Zahl der Nationalstaaten im Verlauf der Geschichte: Weltstaat?

Holzmichl

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Hallo zusammen.

seit den Bestsellern von Yuval Noah Harari interessiere ich mich für Universalgeschichte.

Neuerlich bin ich der These des Ethnologen Carneiro begegnet, allerdings nur sehr oberflächlich und Details sind nur schwer zu finden.

Es geht um die Frage, ob die Menschheit auf einen Weltstaat zusteuert. Im Pleistozän bestend die Menschheit nämlich aus geschätzt 36.000 Gesellschaften, heute sind es nur noch 195 Nationen. Natürlich ist das sehr einfach dargestellt, wenn man sich anschaut, dass alleine in Russland zum Beispiel 44 indigene Völker leben, dann sieht man, dass die Menschen innerhalb eines Landes oft noch immer in Gruppen getrennt sind. Aber auf politischer Ebene jedenfalls wird die Zahl der Strukturen offenbar immer geringer.

Laut Corneiro könnte es nun also zwischen den Jahren 2300 und 3500 zu einem Weltreich kommen. Diese beiden Zahlen leitet er aus der bisherigen Entwicklung her. Natürlich ist es immer schwierig, die Geschichte einfach so in die Zukunft fortzuschreiben, aber wollen wir seiner Argumentation mal folgen (wäre irgendwie ja auch eine tolle Vorstellung).

1. Warum das Jahr 3500?
Auf das Jahr 3500 kommt man (oder in dem Fall Corneiro), wenn man sich die Größenzunahme der 28 größten Reiche seit Akkad im Jahr 2100 vor Christus aus anschaut. Das finde ich persönlich deswegen erstaunlich, weil die größten Reiche ja bereits der Vergangenheit angehören – also die Tendenz doch eher gegenläufig ist? Das größte Weltreich war bisher das Britische Weltreich in der Hochphase 1920, gefolgt vom Mongolischen Reich im 13. Jahrundert und dem Russischen Kaiserreich 1895.

Wenn man sich die Weltreiche nach der Anzahl der Bevölkerung anschaut, dann sind die größten Reiche sogar noch länger zurück: Das Achämenidenreich umfasste 480 vor Christus zwischen 20 und 44% der Weltbevölkerung (ja es war damals schwer zu zählen), gefolgt vom Sassanidenreich mit 37,1% im 7. Jahrhundert und er Qing-Dynastie 1820 mit 36,6%.

Also vielleicht kann ja jemand Licht ins Dunkel bringen, wie diese Argumentation Sinn machen könnte?

2. Warum das Jahr 2300?
Auf das Jahr 2300 kommt Corneiro, wenn man sich die Abnahme der autonomen politischen Einheiten seit 1500 vor Christus anschaut.

Und genau hier muss ich einhaken. Derzeit sind solche Politischen Einheiten ja die Nationalstaaten – ein Konzept, das am Ende des Dreißigjährigen Krieges durch den Westfälischen Frieden 1648 aufgestellt wurde.

Mich würden konkrete Zahlen interessieren: Wie hat sich die Zahl der Nationalstaaten Jahr für Jahr entwickelt? Oder generell die Zahl der Politischen Einheiten? Es müssen dieser These ja konkrete Zahlen vorliegen – wie viele politische Einheiten gab es im 15. Jahrhundert vor Christus, im 14., im 13. und so weiter. Hat jemand solche Zahlen?

Oder kehrt sich der Trend um?
Andere Wissenschaftler wie Hans Geser sind der Meinung, dass sich der Trend umgekehrt hat seit dem 20. Jahrhundert und es eher wieder in Richtung kleinräumiger Staaten geht. Als Beispiele führt er an:

a) Der Zerfall der Kolonialreiche: Das ging ja 1776 bereits mit der Unabhängigkeit der USA von Großbritannien los. Zuletzt wurde Palau 1994 unabhängig von seinem Kolonialreich, was wiederum die USA war. In der Zeit zwischen 1776 und 1994 haben sich beispielsweise 16 Länder von Spanien für unabhängig erklärt, 24 von Frankreich und sogar 39 von Großbritannien.

b) Große Reich sind zerfallen. Zum Beispiel das Osmanische Reich (es umfasst – allerdings nicht immer zeitgleich – ein Gebiet, auf dem heute 39 Nationalstaaten sind, jeweils 16 in Europa und Asien und sieben in Afrika), die Sowjetunion, die sich in ihre 15 Teilrepubliken aufgelöst hat (außerdem gibt es ja auch zahlreiche autonome Republiken in dem Gebiet, sogar in Russland) und noch heute von zahlreichen Autonomiebestrebungen heimgesucht wird, wie Bergkarabach in Aserbaidschan, Tschetschenien in Russland, Abchassien und Südossetien in Georgien und so weiter und so fort. Und natürlich ist da auch noch der Zerfall von Jugoslawien in sechs anerkannte Nationalstaaten plus Kosovo.
 
Die Menschheitsgeschichte ist nicht linear. Wir neigen dazu, sie uns so vorzustellen, weil wir zu unseren Lebzeiten nichts als Fortschritt kennen. Vielleicht stellen wir sie uns sogar nur deshalb als lineare Entwicklung vor, weil ein Zeitstrahl, der in eine Richtung verläuft, Stetigkeit und Unumkehrbarkeit suggeriert.

Wie Du, Holzmichl, jedoch richtig zu bedenken gegeben hast, sind allein in den letzten dreißig Jahren mehrere Staaten zerfallen. Und allein in Europa bestehen in Spanien (Katalonien) und Großbritannien (Schottland, Nordirland) gleich mehrere Unabhängigkeits- bzw. Sezessionsbestrebungen mit realistischen Erfolgschancen.

Alle Einigungsprozesse in der Geschichte, die nicht aus dem freien Entschluss aller Beteiligten resultier(t)en, generieren auch etliche Generationen später noch genügend Fliehkräfte, um eine latente Gefahr für die Stabilität eines Staates darzustellen. Neue derartige Konflikte können immer wieder entstehen.

Aber selbst an und für sich stabil erscheinende Staaten wie die USA könnten einst zerfallen. Wo immer es eine Zentralgewalt gibt, besteht für lokale Machthaber ein Anreiz, sich zum Zwecke der eigenen Profilierung und des eigenen Machtgewinns gegen diese Zentralgewalt zu stellen. Gelingt es der Zentralgewalt nicht, sie zu beschwichtigen oder einzuhegen, können die Fliehkräfte ihr Teil des Ganzen herausreißen.

