein Bündnis im Wandels?, 1996, S. 139-152 (Internationaler Workshop am 28./29. Juni 1996 in Potsdam, Truman-Haus, Konferenzbeiträge)
  • Aleksandr Galkin und Anatolij Tschernjajew (Hrsg.), Michail Gorbatschow und die deutsche Frage 1986–1991. Sowjetische Dokumente, 2011 (deutschsprachige und kommentierte Ausgabe des russischen Originals von 2006, Moskau).
Tschernjajew war der langjährige sicherheitspolitische Berater von Gorbatschow bis zu dessen Amtsende gewesen.

Der Schwerpunkt der Titel liegt bei russo-sowjetischen Autoren bzw. sowjetischen/russischen Positionen, welche allesamt keine substanziellen, wissenschaftlich ausreichenden Anhaltspunkte und Belege liefern für damals von sowjetischer Seite angenommenen 'Täuschungen' oder 'Bruch mit gewissen Spielregeln' Ende Januar/Anfang Februar 1990 durch 'westliche' Politiker, eigentlich Baker und Genscher.

Sowohl Tschernjajew wie auch die 'Sowjetischen Dokumente' enthalten selbstredend reichlich dokumentierte Interna. So wie die Titel von Kwizinskij und Falin sie aus der Sicht der beiden auch in der BRD tätig gewesenen sowjetischen Diplomaten/Botschafter enthalten.

Empfehlenswert sind begleitend zahllose SPIEGEL-Artikel jener turbulenten, zeitweise hektischen und gespannten Phase von Dezember 1990 bis zur Unterzeichnung des 2+4-Vertrages am 12.9.1990 in Moskau.
 
Diplomatische Gepflogenheiten:
  • wichtige Treffen werden i.d.R. von den Regierungschefs samt den Fachministern bestritten
  • wichtige Übereinstimmungen werden stets durch Formeln wie A: 'ich ziehe mal ein Resümee, aus meiner Sicht, unserer Gespräche/unseres Gespräches...', 'ich ziehe mal einen Zwischenstand, aus meiner Sicht, ....'
    und der expliziten Bestätigung der Richtigkeit der Wiedergabe des Gesprächsverlaufes durch B festgehalten, B wird die Bestätigung meist mit begleitenden Worten und vielleicht Erläuterungen versehen, ggf. korrigieren oder verwerfen
  • wichtige Übereinstimmungen werden in aller Regel wenig später gleichen Tages vor der Presse gemeinsam bekannt gegeben
  • üblicherweise darf hier die eingeladene Partei, hier A, zuerst die Ergebnisse aus ihrer Sicht darstellen
  • spätestens hier kann die einladende Partei, hier B, nach den Erklärungen von A die aus Sicht von B nicht vollständigen, nicht ganz zutreffenden vermeintlichen Übereinstimmungen, die Abweichungen explizit zu den Erklärungen von A aussprechen, thematisieren. Tut das B nicht, gilt das als Zustimmung.
  • Diese übereinstimmenden und/oder von der anderen Seite nicht weiter ergänzten oder korrigierten Erklärungen gelten als diplomatische Zusage und stellen wiederum (nur) bedingt ein völkerrechtliches oder bilaterales, vertragliches Abkommen dar.
Selbstverständlich fehlen alle diese Merkmale der diplomatischen Gepflogenheiten bei der vermeintlichen Zusage Bakers gegenüber Gorbatschow.
Daher wird die vermeintliche, in neuester Zeit als 'Zusage' kolportierte Äußerung Bakers vom 9.2.1990 in Moskau in der sowjetischen Literatur bzw. in den (russischen) Publikationen über die sowjetische Zeit aus den 1990er Jahren nirgends referiert. Siehe die oben angeführte Literatur.

Für Einsteiger lohnt sich die Lektüre der Quellenedition
  • Aleksandr Galkin und Anatolij Tschernjajew (Hrsg.), Michail Gorbatschow und die deutsche Frage 1986–1991. Sowjetische Dokumente, 2011 (deutschsprachige und kommentierte Ausgabe des russischen Originals von 2006, Moskau),
da sie zeigt, wie viele Gespräche Gorbatschow bzw. die Gorbatschow-Administration allein in der ersten Hälfte des Februar bzw. im Februar 1990 insgesamt mit 'westlichen' Regierungsvertretern führte - und dass in keinem weiteren Gespräch dieser Zeit Bakers vermeintliche Zusage referiert wird und kein weiterer 'westlicher' Vertreter sie wiederholt oder gleichbedeutende Äußerungen kommuniziert hat oder als diplomatische Zusage wertbares Ergebnis eines Gespräches herbei geführt hat.
Auch in den nachfolgenden Wochen und Monaten wird Bakers vermeintliche Zusage nicht referiert.
 
