Mag sein, dass meine Skepsis auch von meinem tatsächlich mangelhaften Orientierungssinn getragen wird. Doch hier geht es nicht nur darum, sondern um die genaue Kenntnis der physischen Beschaffenheit einer ganzen Stadt.
Frage mich ein Bisschen, ob vielleicht Diderot zu dieser Erzählung beigetragen haben könnte mit seinem 1749 erschienenen (und allerdings zensurierten) Essay Lettre sur les aveugles à l’usage de ceux qui voient. Habe zwar keinen direkten Hinweis gefunden, aber allein schon seine Beschäftigung mit dem Thema hätte die Fantasien ankurbeln können.
Im nächsten Kapitel des Buches kommt etwas vor, das ist vielleicht hier gemeint
"Was haben Sie uns heute mitgebracht, Monsieur de Malesherbes?"
Aufmerksam musterte Madame de Pompadour den Direktor der königlichen Hofbibliothek, der ihr zum Lever seine Aufwartung machte.
"Etwas sehr Interessantes" erwiderte er. "Einen
Brief über die Blinden, zum Gebrauch der Sehenden."
"Wie bitte?"
"So lautet der Titel, Madame. Er stammt von einem anonymen Verfasser und richtet sich an eine gewisse Frau von Pusieux."
"Eine medizinische Abhandlung?"
"Wenn man so will. Der Autor beschreibt den Fall eines englischen Mathematikers, der in seiner Kindheit das Augenlicht verlor, später aber dennoch Professor wurde und obendrein Optik lehrte."
"Das ist allerdings bemerkenswert. Doch warum erscheint ein solches Buch anonym?"
"Der medizinische Aspekt dient nur zur Tarnung. In Wahrheit sind nicht wirklich Blinde gemeint, vielmehr ist von einer ganz anderren Blindheit die Rede: vom Unvermögen der Menschen, die Wahrheit zu erkennen. Dabei wagt sich der Autor in gefährliche Regionen vor. Zum beispiel fragt er, welche Vorstellungen von Gott ein Mensch überhaupt haben kann."
"Und wie lautet die Antwort?", wollte die Pompadour wissen.
"Dass wir wie die Blinden im Dunkeln tappen. Um Aussagen über Gott zu machen, müssten wir ihngreifen können."
"Oh, ich begreife. Einer von diesen Deisten, die behaupten, an Gott zu glauben, ohne am Sonntag zur Messe zu gehen. Lassen Sie mir bitte das auch da. Ich werde es noch heute an Pere Radominsky weiterleiten."