Die Globalisierung; die (früher undenkbare) Macht einzelner Staaten, alle ihre Feinde auf einen Schlag zu vernichten; sowie demographische Veränderungen (wie Migration) haben – schon aus Gründen der Praktikabilität – eine multipolare Weltordnung mit einer überschaubaren Zahl von Polen hervorgebracht. Solange diese Faktoren andauern, dürfte das Sich-Scharen kleinerer Nationen um diese Pole anhalten.

In einigen Fällen dürfte es auch zur Absorption führen (wobei wieder die o.g. Punkte zu bedenken wären), wodurch die Anzahl souveräner Staaten weiter abnähme. Doch denke ich, dass es eine Art natürlichen Nullpunkt gibt, eine kleinstmögliche Zahl an politischen Entitäten, die nicht unterschritten werden kann, ohne dass die Fliehkräfte überhand nähmen, um den Prozess umzukehren. Ein Weltreich wird es nicht geben.
 
1. Warum das Jahr 3500?
Auf das Jahr 3500 kommt man (oder in dem Fall Corneiro), wenn man sich die Größenzunahme der 28 größten Reiche seit Akkad im Jahr 2100 vor Christus aus anschaut. Das finde ich persönlich deswegen erstaunlich, weil die größten Reiche ja bereits der Vergangenheit angehören – also die Tendenz doch eher gegenläufig ist? Das größte Weltreich war bisher das Britische Weltreich in der Hochphase 1920, gefolgt vom Mongolischen Reich im 13. Jahrundert und dem Russischen Kaiserreich 1895.
Ich sehe hier ein Problem: Es wird Reich mit Staat verwechselt. Die Grenzen von beidem sind natürlich verschwommen, aber sich auf freiwilliger Basis und durch Bürgerwillen konstituierende Staaten sind m.E. etwas anderes als zusammeneroberte Reiche, wo ein Teil, manchmal sogar der größere Teil, von politischer Teilhabe per se ausgeschlossen ist.

Oder kehrt sich der Trend um?
Andere Wissenschaftler wie Hans Geser sind der Meinung, dass sich der Trend umgekehrt hat seit dem 20. Jahrhundert und es eher wieder in Richtung kleinräumiger Staaten geht. Als Beispiele führt er an:

a) Der Zerfall der Kolonialreiche: Das ging ja 1776 bereits mit der Unabhängigkeit der USA von Großbritannien los. Zuletzt wurde Palau 1994 unabhängig von seinem Kolonialreich, was wiederum die USA war. In der Zeit zwischen 1776 und 1994 haben sich beispielsweise 16 Länder von Spanien für unabhängig erklärt, 24 von Frankreich und sogar 39 von Großbritannien.
Naja 1776 waren die USA ein Streifen an der amerikanischen Ostküste. So wie die EU zusammenwächst, gibt es auch Bestrebungen in Lateinamerika, Zusammenarbeit zu intensivieren.

b) Große Reich sind zerfallen. Zum Beispiel das Osmanische Reich (es umfasst – allerdings nicht immer zeitgleich – ein Gebiet, auf dem heute 39 Nationalstaaten sind, jeweils 16 in Europa und Asien und sieben in Afrika), die Sowjetunion, die sich in ihre 15 Teilrepubliken aufgelöst hat (außerdem gibt es ja auch zahlreiche autonome Republiken in dem Gebiet, sogar in Russland) und noch heute von zahlreichen Autonomiebestrebungen heimgesucht wird, wie Bergkarabach in Aserbaidschan, Tschetschenien in Russland, Abchassien und Südossetien in Georgien und so weiter und so fort. Und natürlich ist da auch noch der Zerfall von Jugoslawien in sechs anerkannte Nationalstaaten plus Kosovo.
Alles durch Zwang zusammengehalten; die SU und Jugoslawien hätten vielleicht trotz allem eine Chance auf eine gemeinsame Identität gehabt, wenn nicht großrussische und großserbische Agenden hinter der sozialistischen Fassade gewirkt hätten.

Die Geschichtegehorcht keinem Geist und momentan geht die Tendenz eher in Richtung Staatenvermehrung.
Ich weiß nicht.

Wir neigen dazu, sie uns so vorzustellen, weil wir zu unseren Lebzeiten nichts als Fortschritt kennen.
Ist das so? 1990 war die Rede vom Ende der Geschichte. Gemeint war natürlich, dass der Systemkonflikt beendet sei und wir auf ein Zeitalter des Friedens zulaufen würden.
Amerika hat in dieser Zeit vier oder fünf Kriege geführt, Russland 25, Israel und die Palästinenser bzw. die Hizbollah ein paar; Bürgerkriege aller Orten, die meisten Konflikte in Afrika bekommen hier nur Experten überhaupt mit.

Und allein in Europa bestehen in Spanien (Katalonien) und Großbritannien (Schottland, Nordirland) gleich mehrere Unabhängigkeits- bzw. Sezessionsbestrebungen mit realistischen Erfolgschancen.
Die Schotten wollten allerdings mehrheitlich in der EU bleiben, weswegen sie 2014 gegen den Scoxit aus dem UK stimmten (nachdem PM Cameron und auch der damalige EU-Kommissionspräsident J.C Juncker signalisiert hatten, dass Schottland eigenständig sich erst um Wiederaufnahme in die EU Bemühens müsse) und 2016 mehrheitlich gegen den Brexit. Als Schotte hätte ich mich 2016 so richtig verhohnepipelt gefühlt. Und bei den Katalanen ist es zu einem erheblichen Maße Republikanismus, der Abspaltung von der Monarchie sucht.

Die EU ist freilich kein Staat und die staatliche Vereinheitlichung der EU seit dem gescheiterten Verfassungsprojekt erst mal auf Eis gelegt.
 
Die UN hat heute gut 10 Staaten mehr anerkannt als zu meiner Schulzeit. Dazu kommen Fälle wie Somalia und das Kosovo, die man de facto zählen muss.

In derselben Zeit haben sich nur der Jemen und Deutschland vereinigt.