Entlang des Themas dieses Fadens geht es in diesem Beitrag erneut um vermeintliche Versprechen/Täuschung der Moskauer Führung bzw. ein vermeintlicher, gewisser Bruch mit diplomatischen Gepflogenheiten, besonders auf der Ebene zwischen Moskau und Washington D.C. wegen der schon genannten, nicht abgesprochenen Äußerungen von US-Außenminister Baker am 9. Februar 1990 in Moskau oder auch Genschers Ende Januar 1990, allesamt vor Beginn des gemeinsamen Beschlusses der Außenminister der beiden Deutschland sowie der Vier Mächte in Ottawa am 13.2.1990, in den 2+4-Konferenzen die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit sowie Sicherheitsfragen der Nachbarn zu erörtern, gefallen.
Erneut sei auf diverse Literatur aus den 1990ern hingewiesen, die nochmals wissenschaftlich valide belegen kann, dass die sowjetische Führung sich keineswegs getäuscht sah und auch keinen Bruch mit gewissen diplomatischen Gepflogenheiten von Seiten der US-Administration erkannte, was die vermeintliche 'Zusage' Bakers von Anfang Februar 1990 betrifft.

Die Diskussion über die Nato-Osterweiterung berührt drei Themenkomplexe. Die erste Fragestellung und die eigentliche seriöse Frage, betrifft die Rekonstruktion, was im Rahmen der diplomatischen Verhandlungen formuliert wurde, wie es verstanden wurde und dann auch die Frage, in welcher Form es als Vertrag formalisiert wurde. Das ist die genuine Arbeit des Historikers.

Daraus abgeleitet ergibt sich ein Aspekt, der für die Meinung in Russland von Bedeutung war und ist. Im Ergebnis des Prozesses des Zerfalls der UdSSR hatte das post-sowjetische Russland politisch, wirtschaftlich und militärisch deutlich an Relevanz verloren. Und als Reaktion auf diesen kollektiven Schock, verstärkt durch die massive Wirtschaftskrise von 1998, wurde die Frage nach den Ursachen und damit verbundenen Schuldzuschreibungen laut. In diesem Kontext erfuhren reale oder imaginierte Zusagen eine Instrumentalisierung und verstärkten das Feindbild bei ca. 60 bis 70 Prozent der Russen in Richtung USA und Nato.

Dieser Aspekt ist separat als Veränderung des Verhältnisses zwischen der Nato, der EU und Russland zu betrachten und die damit verbundene Veränderung des Meinungsklimas.


In Interaktion mit dieser Haltung in der Bevölkerung, die durch einen nationalistischen russischen Narrativ begünstigt wurde, griff Putin dieses Argument auf und instrumentalisierte es als Erklärung und Begründung für seinen Angriff auf die Ukraine.

Dieser dritte Aspekt ist völlig unabhängig von den beiden vorherigen zu bewerten, da es keine völkerrechtlich akzeptable Begründung für einen Angriffskrieg gibt. Insofern ist auch die positive wie negative Beantwortung der ersten beiden –seriösen – wissenschaftlichen Fragestellungen völlig egal. Der Krieg verletzt in jedem Fall das Völkerrecht.

In Deinen Antworten merkt man leider, dass Du nicht die Texte liest, die Du kritisiert und deswegen Positionen / Popanze angreifst, die Du selber hingestellt hast. Das ist wenig konstruktiv und deswegen führen Diskussionen leider fast immer mit Dir in Einbahnstraßen.

1. Das es entsprechende Äußerungen "not one inc" gab wurde dokumentiert. Das zu leugnen ist komplett an der dokumentierten Realität vorbei. Und es ging mir primär darum, zu zeigen, dass es diese Äußerungen gab. Sicherlich, unter anderem ein US-Präsident und eine US-Sicherheitsberaterin sind keine keine ausreichend autorisierten Quellen. Und mir ist schon klar, dass nur Deine eigenen Hinweise auf Literatur für Dich eine gewisse Relevanz haben.

2. Bitte die Stelle mir zeigen, wo ich von "Täuschungen" gesprochen habe? Ein Begriff, der von Dir ins Spiel gebracht wurde, quasi als Popanz. Ich weiss, es hilft der "Argumentation". Und von mir stammt sicherlich keine Äußerung, dass sich Gorbatschow angeblich getäuscht gefühlt hätte. Also bitte für Deine Behauptung einen Beleg!!!!

