Blindenerwerb Paris 18. Jhdt.

V

Volland

Gast
In Peter Pranges Roman Die Philosophin heißt es, dass bei starkem Nebel die blinden Bettler als Führer herangezogen wurden, weil sie die Wege der Stadt aufgrund ihrer Blindheit in- und auswendig kannten und in dieser Zeit Geld verdienten. Die namentlichen Figuren in Die Pilosophin sind alle historisch, ihre Beziehungen untereinander zum Teil von Prange frei erfunden. Bzw. die Protagonistin Sophie Volland heißt im Roman von Geburt an so, nicht erst durch Diderot.
Ist der Blindenerwerb bei Nebel Pranges Fantasie entsprungen oder ist dies historisch akkurat recherchiert?
 
Ob akkurat recherchiert, wird dir nur der Autor sagen können. Die Unstimmigkeit mit dem Namen »Sophie Volland« sollte jedoch Hinweis genug sein, dass ausgeschmückt und erfunden wurde; bei einem Roman nicht anders zu erwarten.

Nehmen wir aber an, Blinde hätten bei äußerst dichtem Nebel tatsächlich als Guide gedient. Wie soll das funktioniert haben? Indem sich der Getilhomme erst durch die Gassen zum Hôpital Quinze-Vingts (Pflegeheim für Blinde) tastete, wobei er in eiskalte Pfützen trampelte und über Hunde, Karren und Säcke fiel, bis er völlig derangiert endlich einen Blinden fand, der ihm für eine Stunde als Führer diente? Oder aber wandelten die Blinden mit Glocken im Nebel durch die Gassen, damit man sie bei Bedarf heranpfeifen könne? Kann ich mir beides nicht vorstellen.

Auf die Schnelle habe ich nur das finden können: « dans la seconde moitié du XVIIIe siècle, les brouillards dans Paris furent si intenses qu'on s'avisa[!] de louer à l'heure les services des aveugles des Quinze-Vingts pour guider les piétons et les voitures dans le dédale des rues de la capitale. » Demnach besage eine Anekdote, man hätte diese Möglichkeit der Erwerbstätigkeit erwogen, mehr nicht. (Leider ohne Literaturangabe @ Paris le nez en l'air)
 
Demnach besage eine Anekdote, man hätte diese Möglichkeit der Erwerbstätigkeit erwogen, mehr nicht.
Aber das dürfte reichen, um es in einem Roman zu verwenden.

Ich habe es auch schon Nebel in der Nähe eines Flusses erlebt, bei dem ich weniger als 3 Meter weit sehen konnte. Da bin ich mit meinem Rad mehr nach Gehör gefahren bzw. gegangen, weil die Gefahr vom Weg abzukommen, groß war. Und dabei kannte ich den Weg einigermaßen, d.h. nur die Details nicht.

Ein Blinder wäre in dieser Situation sicher im Vorteil. Deshalb halte ich die Schilderung in dem Roman für glaubhaft.
 
Auf die Schnelle habe ich nur das finden können: « dans la seconde moitié du XVIIIe siècle, les brouillards dans Paris furent si intenses qu'on s'avisa[!] de louer à l'heure les services des aveugles des Quinze-Vingts pour guider les piétons et les voitures dans le dédale des rues de la capitale. » Demnach besage eine Anekdote, man hätte diese Möglichkeit der Erwerbstätigkeit erwogen, mehr nicht. (Leider ohne Literaturangabe @ Paris le nez en l'air)
Je ne pa parler francais.

Auszug aus dem Roman:
Während der Schiffsverkehr nach und nach zum Erliegen kam, krochen die Nebelschwaden ans Ufer und wälzten sich aufs Land, vermehrten such dort wie die helle Finsternis, um schließlich die ganze Stadt inn Besitz zu nehmen.
Dann lag der Krake Paris wie unter einem gigantischen Leichentuch da, ohne sich zu rühren, und das Leben in seinem Gedärm drohte zu ersticken, denn der Nebel vermischte sich mit dem ewigen Rauch, der überall in der Stadt aus den Schornsteinen drang - Myriaden Partikel von Staub und Ruß, die zwischen den hohen Häuserzeilen schwebten -, und bildeten mit ihm einen so dichten Brodem, dass man nicht einmal die Fackeln mehr erkennen konnte. die zur Markierung an den Straßenecken brannten.
Hatte der Nebel dieses gespenstische Ausmaß erreicht, rief der Magistrat die Blinden vom Hospiz Quinze-Vingts zu Hilfe, die dort mit ihren Sammeltassen hockten, eintönig ihre Bitten um Almosen näselten und mit ihren Stöcken die Beine der Passanten examinierten. Durch den Verlust des Augenlichts an ewige Finsternis gewöhnt, fanden sie sich nun in dem Gewirr der Gassen besser zurecht als selbst die Topographen, die den Plan von Paris gezeichnet hatten. Solange der Nebel herrschte, bekamen sie täglich pro Kopf fünf Livres zugeteilt. Ihr Aufrag dafür war, die Bürger sicher durch die vergangene Stadt zu führen. Wer eine Besorgung zu erledigen hatte, fasste einen Blinden am Rockschoß und ließ sich von ihm über die Straßen und Kreuzungen leiten.
 