Für die EU wurde eine staatliche Vereinigung abgelehnt. Zur Zeit haben einige Osteuropäische Staaten klar gesagt, dass sie es kategorisch ausschließen. Ob oder wann sich das noch ändert ist je nachdem Kaffeesatzleserei, Utopismus oder rechter / linker Populismus. "Erst einmal auf Eis gelegt" ist da schon sehr beschönigend. Und was aus der Ostafrikanischen Union wird, ist noch nicht abzusehen. Die ändern ihre Ziele bisher gefühlt alle paar Jahre.

Wenn wir dann die realistischen Unabhängigkeitsbestrebungen im Pazifik und in der Karibik sehen, wo die Entkolonialisierung keineswegs abgeschlossen ist, besteht an der momentanen Tendenz für mich kein Zweifel. Selbst, wenn wir die ganzen 'little states' von Putins Gnaden nicht dazu nehmen.

In ein paar Fällen, insbesondere bei Grönland hängt es nur an wirtschaftlichen Notwendigkeiten.

Klar, das ist nicht so stürmisch wie in der großen Zeit der Entkolonialisierung, aber es geht immer noch Richtung mehr Staaten, insbesondere, wenn sich bewahrheitet, dass die Zeitepoche nach Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in diesem Jahr geendet ist.

Denn solange nicht abzusehen ist, welchen Einfluss das auf die Zahl der Staaten hat, müssen wir die genannte Statistik für unsere gerade vergangene Zeit konstatieren und für die Gegenwart zur Kenntniss nehmen, dass wir bei diesem Konflikt für mehr Staaten und Russland sowie (Taiwan dazugenommen) China für weniger sind.

Und das führt zu meiner ersten Feststellung: Mangels eines Huibuhs, der die Geschichte am Nasenring führt, gehört die Frage eher in ein Politik- oder Hegelforum, als ins Geschichtsforum.

Daher auch die Kürze meiner Antwort. Aber ihr zieht es mal wieder in die Politik, statt bloß die letzten 33 Jahre zu betrachten, wie ich es hier abgesehen von der Bemerkung zum Ukrainekrieg tat. Wir sind ja gerade in der ungewohnten Lage am Anfang eines neuen Zeitabschnitts den letzten bewusst betrachten zu können und dabei sogar oft das Präsenz benutzen zu können. Warum darauf verzichten?.

Zum Teil haben wir uns ja schon von der Tagespolitik hinsichtlich zweier großer Änderungen frei gemacht. Warum nicht lieber ein Rückblick statt derjenige in eine Kristallkugel? Was machte den vergangenen Zeitabschnitt zwischen kaltem Krieg und Rückkehr des Imperialismus aus? Was bewirkte das Entstehen von Staaten? Wie wurden Konflikte behandelt? Und was können wir selbst bezeugen? Wie änderte sich das Lebensgefühl? u.s.w.
 
Mit "wir" meinte ich die Menschheit, die Durchschnittsperson. Ich denke schon, dass diese Aussage stimmt. Freilich gibt es die Alten, die meinen, früher sei alles besser gewesen, und freilich gibt es einen gewissen Kulturpessimismus (der heutzutage ausgerechnet im progressiven Lager stark ist). Aber solche Strömungen hat es schon immer gegeben.

Auch für die Vergangenheit würde ich von einem linearen Geschichtsbegriff ausgehen. Beispielsweise ist in den meisten Religionen ein Weltenende als natürlicher Endpunkt der Geschichte verankert.
1990 war die Rede vom Ende der Geschichte. Gemeint war natürlich, dass der Systemkonflikt beendet sei und wir auf ein Zeitalter des Friedens zulaufen würden.
Amerika hat in dieser Zeit vier oder fünf Kriege geführt, Russland 25, Israel und die Palästinenser bzw. die Hizbollah ein paar; Bürgerkriege aller Orten, die meisten Konflikte in Afrika bekommen hier nur Experten überhaupt mit.
Francis Fukuyuma wurde freilich schon damals kritisiert. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass er vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Weltlage wieder als Experte zitiert wird.
Die Schotten wollten allerdings mehrheitlich in der EU bleiben, weswegen sie 2014 gegen den Scoxit aus dem UK stimmten (nachdem PM Cameron und auch der damalige EU-Kommissionspräsident J.C Juncker signalisiert hatten, dass Schottland eigenständig sich erst um Wiederaufnahme in die EU Bemühens müsse) und 2016 mehrheitlich gegen den Brexit. Als Schotte hätte ich mich 2016 so richtig verhohnepipelt gefühlt. Und bei den Katalanen ist es zu einem erheblichen Maße Republikanismus, der Abspaltung von der Monarchie sucht.
Gewiss, trotzdem sind ihre Erfolgsaussichten größer als, sagen wir, die Unabhängigkeitsbestrebungen der Bayernpartei.
Die EU ist freilich kein Staat und die staatliche Vereinheitlichung der EU seit dem gescheiterten Verfassungsprojekt erst mal auf Eis gelegt.

Freilich, und ich kann mir vorstellen, dass die EU noch einmal erheblich ihre Gestalt ändert; bis zum 24.02.22 – und jetzt wieder, wenn wir nicht achtgeben – schien das "Europa der zwei Geschwindigkeiten", mit einem sich zusehends als Protostaat konstituierenden Westmitteleuropa, dem sich andere Staaten in unterschiedlichem Grade assoziieren (oder nicht), realistischer als die "Vereinigten Staaten von Europa".

Allerdings scheint mir diese Entwicklung – wie auch mein Ausblick auf eine künftige multipolare Welt – der Ausgangsthese dieses Themenstranges nicht entgegenzustehen, denn legten wir einen engen Staatlichkeitsbegriff an (wie die Jellinek'sche Drei-Elemente-Lehre), würden wir nicht nur auf erhebliche Definitionsprobleme unterwegs stoßen, sondern auch auf ein möglicherweise a priori unerreichbares Ziel.

Georg Jellinek verlangt ein Staatsgebiet, eine Staatsgewalt, ein Staatsvolk. Wie viele Reiche der Vergangenheit erfüllten alle drei Merkmale? Hatte das Reich von Genghis Khan ein Staatsvolk?