3. Zu den Verhandlungen 2+4 habe ich gar nichts gesagt, weil es mir um die Bedeutung der Aussage als Grundlage für einen Narrativ ging. Ein Narrativ, der extrem wirkungsmächtig in Russland ist, weil er leicht "reaktivierbar" ist. Diese Form der problematischen Reaktivierung durch Russland als selbsternannte "Schutzmacht" zeigt Mendeloff am Beispiel der Kosovo-Konflikts 1999. Und die Aussagen von Baker "not one inch" haben primär deshalb eine Bedeutung für den russischen Narrativ gewonnen, nicht weil sich während der 2+4 jemand "über den Tisch gezogen gefühlt" oder getäuscht gefühlt hätte (und sollte es der Fall gewesen sein, die "Scheckbuch-Diplomatie" von Kohl sorgte für Linderung), sondern um eine Erklärung für die nationale Identität zu gewinnen, warum man von einer Supermacht zu einer atomaren Großmacht abgestiegen ist.

Ansonsten verweist Gorbatschow darauf, dass seine Nachfolger die Fehler bei der weiteren Entwicklung gemacht haben. Er hätte in den 2+4 keine Fehler gemacht bei der Wahrnehmung der sowjetischen Interessen. Kann man so sehen, andere krtisieren ihn dafür. Ist ein anderes Thema.

Das habe ich unter "zweiten Aspekt" angesprochen. Gut, interessiert Dich auch nicht. Auf diesen Aspekt des Narrativs und der Entwicklung der öffentlichen Meinung in Russland zur Nato, vor dem Hintergrund des im Narrativ ausformulierten Gefühls "über den Tisch gezogen worden zu sein" wird - endlich - in dem nächsten Beitrag einzugehen sein.

Und dann landet man bei der Unterstützung von Putin durch große Teile der Russen. Und diesen historischen Kontext wird man sich stellen müssen, um die russische Außen- und Innenpolitik zu verstehen. Und wenn man es nicht will, dann soll man sich halt bessere Erklärungen suchen. Ist mir doch egal.

Mendeloff, David (2008): `Pernicious History' as a Cause of National Misperceptions. In: Cooperation and Conflict 43 (1), S. 31–56.
Simes, Dimitri K. (2018): Losing Russia. The Cost of Renewed Confrontation. In: Henry Kissinger, Dimitri K. Simes und Robert et. al. Legvold (Hg.): A New Cold War? Russia and America, Then and Now. 35 Bände (Foreign Affairs Anthology), 499–516.
 
Natürlich gehört die Recherche der Entstehung und Geschichte dieser Legendenbildung zum Grundwerkzeug/Handwerkszeug substanzieller wissenschaftlicher Arbeit.
Die russo-sowjetische Legendenbildung über vermeintlich gebrochene Versprechen bei den 2+4-Verhandlungen oder womöglich auch davor, setzt in der zweiten Hälfte der 1990er Jahren ein. So auch meine ungefähre Erinnerung.


So wird in der wissenschaftlichen Arbeit Ist Rußlands Nein endgültig? von Boris A. Schmeljow, dem früheren Vizedirektor der Diplomatenakademie des sowjetischen Außenministeriums, bei Publikation der Arbeit 1996 als Professor am Institut für Weltwirtschaft und Politische Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften (Moskau) tätig, bei seiner Darstellung der Position entscheidender, bedeutsamer gesellschaftlicher und politischer Akteure bzw. Gruppierungen, Parteien und Institutionen in Rußland zu einer möglichen NATO-Ostererweiterung noch nirgends ein gebrochenes Versprechen oder Ähnliches im bekannten Kontext erwähnt, angeführt.

Schmeljows Text enthält auch einen Abriss der Entstehung der NATO-Skepsis bzw. NATO-Feindschaft in Russland.
Dieser beginnt mit der Billigung polnischer NATO-Beitrittswünsche durch Jelzin bei einem Staatsbesuch in Polen im August 1993, die - zusammen mit Jelzins Idee einer umfassenden Kompetenz der OSZE - bei den politischen Eliten Russlands Ablehnung und Widerstand hervor ruft. Die Duma-Wahlen danach im Dezember 1993 mit dem Sieg der NATO-feindlichen Parteien der Nationalisten um Schirinowski und der Kommunisten um Sjuganow verstärken und belegen die Entwicklung und Formierung der NATO ablehnenden Kräfte in Russland. Die Jelzin-Administration reagiert auf beides mit einer zunehmenden erklärten Distanz zur NATO und vor allem Ablehnung der den nach den russischen Dumawahlen 1993 mit dem Sieg der populistischen Nationalisten und den orthodoxen Kommunisten im östlichen Europa deutlich stärker werdenden NATO-Erweiterungswünschen. Das ist der binnenrussische Ausgangspunkt.
Q: Boris A. Schmeljow, Ist Rußlands Nein endgültig?, in: Wolfram Wallraf (Hrsg.), NATO-Osterweiterung: Neue Mitglieder für ein Bündnis im Wandel?, Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, Potsdam 1996, S. 139-152 (Internationaler Workshop am 28./29. Juni 1996 in Potsdam, Truman-Haus, Konferenzbeiträge). Schmeljows Paper ist offenkundig 1995 bis Ende 1995 entstanden.