Und ist überhaupt eine Welt denkbar, in der kulturelle, religiöse und sprachliche Gegensätze derart vollständig eingeebnet, sogar aus geographischen Faktoren entstehende Interessenskonflikte derart vollständig beigelegt werden können, dass z.B. Pakistaner und Inder zu einem Staatsvolk verschmelzen?

Was ich damit sagen will:

Soll die Diskussion überhaupt irgendwohin führen, wird man wohl nicht umhinkommen, den als historischen Ausgangspunkt gesetzten Begriff der Gesellschaft, des Reiches, der (wie auch immer verfassten) politischen Entität beizubehalten, statt auf den formellen Staatlichkeitsbegriff abzustellen.

Die Grenzen, die auf dem Weg zu einem Weltstaat überwunden werden müssten, verlaufen eher in den Köpfen als auf Landkarten. Manch einer steht dem Staat, in dem er lebt, ablehnender Gegenüber als seinen Nachbarstaaten. Daraus folgt für mich: Es geht allein um das "Wir", nicht um Begrifflichkeiten.

Würde man nur auf die Landkarte blicken, liefe man Gefahr, potentiell volatile Momentaufnahmen aus Ausdrücke eines stetigen Einigungsprozesses fehlzudeuten. Das Reich Karls des Großen etwa vereinigte auch erfolgreich starke Gegensätze – doch nur für eine kurze Zeit, der eintausend Jahre Konflikte folgten.

Also wäre es wohl zu früh, einen Weltstaat schon deshalb auszurufen, weil die letzte Grenze gefallen ist und alle Welt von einer Hauptstadt aus regiert wird. Erst mit dem globalen "Wir" kann man vermutlich von einer globalen politischen Entität sprechen. Ohne dieses würde das Gebilde vielleicht schnell kollabieren.

Und was hieße dies für Robert Carneiros These?
 
Allerdings scheint mir diese Entwicklung – wie auch mein Ausblick auf eine künftige multipolare Welt – der Ausgangsthese dieses Themenstranges nicht entgegenzustehen, denn legten wir einen engen Staatlichkeitsbegriff an (wie die Jellinek'sche Drei-Elemente-Lehre), würden wir nicht nur auf erhebliche Definitionsprobleme unterwegs stoßen, sondern auch auf ein möglicherweise a priori unerreichbares Ziel.

Georg Jellinek verlangt ein Staatsgebiet, eine Staatsgewalt, ein Staatsvolk. Wie viele Reiche der Vergangenheit erfüllten alle drei Merkmale? Hatte das Reich von Genghis Khan ein Staatsvolk?

Nehmen wir mal das in den Beispielen angeführte British Empire. Das Staatsvolk stellten die Engländer. Schon bei Schotten, Iren und Walisern war es nicht immer sicher, ob die noch zum Staatsvolk gehörten oder nur Untertanen waren. Rhodesier oder Punjabis waren nicht Teil des Staatsvolkes. Sie waren Untertanen. Und deshalb ist die Dekolonialisierung auch nicht als Zerfall von großen Staaten in mehrere kleine zu betrachten.

Und ist überhaupt eine Welt denkbar, in der kulturelle, religiöse und sprachliche Gegensätze derart vollständig eingeebnet, sogar aus geographischen Faktoren entstehende Interessenskonflikte derart vollständig beigelegt werden können, dass z.B. Pakistaner und Inder zu einem Staatsvolk verschmelzen?
Bis zur Regierung Mohdi haben Muslime und Christen in Indien relativ gefahrlos leben können, und auch viele sehr unterschiedliche Sprachen sprechen können. Mit der Regierung Mohdi stiegen die Angriffe auf nichthinduistische Gruppen, insbesondere auf Muslime, vereinzelt aber auch auf Christen und Sikhs.
Das Staatsmodell Indiens (trotz aller Konflikte mit Pakistan, die aber auch durch eine noch kolonialbritische Grenzziehungsoffensive nach Religionszugehörigkeit verschärft wurde) war im Prinzip (bis Mohdi) immer der eines multilingualen und multireligiösen Staates.

Soll die Diskussion überhaupt irgendwohin führen, wird man wohl nicht umhinkommen, den als historischen Ausgangspunkt gesetzten Begriff der Gesellschaft, des Reiches, der (wie auch immer verfassten) politischen Entität beizubehalten, statt auf den formellen Staatlichkeitsbegriff abzustellen.
Ich sehe hier eher notwendige begriffliche Trennschärfe verschwimmen.
 
Nehmen wir mal das in den Beispielen angeführte British Empire. Das Staatsvolk stellten die Engländer. Schon bei Schotten, Iren und Walisern war es nicht immer sicher, ob die noch zum Staatsvolk gehörten oder nur Untertanen waren. Rhodesier oder Punjabis waren nicht Teil des Staatsvolkes. Sie waren Untertanen. Und deshalb ist die Dekolonialisierung auch nicht als Zerfall von großen Staaten in mehrere kleine zu betrachten.
Nach dem engen Staatlichkeitsbegriff ist dies sicher richtig. Aber ist es auch relevant? Vielleicht habe ich mich unklar ausgedrückt, deswegen ein zweiter Versuch: Ich sehe den Sinn nicht, Carneiros These zu diskutieren, wenn das Endziel der von ihm identifizierten Entwicklung keinen Bestand haben muss.

In der Geschichte finden sich eine ganze Reihe von Staaten, die binnen weniger Jahre, Monate, Wochen, sogar Tage nach ihrer Gründung wieder verschwanden. Nehmen wir also einmal an, im Jahr 3500 würde tatsächlich eine Weltregierung ausgerufen. Doch nach zwei, drei Wochen zerbricht das Gebilde wieder.

Hat Carneiro dann Recht gehabt? Ging der Trend hin zum Weltstaat?
Bis zur Regierung Mohdi haben Muslime und Christen in Indien relativ gefahrlos leben können, und auch viele sehr unterschiedliche Sprachen sprechen können. Mit der Regierung Mohdi stiegen die Angriffe auf nichthinduistische Gruppen, insbesondere auf Muslime, vereinzelt aber auch auf Christen und Sikhs.
Das Staatsmodell Indiens (trotz aller Konflikte mit Pakistan, die aber auch durch eine noch kolonialbritische Grenzziehungsoffensive nach Religionszugehörigkeit verschärft wurde) war im Prinzip (bis Mohdi) immer der eines multilingualen und multireligiösen Staates.
Mir ist nicht ganz klar, wieso Sie dies anführen, oder vor allem auf die Situation in Indien abstellen. Bei den letzten Umfragen, die ich zu dem Thema sah – anlässlich der Luftgefechte über Kaschmir 2019 – befürwortete eine große Mehrheit in beiden Staaten einen Krieg gegen den jeweiligen Nachbarn.

Indien und Pakistan haben seit ihrer Unabhängigkeit viermal Krieg gegeneinander geführt, kleinere Gefechte nicht eingerechnet. Beide Staaten haben territoriale und politische Ansprüche, die ihre jeweilige Regierung unmöglich aufgeben könnte, ohne darüber zu stürzen – und dies nicht erst seit Mohdi.

Daher ist es in meinen Augen auf völlig illusorisch anzunehmen, dass sich Indien und Pakistan eines Tages derselben Regierungsautorität beugen oder gar willentlich vereinigen könnten. Man könnte nun versucht sein einzuwenden: Selbst die "Erbfeindschaft" zwischen Frankreich und Deutschland wurde überwunden.

Das ist gewiss richtig, allerdings waren weder Frankreich noch Deutschland nuklear bewaffnet, als sie ihre Spannungen überwanden, außerdem ist Indien drauf und dran, das bevölkerungsreichste Land der Welt zu werden. Allein aufgrund seiner schieren Größe wird es keine wie auch immer geartete südasiatische Einigung akzeptieren, in der es neben oder hinter Pakistan steht, anstatt vor ihm.

Viele derartige Konflikte existieren auf der Welt, und einige seit so langer Zeit, dass zumindest der von Carneiro avisierte Zeitraum 2300—3500 illusorisch erscheinen muss, selbst wenn er Recht behalten sollte.

Für meinen Geschmack weist dieser hypothetische Einigungsprozess zu viele Hürden auf, als dass er jemals in einem Weltstaat gipfeln könnte. Und dabei ist noch nichts ausgesagt über neue Konflikte, die mit der Zeit innerhalb der abnehmenden Zahl an Staaten entstehen und den Prozess umkehren könnten. Auch deshalb frage ich mich, ob das formulierte Ziel auch nur theoretisch erreichbar ist.
Ich sehe hier eher notwendige begriffliche Trennschärfe verschwimmen.
Ich spreche schon von meinem ersten Beitrag in diesem Strang an von politischen Entitäten, weil ich, wie schon gesagt, nicht glaube, dass die These ohne Abkehr von einem starren Staatlichkeitsbegriff überhaupt diskussionswürdig ist. Selbst der Weg vom Hier und Jetzt zu einer nach dem Vorbild der EU konstituierten UNO scheint mir unendlich weit.
 
Mir ist nicht ganz klar, wieso Sie dies anführen, oder vor allem auf die Situation in Indien abstellen. Bei den letzten Umfragen, die ich zu dem Thema sah – anlässlich der Luftgefechte über Kaschmir 2019 – befürwortete eine große Mehrheit in beiden Staaten einen Krieg gegen den jeweiligen Nachbarn.

Indien und Pakistan haben seit ihrer Unabhängigkeit viermal Krieg gegeneinander geführt, kleinere Gefechte nicht eingerechnet. Beide Staaten haben territoriale und politische Ansprüche, die ihre jeweilige Regierung unmöglich aufgeben könnte, ohne darüber zu stürzen – und dies nicht erst seit Mohdi.
Alles richtig. Das Problem ist aber im Grunde nicht die unterschiedliche Religion oder die unterschiedliche Sprache, sondern dass es im Zuge des Versuchs einer nationalreligiösen Nachfolgestaatsregelung für Britisch-Indien die Grenzziehung Cyril Ratcliffes zwar im Grunde nach religiösen Siedlungsgebieten gezogen wurde, aber hunderttausende Muslime und Hindus deswegen ihre Heimat verlassen mussten (und die Schuld dafür der jeweils anderen religiösen Großgemeinschaft gaben). Es sind also nicht Sprachen und Religion, welche Indien und Pakistan wirklich an einem Frieden und an einer gemeinsamen hypothetischen Zukunft hindern, sondern die gegenseitigen Ressentiments. Sprache und Religion machen nur the others identifizierbar.

Ich spreche schon von meinem ersten Beitrag in diesem Strang an von politischen Entitäten, weil ich, wie schon gesagt, nicht glaube, dass die These ohne Abkehr von einem starren Staatlichkeitsbegriff überhaupt diskussionswürdig ist.
Für die These ist es aber doch eben nciht unerheblich, ob es sich um freie Gemeinschaften, in denen sich theoretisch jeder betieligen kann, oder um Unterdrückungsgebilde handelt.


Den Rest deines Beitrags werde ich im Hinblick auf die Forenregeln nicht kommentieren, weil es hier nicht mehr um die These des Ethnologen Carneiro geht, sondern um konkrete Politik. Ich kann nur feststellen, dass Science Fiction-Filme und Serien offensichtlich wie selbstverständlich von Carneiros Voraussetzungen ausgehen (ohne dass ich unterstelle, dass die Drehbuchautoren Carneiro kennten) - Starship Troopers, Star Trek Universum etc. -, dass die Erde in der mehr oder weniger definierten Zukunft ein Einheitsstaat ist. Da scheint ja eine gewisse Erwartungshaltung hinterzustecken, die der von Carneiro mindestens ähnelt. Ob sie berechtigt ist oder nicht, darüber sprechen wir dann am besten in frühestens 300 oder spätestens 1500 Jahren. Sollen wir uwei Jours fixes dafür ausmachen?
 