Eine erste Erwähnung der Legende fand ich in A New Iron Curtain von Anatol Lieven von Anatol Lieven, The Atlantic, Januar 1996, der britische Politikwissenschaftlicher notiert u.a:

The reasons for Russian opposition are twofold: In the first place, NATO expansion is seen as a betrayal of clear though implicit promises made by the West in 1990-1991, and a sign that the West regards Russia not as an ally but as a defeated enemy. Russians point out that Moscow agreed to withdraw troops from the former East Germany following unification after NATO promised not to station its troops there. Now NATO is planning to leapfrog over eastern Germany and end up 500 miles closer to Russia, in Poland.
(übersetzt mit deepl:
Die Gründe für die russische Ablehnung sind zweierlei: Erstens wird die NATO-Erweiterung als Verrat an den eindeutigen, wenn auch impliziten Zusagen des Westens aus den Jahren 1990-1991 angesehen und als Zeichen dafür, dass der Westen Russland nicht als Verbündeten, sondern als besiegten Feind betrachtet. Die Russen weisen darauf hin, dass Moskau nach der Wiedervereinigung zugestimmt hat, seine Truppen aus der ehemaligen DDR abzuziehen, nachdem die NATO versprochen hatte, dort keine Truppen zu stationieren. Jetzt plant die NATO, Ostdeutschland zu überspringen und 500 Meilen näher an Russland zu landen, nämlich in Polen.)

Eine Mitgliedschaft Russlands selber in der NATO wurde dort wiederum keineswegs abgelehnt.
Die Aussichten: Wladimir Wladimirowitsch hatte obige russische Legende/Behauptung zunächst nicht übernommen, zu eigen gemacht und kommuniziert, problematisiert. So beispielsweise u.a. beim Deutschland-Besuch im September 2001, in den USA usw. 1999 waren Polen, Ungarn und Tschechien der NATO beigetreten, beim NATO-Gipfel in Washington im April 1999 wurde ein Aktionsplan gebilligt:

Auf dem Washingtoner Gipfel haben die Staats- und Regierungschefs der NATO einen Aktionsplan zur Mitgliedschaft (MAP) gebilligt, um das Bekenntnis der NATO zur Offenheit der Allianz zu bekräftigen. Wir haben heute einen Bericht über die bisherige Umsetzung dieses Aktionsplans entgegengenommen. Wir freuen uns, dass dieser Prozess gut angelaufen ist und auf positive Resonanz bei den neun beitrittswilligen Ländern gestoßen ist. Diese Länder haben nationale Jahresprogramme vorgelegt, die die Allianz in die Lage versetzen, ihnen bei ihren Vorbereitungen auf eine mögliche zukünftige Mitgliedschaft direkte Beratung, Rückkopplung und Unterstützung zuteil werden zu lassen.

Hervorhebung in fett von mir. Die neun Staaten waren: Albanien, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Nordmazedonien, Rumänien, die Slowakei, und Slowenien.
 
Bei einer systematischen Quellen-Auswertung bzw Auswertung der sowjetischen Quellenedition Galkin/Tschernjajew, Michail Gorbatschow (2011), des Zeitraums Februar-Mai 1990 wird klar sichtbar, für Gorbatschow/Schewardnadse waren die anfänglich teils gefallenen Äußerungen hinsichtlich einer Nichtausdehnung der Nato auf DDR-Gebiet oder eines gewissen Sonderstatus des DDR-Gebietes vollkommen uninteressant, da beide bis Mitte/Ende Mai 1990 - mit gewissen Schwankungen - schlicht immer nur die Neutralität, die insgesamte NATO-Nichtmitgliedschaft eines geeinten Deutschland (akzeptieren) wollten.

Zu keinem Zeitpunkt gingen sie auf jene Äußerungen ein, wiederholten sie sie als Einverständnis, vertieften sie diese als Ausgangsbasis, noch beriefen sich die beiden Sowjet-Politiker später darauf in den 2+4-Verhandlungen. Nie.

Mitterand verdeutlichte entsprechend in einem Gespräch mit Gorbatschow Ende April 1990 sinngemäß und schnörkellos, dass Gorbatschow sich mit dieser kompromislosen Nein-Position zu einer NATO-Mitgliedschaft eines geeinten Deutschland in eine Sackgasse manövriert habe, Gorbi aber damit inzwischen gar nichts mehr verhindern und bewirken könne.
 