Es sind also nicht Sprachen und Religion, welche Indien und Pakistan wirklich an einem Frieden und an einer gemeinsamen hypothetischen Zukunft hindern, sondern die gegenseitigen Ressentiments.
… die insbesondere durch die religiösen Gegensätze jedoch verstetigt und, in den Augen der Hardliner, durchaus auch gerechtfertigt werden. Der indische Subkontinent war außerdem auch vor Ratcliffe kein Hort des Friedens und bar religiöser Konflikte. Wo Unterschiede gleich welcher Art geistige Grenzen ziehen, besteht ein latentes Konfliktpotential, damit sage ich doch nichts Neues.
Sprache und Religion machen nur the others identifizierbar.
Ich glaube allmählich, wir reden hier aneinander vorbei, denn ob Sprache und Religion nun bloß ein Vehikel für Animositäten sind oder deren Ursache, spielt im Endeffekt keine Rolle. Solange sie dazu führen, dass "the others" sich als unterschieden abheben, stehen sie dem Weg vom "them" zum "us" entgegen.
Für die These ist es aber doch eben nciht unerheblich, ob es sich um freie Gemeinschaften, in denen sich theoretisch jeder betieligen kann, oder um Unterdrückungsgebilde handelt.
Wenn ich den Einwand recht verstanden habe, soll der Zerfall eines Kolonialreiches in Mutterstaat und Kolonien dem von Carneiro postulierten Trend nicht entgegenstehen, weil der vorherige Zusammenschluss bereits nicht aus freien Stücken geschah. Aber warum? Kein Staat – auch kein Nationalstaat mit einem heute überaus starken "us" – dürfte in toto das Ergebnis eines freien Einigungsprozesses sein.

Und beinhalteten denn nicht die später kolonialisierten Entitäten selber Teile, die unfrei, also z.B. durch Eroberung oder Erbfolge, unter ihre Herrschaft gekommen waren?
[…] weil es hier nicht mehr um die These des Ethnologen Carneiro geht, sondern um konkrete Politik.
Das sehe ich nicht so. Das Beispielpaar Pakistan und Indien habe ich als Beleg für die Behauptung angeführt, dass dem von Carneiro postulierten Trend Hindernisse entgegenstehen, die dieser womöglich nicht genügend berücksichtigt hat. Gerade die Tatsache, dass beide Staaten Nuklearmächte sind, scheint mir von größter Wichtigkeit zu sein, denn dieser völlig neue Faktor, der die Koexistenz der Staaten der Welt beeinträchtigt, könnte Carneiros These entgegenstehen, der immerhin aus der Vergangenheit auf die Zukunft schließt.
Ich kann nur feststellen, dass Science Fiction-Filme und Serien offensichtlich wie selbstverständlich von Carneiros Voraussetzungen ausgehen (ohne dass ich unterstelle, dass die Drehbuchautoren Carneiro kennten) - Starship Troopers, Star Trek Universum etc. -, dass die Erde in der mehr oder weniger definierten Zukunft ein Einheitsstaat ist. Da scheint ja eine gewisse Erwartungshaltung hinterzustecken, die der von Carneiro mindestens ähnelt.

Darauf würde ich erwidern, dass die meisten fiktiven Werke, die eine solche Zukunft zeichnen, Utopien sind, zumindest aber in einem Universum spielen, in dem es außerirdische Zivilisationen oder Bedrohungen gibt.

Neil deGrasse Tyson hat einmal die Hoffnung ausgedrückt, dass die Entdeckung außerirdischen Lebens die Menschheit vereinen könnte. Stephen Hawking hingegen gab zu bedenken, dass es, sollte es außerirdische Zivilisationen geben, für unsere Sicherheit gar nicht darauf ankäme, ob sie uns freundlich gesinnt wären, da immer noch die Möglichkeit bestünde, dass wir Menschen untereinander einen Krieg, womöglich gar einen Weltkrieg um das Recht führen könnten, die Menschheit politisch und wirtschaftlich zu vertreten.

Ich fürchte, Letzteres ist wahrscheinlicher.
 
Ich sehe hier ein Problem: Es wird Reich mit Staat verwechselt. Die Grenzen von beidem sind natürlich verschwommen, aber sich auf freiwilliger Basis und durch Bürgerwillen konstituierende Staaten sind m.E. etwas anderes als zusammeneroberte Reiche, wo ein Teil, manchmal sogar der größere Teil, von politischer Teilhabe per se ausgeschlossen ist.

Das ist sicherlich richtig. Ich habe mit Geschichte beruflich oder ausbildungstechnisch nichts am Hut (ich interessiere mich nur sehr dafür) - daher bin ich was die Begrifflichkeiten anbelangt sicherlich nicht sattelfest und ich gestehe auch, dass ich die Unterschiede nicht wirklich genau beschreiben könnte.

Ist das so? 1990 war die Rede vom Ende der Geschichte. Gemeint war natürlich, dass der Systemkonflikt beendet sei und wir auf ein Zeitalter des Friedens zulaufen würden.
Amerika hat in dieser Zeit vier oder fünf Kriege geführt, Russland 25, Israel und die Palästinenser bzw. die Hizbollah ein paar; Bürgerkriege aller Orten, die meisten Konflikte in Afrika bekommen hier nur Experten überhaupt mit.

Gemeint ist vermutlich die Zeit seit 1990? Wenn ich mich da an der Liste von Wikipedia orientiere (ich weiß, Wikipedia ist jetzt nicht die allerwissenschaftlichste Quelle...), dann komme ich sowohl bei der USA als auch bei Russland auf mehr als 20 Militäroperationen seither.

Liste der Militäroperationen der Vereinigten Staaten – Wikipedia
Liste der Militäroperationen Russlands und der Sowjetunion – Wikipedia
 
Und das führt zu meiner ersten Feststellung: Mangels eines Huibuhs, der die Geschichte am Nasenring führt, gehört die Frage eher in ein Politik- oder Hegelforum, als ins Geschichtsforum.

Ich weiß, der Thread-Titel war nicht wirklich gut gewählt. Tatsächlich interessieren mich in dem Zusammenhang ja erstmal die geschichtlichen Aspekte. Dazu habe ich ja konkrete Fragen gestellt, auf die ich eigentlich hinauswollte. Das waren diese hier:

Mich würden konkrete Zahlen interessieren: Wie hat sich die Zahl der Nationalstaaten (oder nennen wir sie politische Einheiten) Jahr für Jahr entwickelt? Oder generell die Zahl der Politischen Einheiten? Es müssen dieser These ja konkrete Zahlen vorliegen – wie viele politische Einheiten gab es im 15. Jahrhundert vor Christus, im 14., im 13. und so weiter. Hat jemand solche Zahlen?

Und dann auch die Frage nach der Größte der 28 Weltreiche, die doch eher kleiner wurden/werden?

Zum Teil haben wir uns ja schon von der Tagespolitik hinsichtlich zweier großer Änderungen frei gemacht. Warum nicht lieber ein Rückblick statt derjenige in eine Kristallkugel? Was machte den vergangenen Zeitabschnitt zwischen kaltem Krieg und Rückkehr des Imperialismus aus? Was bewirkte das Entstehen von Staaten? Wie wurden Konflikte behandelt? Und was können wir selbst bezeugen? Wie änderte sich das Lebensgefühl? u.s.w.

Finde ich auch äußerst spannende Fragen. Also, ja sehr gern.
 
Nehmen wir mal das in den Beispielen angeführte British Empire. Das Staatsvolk stellten die Engländer. Schon bei Schotten, Iren und Walisern war es nicht immer sicher, ob die noch zum Staatsvolk gehörten oder nur Untertanen waren. Rhodesier oder Punjabis waren nicht Teil des Staatsvolkes. Sie waren Untertanen. Und deshalb ist die Dekolonialisierung auch nicht als Zerfall von großen Staaten in mehrere kleine zu betrachten.

Hmm, so könnte man den Trend zur Kleinstaatlichkeit (Zerfall von Jugoslawien, Sowjetunion und British Empire) sicherlich erklären, warum dass dies nicht seiner These widerspricht.
 
In der Geschichte finden sich eine ganze Reihe von Staaten, die binnen weniger Jahre, Monate, Wochen, sogar Tage nach ihrer Gründung wieder verschwanden. Nehmen wir also einmal an, im Jahr 3500 würde tatsächlich eine Weltregierung ausgerufen. Doch nach zwei, drei Wochen zerbricht das Gebilde wieder.

Hat Carneiro dann Recht gehabt? Ging der Trend hin zum Weltstaat?

Ich kann nur vermuten, weil ich seine Orginalausführungen leider nicht kenne, dass er schon einen endgültigen Weltstaat meint. Ich persönlich teile das auch - aber das ist wieder ein anderes Thema. Tatsächlich ging es mir wirklich um meine historischen Fragen dazu.
 
Starship Troopers
scheint einen irdischen Einheits/Weltstaat zu haben, der zynische Witz an dieser Satire ist u.a., dass dieser Einheitsstaat angesichts rasanter Feuerbälle durchs Weltall kackender Riesenkäfer* faschistische Züge annimmt... das ist keine rosige Aussicht.
_________
* ich hatte Tränen gelacht über die "Bug-Artillerie" :D:D
 
Ich kann nur feststellen, dass Science Fiction-Filme und Serien offensichtlich wie selbstverständlich von Carneiros Voraussetzungen ausgehen (ohne dass ich unterstelle, dass die Drehbuchautoren Carneiro kennten) - Starship Troopers, Star Trek Universum etc. -, dass die Erde in der mehr oder weniger definierten Zukunft ein Einheitsstaat ist. Da scheint ja eine gewisse Erwartungshaltung hinterzustecken, die der von Carneiro mindestens ähnelt.

Bei Starship Troopers gibt es ja auch "den anderen", die Bugs, von denen sich eine vereinte Menschheit absetzen kann. Ob der Weltstaat vor den Angriffen oder danach gebildet wurde, geht aus dem Film nicht hervor. Das Buch kenne ich nicht.

Ganz sicher hat bei Star Trek der erste Kontakt mit den Vulkaniern zum Weltstaat geführt. Den gab es zum Zeitpunkt als Zefram Cochrane die Vulkanier begrüßte ncoh nicht. Das macht ja auch mehr Sinn: Durch das Abgrenzen von den "Anderen" wird ein Wir-Gefühl erzeugt, das die Menschheit eint.
 
a) Der Zerfall der Kolonialreiche: Das ging ja 1776 bereits mit der Unabhängigkeit der USA von Großbritannien los. Zuletzt wurde Palau 1994 unabhängig von seinem Kolonialreich, was wiederum die USA war. In der Zeit zwischen 1776 und 1994 haben sich beispielsweise 16 Länder von Spanien für unabhängig erklärt, 24 von Frankreich und sogar 39 von Großbritannien.

Der Zerfall der Kolonialreiche führte aber mitunter auch dazu, dass sich die Zahl der staatlichen Subjekte mitunter reduzierte.
Das wird häufig nicht wahrgenommen, weil uns die Landkarten durch ihre Vereinfachung, was die Kolonialreiche der jeweiligen Akteure angeht belügen und der Komplexität der Verhältnisse nicht gerecht werden.

Auf Landkarten und in der kollektiven Wahrnehmung werden gerne ehemalige koloniale Gebiete in Übersee als Teile des entsprechenden europäischen Landes wahrgenommen, wo oftmals de jure allerdings nur "Protektorate", lose Abhängigkeiten, Kronbesitz etc. bestanden, nicht aber in diesem Sinne eine staatliche Einheit mit dem europäischen Staat mit dem sie in irgendeiner Form tatsächlich oder scheinbar verbandelt waren.

Die 13 Kolonien, die sich in Nordamerika von der britischen Krone lossagten, sind ein schönes Beispiel dazu.
Sie unterstanden zwar vor der Unabhängigkeit alle in irgendeiner Form der Krone waren aber (ich bin mir gerade nicht sicher ob es da ausnahmen gibt) durchaus nicht Teil Englands oder Großbritanniens, sondern waren in diesem, jede für sich eigenständige Länder mit einem eigenen Gebiet und eigener Rechtsordnung, die gegenüber den angrenzenden Kolonien durchaus sehr unterschiedlich sein konnte.

Im Prinzip haben hier also vormals 13 Länder existiert, die in zwar im Abhängigkeitsverhältnis zu einem anderen Land/Staat bzw. dessen Institutionen standen, aber nicht im rechtlichen Sinne Teil davon waren, die sich nach dem Abschütteln dieser Abhängigkeit zu einem einzelnen Staatswesen zusammenschlossen und damit die Zahl der Akteure eigentlich reduzierten.

Ähnliches ließe sich auf dem indischen Subkontinent feststellen.
Da hat man zwar geistig im Kopf, dass British-Inida im Zuge der Abwickelung in Indien und Pakistan, später dan Bangladesch geteilt wurde, was zunächst mal den Eindruck vermittelt, das da am Ende mehr Akteure herausgekommen wären, als es vorher waren.
Das übersieht allerdings, dass eben bei weitem nicht ganz Indien formal britische Kronkolonie war, sondern gut 1/4 bis 1/3 der Fläche des indisichen Subkontinents bis zum ende der britischen Kolonialzeit de jure aus eigenständigen Fürstentümern/Kleinstaaten unter britischem Protektorat bestand.