Der historische Kontext Februar-Mai/Juni 1990 aus sowjetischer Sicht enthält ab Mitte/Ende Februar die Bemühungen, den erklärten Willen der litauischen Sowjetrepublik, Teil der Sowjetunion, nach Unabhängigkeit von der Sowjetunion, explizit dargestellt mit der litauischen Unabhängigkeitserklärung am 11. März. Worauf die sowjetische Führung mit Ablehnung, Wirtschaftssanktionen und massiven politischem Druck reagiert.

Diese angebrochene 'Eiszeit', diese Spannungen und die Herausforderung sowjetischer Macht in der Sowjetunion selbst werden sofort in den Haltungen und Gesprächen der sowjetischen Führung sichtbar, sie bewirken eine verstärkte und betonte Kompromisslosigkeit beispielsweise beim Thema einer NATO-Mitgliedschaft eines kommenden geeinten Deutschland.

Wegen dieser Auswirkungen hatte beispielsweise Bundeskanzler Kohl der litauischen Premierministerin Prunskiene bei ihm Besuch Anfang Mai 1990 in Bonn deutlich gemacht, dass er die Entscheidungen der litauischen Führung an ihrer Stelle nicht getroffen hätte.
Kanzler-Berater Horst Teltschik führte u.a. dies am 14.5.90 in einen Gespräch mit Gorbatschow in Moskau aus:

In Europa ist niemand an einer Destabilisierung interessiert, die wegen Litauen entstehen kann.* Deshalb hat der Kanzler Frau Prunskiene offen gesagt, dass er an der Stelle der litauischen Führung die Entscheidungen, die bei ihnen getroffen worden sind, nicht getroffen hätte. Es muss einen Dialog ohne irgendwelche Vorbedingungen geben und der beste Ausgangspunkt für einen solchen Dialog wäre es, die bewusste Erklärung des litauischen Parlaments vom 10. März einzufrieren.

M. S. Gorbacˇev: Völlig richtig. Alles muss auf den Zustand vor dem 10. März zurückgesetzt werden. Dann könnte man im Rahmen eines Verfassungsprozesses mit dem Scheidungsverfahren beginnen. Unter denen, die in Litauen an die Macht gekommen sind, gibt es zahlreiche unseriöse Menschen, darunter sogar Abenteurer. Das sollte auch im Westen erkennbar sein. Wir haben begrenzte Wirtschaftssanktionen vorgenommen, damit sie spüren, was es bedeutet, mit dem übrigen Teil der Föderation zu brechen.

[...]​

Q: Galkin, Michail Gorbatschow (2011), S. 404.
 
Was in der kreativen Rückschau und Rückprojektion inzwischen öfter gänzlich übersehen wird, damals wiederum nicht:
Sowohl Genschers Tutzinger Äußerungen von Ende Januar und Bakers gesamte Ausführungen am 9.2.90 in Moskau gegenüber Gorbatschow negieren eine Neutralität Gesamt-Deutschlands, und beide Positionen enthalten ex- wie implizit die Mitgliedschaft eines geeinten Deutschland in der NATO und die unverminderte NATO-Präsenz wie bisher. Ebenso werden Überlegungen einer jeweils weiterbestehenden Bündnis-Mitgliedschaft für das Gebiet der BRD (NATO) und der DDR (WVO) in einem geeinten Deutschland nicht unterstützt.

Militärisch wie militärstrategisch, das betont Gorbi damals immer wieder, stellte die DDR den mit Abstand wichtigsten, bedeutendsten Standort außerhalb der Sowjetunion dar. Sinngemäß erklärte er beispielsweise US-Präsident Bush irgendwann im Mai 1990, dass Lösungen nach Vorstellungen, die Sowjetunion gebe ihren Militärstandort DDR in einem geeinten Deutschland auf, aber die NATO bleibe wie bisher in Deutschland (und sei es Westdeutschland), ausgeschlossen, inakzeptabel seien.
 
In jenem Gespräch Baker-Gorbatschow am 9. Februar 1990 referierte Gorbatschow auch jene Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing Ende Januar 1990 zur Zukunft BRD/DDR mit vielen wichtigen Teilnehmern recht ausführlich....U.a. erwähnt er, die Teilnehmermehrheit habe dafür votiert, ein geeintes Deutschland solle beiden Militärbündnissen angehören, die NATO Westen usw., ein kleiner Teil habe sich für die Neutralität ausgesprochen. Beide Positionen entsprachen auch Gorbatschows eigenen Vorstellungen.