Zweien davon, nämlich Nepal und Bhutan gelang es sich nach dem Rückzug der Briten vom indischen Subkontinent als eigenständig zu behaupten, der Rest wurde von den "Nachfolgestaaten" Indien und Pakistan geschluckt, bzw. ging in diesen auf.
Auch hier führte die Unabhängigkeit und die Abwicklung der kolonialen Verhältnisse bei Lichte besehen, wenn man die Komplexität der Konstruktion berücksichtigt zu einer Reduktion der Anzahl staatlicher Akteure, nicht zu ihrer Vermehrung.

Jetzt könnte man im Hinblick auf diverse indische Fürstentümer natürlich die Frage stellen, ob man da in diesem Sinne von Nationalstaaten sprechen kann.
Allerdings scheinen wir im Fall von Nepal und Bhutan kein Problem damit zu haben, das anzuerkennen, weswegen man das auch für die anderen mindestens mal diskutieren könnte.
 
… die insbesondere durch die religiösen Gegensätze jedoch verstetigt und, in den Augen der Hardliner, durchaus auch gerechtfertigt werden.
Das ist richtig, bedeutet aber nicht zwingend, dass im religiös ausgetragenen Konflikt der Ursprung des Konfliktes liegt. Religion und Konfession eignen sich, wenn man einmal im Konflikt miteinander liegt, eben sehr gut als Unterscheidungsmerkmal. Als Polen im 17. Jhdt. um sein Überleben kämpfte, waren es protestantische Schweden, orthodoxe Russen und muslimische Kosaken, die es an den Rand seiner Existenz gebracht hatten. Also besann man sich auf das Katholische! Das im 16. Jhdt. konfessionell tolerante Polen wurde gewissermaßen zum katholischsten aller Staaten Europas. Sicher, dass es die Festung Częstochowa war, wo der Wallfahrtsort der Schwarzen Madonna lag, welche die Schweden nicht erobern konnten, ließ einen Mythos gebären und der tat sicher noch das Seinige dazu. Aber fortan entschied, ob du Katholisch warst, ob du Pole warst oder nicht.

Der indische Subkontinent war außerdem auch vor Ratcliffe kein Hort des Friedens und bar religiöser Konflikte. Wo Unterschiede gleich welcher Art geistige Grenzen ziehen, besteht ein latentes Konfliktpotential, damit sage ich doch nichts Neues.
Latentes Potential bedeutet aber eben nicht, dass es zwingend im Konflikt mündet. Wir haben ja verschiedene Strategien mit solchen Friktionen umzugehen.

Wenn ich den Einwand recht verstanden habe, soll der Zerfall eines Kolonialreiches in Mutterstaat und Kolonien dem von Carneiro postulierten Trend nicht entgegenstehen, weil der vorherige Zusammenschluss bereits nicht aus freien Stücken geschah.
Genau.

Aber warum? Kein Staat – auch kein Nationalstaat mit einem heute überaus starken "us" – dürfte in toto das Ergebnis eines freien Einigungsprozesses sein.
Die heutigen Nationalstaaten haben ja vielfach Konflikte hinter sich, die sie auf die eine oder andere Weise "gelöst" haben.
Die wenigsten Iren oder Schotten sprechen heute noch gälisch. Wer in Nordirland kein Katholik ist, gilt als Engländer oder Schotte (von Zuwanderern und Atheisten mal abgesehen). In Schottland hingegen ist die Entscheidung Protestant oder Katholik heute unwichtiger, obwohl the Stuart Cause hauptäschlich von den Katholiken getragen wurde. Im Nationalbewusstsein ist das aber als etwas Schottisches verankert, the Butcher of Cumberlands Rotröcke gegen die Hihglander in ihren Protokilts.
Die Aufstände und Revolutionen des 17. bis 19. Jhdts. haben die Nationalstaaten gemacht. Glorious Revolution, Französische Revolution, Amerikanische Revolution, Märzrevolution...

Hätten die Briten die Inder an der Macht gleichermaßen partizipieren lassen, läge das Zentrum dieses Staates (sofern er noch existierte) sicher nicht in London, sondern vielleicht in Dehli.

Darauf würde ich erwidern, dass die meisten fiktiven Werke, die eine solche Zukunft zeichnen, Utopien sind, zumindest aber in einem Universum spielen, in dem es außerirdische Zivilisationen oder Bedrohungen gibt.
Sicher.


scheint einen irdischen Einheits/Weltstaat zu haben, der zynische Witz an dieser Satire ist u.a., dass dieser Einheitsstaat angesichts rasanter Feuerbälle durchs Weltall kackender Riesenkäfer* faschistische Züge annimmt... das ist keine rosige Aussicht.
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* ich hatte Tränen gelacht über die "Bug-Artillerie" :D:D
Ja, der Film kommt irgendwie so billig daher wie Sharknado XIII, dabei ist er tatsächlich gar nicht so schlecht.
 
Es geht um die Frage, ob die Menschheit auf einen Weltstaat zusteuert.
Nachdem der Planet klein geworden und die existenziellen Probleme nun global, müsste vernünftigerweise die "Menschheit auf einen Weltstaat" zusteuern.
Betrachtet man jedoch die drei Hauptgefahren: Atomkrieg, Klimawandel und disruptive Techniken (KI), so gibt es nur für die ersten zwei ein internationales Management, dessen angemessene Wirksamkeit leider fraglich bleibt. Bei Punkt 3 herrscht die Anarchie der Gier.
Ob wir zeitig genug eine internationale Koordination hinkriegen, diese wäre ja die Weltregierung, um nicht in die Katastrophe zu schlittern, wird sich zeigen. (mein Optimismus ist gedämpft)

Laut Corneiro könnte es nun also zwischen den Jahren 2300 und 3500 zu einem Weltreich kommen. Diese beiden Zahlen leitet er aus der bisherigen Entwicklung her.
Aus welcher Entwicklung? Aus der Entwicklung der Halbleitertechnik und dem Mooreschen Gesetz?
Wird da vielleicht eine ganz große Linie gezogen, ohne die extremen Ausschläge jüngster Zeit?
 
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