Genscher, der sich dagegen in Tutzing explzit für eine auch zukünftige NATO-Mitgliedschaft Gesamt-Deutschlands positionerte, mit dem Zusatz, die NATO möge sich in einem wie auch immer geeinten Deutschland nicht weiter nach 'Osten' [DDR-Gebiet] ausdehnen, wird in Gorbis längeren Ausführungen zur Tutzinger Tagung mit keiner Silbe erwähnt.

Dies zeigt nochmals, dass Genschers Tutzinger Vorschläge/Anregungen bei Gorbatschow auf keine Gegegenliebe, keine Resonanz stießen, wie die anderen, ganz ähnlichen von Baker Anfang Februar.
 
Dass Genschers Äußerungen in Tutzing Ende Januar 1990 für Gorbatschow nicht akzeptabel waren, zeigt sich auch in seinem Brief vom 7. Februar 1990 an Willy Brand in Willy Brand, Berliner Ausgabe, Band 10, S. 432f., u.a. schreibt Gorbatschow an Brandt:

Der militärisch-politische Status des künftigen einheitlichen Deutschland ist für uns das Schlüsselproblem. Und es muß so gelöst werden, daß die Sicherheit der Sowjetunion dadurch nicht benachteiligt, daß der Friedensprozeß in Europa dadurch bekräftigt wird. Man sollte wohl kaum die Erörterung der dazu gehörenden Pro- [432] bleme, einschließlich der Möglichkeit für die militärische Neutralität Deutschlands, aufschieben. Mit ihrer Erörterung könnte man schon jetzt im Kreise der vier Mächte und der beiden deutschen Staaten beginnen. Selbstverständlich gibt es auch eine andere Variante, nämlich die Erörterung im Rahmen eines gesamteuropäischen Forums.
Wie dem auch sei, aber das Sicherheitsproblem läßt sich, ob es uns gefällt oder nicht, keinesfalls umgehen. Und diejenigen, die sich auf Gedankengänge über die Zugehörigkeit des ganzen künftigen einheitlichen Deutschland bzw. dessen Teile zur NATO und über die weitere Benutzung des Territoriums der BRD zu den Zwecken einlassen, die den Zielen eines militärischen Blocks dienen, sind gegen die Wiedervereinigung, sind für das Fortbestehen der Spaltung.

Unterstreichungen von mir. Und gegen diese damals, im zweiten Absatz unterstrichenen, aufgestellten Behauptungen, Einschränkungen und postulierten Ausschlußkriterien, hier von Gorbatschow vorgebracht, hat sich Genscher in seinem Tutzinger Beitrag gewandt.
Die jetzt verbreiteten retroperspektiven Interpretationen Genschers Äußerungen in Tutzing blenden teils bewusst oder aus programmatischen Überlegungen, teils aus mangelnden substanziellen Kenntnissen des Zeitkontextes den Rest von Genschers Rede wie auch den Anlass, Tutzinger Umfeld und Zeitkontext seiner Stellungnahme aus, Gorbatschow Nichtakzeptanz, Ablehnung ebenso. Dass Bakers ganz ähnlicher, weil mit Genscher abgestimmter Vorschlag in den Gesprächen mit Gorbi am 9.2.90 auf keine nachhaltige, explizite Resonanz und Zustimmung treffen und auch nicht beidseitig anschließend öffentlich kommuniziert werden konnte, und sich niemand in der sowjetischen Führung auch in den nachfolgenden Tagen, Wochen und Monaten berufen wollte, ist evident.

Auch Willy Brandt hat sich in Tutzing gegen eine Neutralität oder eine Zwei-Bündnisse-Lösung für ein geeintes Deutschland positioniert.
 
Oder besser formuliert, Gorbatschows (unterstrichene) Worte im Brief an Brandt sind die Reaktion auf die vom Bundesaußenminister, in der Tutzinger deutsch-deutschen Zusammenkunft über die Zukunft beider und eines geeinten Deutschland, ausgebreiteten Vorstellungen & Positionen zur weiteren Zukunft der deutsch-deutschen Entwicklungen. Bei Treffen mit Baker am 9.2. in Moskau übergeht Gorbatschow bei der Darstellung der Tutzinger Zusammenkunft einfach den Auftritt Genschers, referiert dafür die ihm zusagenden Hauptpositionen des Tutzinger Treffens, vergißt aber dabei nicht Willy Brandt Tutzinger Ansichten....:D .. echt gekonnt...man darf davon ausgehen, dass Baker von Genschers Auftritt wusste...
 
Da sitzt Baker nun bei Gorbi und versucht den Genscher-Baker-Luftballon wie Sauerbier an den Mann zu bringen.;)..kann man schön nachlesen
 
Spiegel-Interview 24.03.1991 schrieb:
SPIEGEL: Wollen Sie damit sagen, daß für die Nationen der Sowjetunion das Prinzip der Freiheit der Wahl des eigenen Weges nicht gilt, das Sie für andere Völker proklamiert haben?

GORBATSCHOW: Wir sollten die Position einnehmen, die wir seinerzeit Osteuropa gegenüber bezogen haben. Wir sind bei uns dafür sehr stark kritisiert worden und da manchen offenbar sehr auf die Nerven gegangen. Die osteuropäischen Staaten wollten sich ganz schnell zum Westen wenden. Wir haben darüber nachgedacht und sind zu dem Schluß gekommen: Mögen diese Länder doch selbst entscheiden, was sie brauchen und was für eine Gesellschaft sie haben wollen. Wenig mehr als ein Jahr ist vergangen ...
https://www.spiegel.de/politik/es-ist-nicht-alles-verloren-a-edb8fccc-0002-0001-0000-000013507254
Gorbatschow erzählt zwar viel, aber sagt wenig.
 
Für EinsteigerInnen, die einen ersten Überblick suchen, mögen die diversen Schriften von Mary Elise Sarotte hilfreich sein. Sonst m.E. wohl eher nicht aufgrund gehäufter handwerklicher und methodischer Schwächen. Ein typisches Beispiel scheint mir ihre Schilderung der Episode des Bundeskanzler-Besuches am 10. Februar 1990 in Moskau zu sein.

Sarotte, Führungsduo?, in: Geiger u.a. (Hrsg.), Zwei plus Vier. Die internationale Gründungsgeschichte der Berliner Republik (2021), S. 47-63, hier S. 60 f.

Ein einem ‚Vier-Augen-Gespräch‘ Kohl-Gorbatschow am Spätnachmittag des 10.2. gab es u.a. folgenden Wortwechsel:

M. S. Gorbacˇev: Wahrscheinlich kann man sagen, dass zwischen der Sowjetunion, der BRD und der DDR keine Meinungsverschiedenheiten in der Frage der Einheit der deutschen Nation bestehen und dass die Deutschen diese Frage selbst entscheiden. Kurzum, im wichtigsten Ausgangspunkt besteht Einvernehmen: Die Deutschen selbst müssen ihre Wahl treffen. Und sie sollen diese unsere Position kennen.
H. Kohl: Die Deutschen wissen das. Sie wollen sagen, dass die Frage der Einheit die Wahl der Deutschen selbst ist.
M. S. Gorbacˇev: Aber im Kontext der Realitäten.
H. Kohl: Damit bin ich einverstanden

Kohl kann daher gegen Ende des Gesprächs ein kurzes Resümee ziehen, u.a. mit „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann haben Sie gesagt, dass die Entscheidung über die Vereinigung der Deutschen eine Frage der Deutschen selbst ist.“ [...]

Gorbi antwortete darauf:

Sie haben ziemlich genau das wiedergegeben, was ich gesagt habe. Ich möchte nur noch einmal zum Anfang unseres Gesprächs zurückkehren: Die Sowjetunion und die BRD stellen unter Berücksichtigung der Meinung Modrows fest, dass keine Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Probleme der Einheit Deutschlands sowie des Rechtes der Deutschen, ihre Wahl zu treffen, existieren.[…]​

Bei Sarotte wird nur dieser Satz zitiert:

Sie haben ziemlich genau das wiedergegeben, was ich gesagt habe.

....mit der Bemerkung, obwohl Gorbatschows Antwort etwas vage gewesen sei, habe sie Kohl völlig ausgereicht.

Sarotte weiter:

Kohl und Gorbatschow trafen anschließend wieder mit ihren Delegationen zu einer gemeinsamen größeren Sitzung zusammen. Sobald sie versammelt waren, wiederholte Kohl die Zusammenfassung, auf die er sich gerade mit Gorbatschow geeinigt hatte. Der Bundeskanzler sagte der Delegation: „Er begrüße sehr die Feststellung des Generalsekretärs, daß die Frage, ob die Deutschen in staatliche Einheit leben wollen, eine Frage der Deutsche ist, eine Frage, die sie selbst entscheiden müssen.“ Kohl lenkte also die Aufmerksamkeit auf das grüne Licht, das er gerade von Gorbatschow bekommen hatte. Derr Bundeskanzler musste sicherstellen, dass so viele Personen wie möglich es sahen, bevor die Ampel wieder auf Rot springen könnte.

Bei Sarotte fehlt, dass
  • Gorbatschow die zweite, größere Runde eröffnete,
  • Gorbi nach den einleitenden Worten unmittelbar auf das Recht der Deutschen auf freie Wahl der Staatsform und Einheit eingeht, in Übereinstimmung mit Kohl: Ich bin mit dem Bundeskanzler zur gemeinsamen Auffassung gelangt, dass die Frage nach der Zukunft des deutschen Volkes – und diese Zukunft rückt näher – über seine Staatlichkeit und über die Wahl, die es treffen will, dass dies natürlich die Wahl der Deutschen ist.
Es war Gorbatschow, der die Delegationen davon unterrichtete, und Kohls angeführte Äußerungen hat dieser nicht an die Delegation, sondern an Gorbatschow gerichtet, wie man unschwer an seiner Wortwahl erkennen kann.....
Die bundesdeutsche, von Sarotte genutzte Quelle und die sowjetischen Quellen stimmen hier inhaltlich weitestgehend und selbst sprachlich noch weitgehend überein, ich nutzte sowohl Sarotte wie Galkin u.a., Michail Gorbatschow (2011) für die Zitate.
Ihre Schlussfolgerungen – vielleicht auch ihre ‚wissenschaftlichen‘ Qualitäten - sind mehr literarischer Natur. Anschaulich phantasiert und suggeriert sie:

Der Bundeskanzler sagte….
Kohl lenkte….
Der Bundeskanzler musste sicherstellen...


Ähnlich kreativ geht sie mit Genschers Tutzinger Rede, dem Zeitkontext, den verwendeten Quellen-Editionen sowie mit wissenschaftlichen Arbeiten um. So blendet sie recht konsequent die damals größere, wichtigere Botschaft in Genschers Rede aus: NATO-Mitgliedschaft eines zukünftigen, geeinten Deutschland, Absage an Neutralitätsvorstellungen. Selbst und obwohl die entsprechenden, damaligen Quellen und zeitnahen wissenschaftlichen Publikationen dies teils explizit auch so darstellen, die sie verwendet....
 
Die tendenziell etwas romanhaften Ausgestaltungen verbinden sich bei Sarotte a.a.O. mit dem etwas zu starken Narrativ aus der Rückschau von der angeblich verpassten Chance Gorbatschows, die Nichtausdehnung der NATO - auf DDR-Gebiet oder sonst wo - im 'Vier-Augen-Gespräch' mit Kohl am 10. Februar 1990 in Moskau festzuklopfen. Sie übergeht notorisch Kohls deutliche Absage an alle (sowjetischen) Wünsche und Forderungen einer bündnispolitischen Neutralität Deutschlands oder einer Zwei-Bündnisse-Idee, und sein nachdrückliches Eintreten für ein Gesamtdeutschland in der NATO im Vier-Augen-Gespräch Gorbatschow-Kohl.
Und sie übergeht entsprechend bzw. versteht entsprechend nicht, dass bzw. warum Gorbatschow ebenso wenig im Gespräch dezidiert Kohls vermeintliche Zusage, seine Ausführungen hinsichtlich der NATO-Ausdehnung als vermeintliche 'Sensation' wiederholt und vertieft, resümiert. Kohl schon, denn in seinem Resümee gegen Ende des Vier-Augen-Gespräches wiederholt Kohl seine vermeintlichen Zusagen zur NATO-Nichtausdehnung nicht, ohne Widerspruch oder Korrektur von Gorbi....

Auch in der großen Runde des nachfolgenden zweiten Gespräches wird die vermeintliche Zusage wg. NATO nicht von sowjetischer Seite nochmals aufgegriffen, resümiert, vertieft usw. Ebenso wenig von der bundesdeutschen Seite....

Bildlich vereinfacht gesprochen, wird aus dem Appetizer 'NATO-Nichtausdehnung DDR', den Kohl anbietet als Anregung, eine vermeintliche Zusage konstruiert. Eine Konstruktion, welche vielfach das 'Hauptmenü' ausblendet, übergeht, welches Kohl Gorbatschow hauptsächlich überbracht hatte...;)
 
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Die Idee von Ende Januar, Anfang Februar, das DDR-Gebiet eines geeinten Deutschland aus der Nato-Zuständigkeit auszuklammern, war erkennbar die Ausgangsbasis für die später offensiv ab Ende April z.b. von Baker der sowjetischen Führüng angebotenen Formel eines temporären Sonderstatus des DDR-Gebietes in einem geeinten Deutschland hinsichtlich der NATO.

Sie wurde in Moskau natürlich ebenfalls nicht angenommem, ähnelte jedoch schon ziemlich der künftig akzeptierten Kompromißformel für das DDR-Gebiet. Erst in der Rückschau erlangte daher die GenscherBakerKohl-Idee von Ende Januar, Anfang Februar eine vermeintliche Bedeutung, die sie unmittelbar überhaupt nicht gehabt hatte.
 
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