Demnach besage eine Anekdote, man hätte diese Möglichkeit der Erwerbstätigkeit erwogen, mehr nicht. (Leider ohne Literaturangabe @ Paris le nez en l'air)
Hier das Original im Zusammenhang, ein Beitrag über Nebel im Tableau de Paris von 1783:

Ils sont fréquens, la ville étant coupée par une riviere qui a plusieurs bras. J'ai vu des brouillards si épais que les flambeaux ne se distinguoient plus; les cochers descendoient de leurs sieges et tâtoient le coin des rues pour avancer ou pour reculer. On se heurtoit dans les ténebres sans s'appercevoir; on entroit chez son voisin au lieu d'entrer chez soi.
Dans une année les brouillards furent si denses, qu'on s'avisa de louer à l'heure des quinze-vingts, qui vous guidoient en plein midi dans tous les quartiers. On leur donna jusqu'à cinq louis par jour, ces aveugles conoissant mieux la topographie de Paris, que ceux qui en avoient gravé ou dessiné le plan; or voici comme on voyageoit dans ces brumes qui déroboient la vue des rues et carrefours. On tenoit le quinze-vingt par un pan des sa robe, et d'une marche plus sûre que celle des clairvoyans, l'aveugle vous traînoit dans les quartiers où vous aviez affaire.


übersetzt
Er [der Nebel] ist häufig, da die Stadt von einem Fluss mit mehreren Armen durchschnitten wird. Ich sah Nebel, der so dicht war, dass die Fackeln nicht unterschieden werden konnten; die Kutscher stiegen von ihren Sitzen herab und tasteten die Straßenecken ab, um vorwärts oder rückwärts zu kommen. Man stieß in der Dunkelheit zusammen, ohne sich zu bemerken; man betrat das Haus des Nachbarn, anstatt sein eigenes zu betreten.
In einem Jahr war der Nebel so dicht, dass man es in Erwägung ziehen konnte, stundenweise Blinde zu mieten, die einem am Mittag in alle Viertel führten. Sie erhielten bis zu fünf Louis pro Tag, da diese Blinden die Topographie von Paris besser kannten als diejenigen, die den Plan gestochen oder gezeichnet hatten; aber so war es, wie man in diesem Nebel reiste, der die Sicht auf die Straßen und Kreuzungen verdeckte. Man hielt sich am Saum des Gewandes des Blinden, und mit sichererem Gang als ein Sehender schleppte der Blinde einem durch die Quartiere, in denen man Geschäfte hatte.


Brouillards in Tableau de Paris, Louis-Sébastien Mercier – Wikipedia , 1783 Seite 18-19
Tableau de Paris [by L.S. Mercier].

Quinze-vingts wurde als Synonym für Blinde benutzt. Er schreibt dann noch weiter, dass die Blinden sich in den Kirchen aufhielten.

Bestätigt noch von Alexandre Rodenbach — Wikipédia (1786-1869), selbst blind, in Lettre sur les aveugles: faisant suite à celle de Diderot ... [etc.],
wo er beschreibt, wie schwierig es sei, sich als Blinder in Paris zurechtzufinden. Er kennt aber welche, die das problemlos können und merkt dazu an:
A Paris, lors d'un épais brouillard, quelques aveugles des Quinze-Vingts, servaient de guides à des clairvoyans, et leur enseignaient même leur domicile.

In Paris dienten einige Blinde der Quinze-Vingts bei dichtem Nebel als Führer für Sehende und brachten sie nach Hause.


Da ist, wenn bei Mercier nicht seine Phantasie mit ihm durchgebrannt ist, wahrscheinlich etwas dran.
 
In Peter Pranges Roman Die Philosophin
Auszug aus dem Roman:
Während der Schiffsverkehr nach und nach zum Erliegen kam, krochen die Nebelschwaden ans Ufer und wälzten sich aufs Land, vermehrten such dort wie die helle Finsternis, um schließlich die ganze Stadt inn Besitz zu nehmen.
Dann lag der Krake Paris wie unter einem gigantischen Leichentuch da, ohne sich zu rühren, und das Leben in seinem Gedärm drohte zu ersticken, denn der Nebel vermischte sich mit dem ewigen Rauch, der überall in der Stadt aus den Schornsteinen drang - Myriaden Partikel von Staub und Ruß, die zwischen den hohen Häuserzeilen schwebten -, und bildeten mit ihm einen so dichten Brodem, dass man nicht einmal die Fackeln mehr erkennen konnte. die zur Markierung an den Straßenecken brannten.
Hatte der Nebel dieses gespenstische Ausmaß erreicht, rief der Magistrat die Blinden vom Hospiz Quinze-Vingts zu Hilfe, die dort mit ihren Sammeltassen hockten, eintönig ihre Bitten um Almosen näselten und mit ihren Stöcken die Beine der Passanten examinierten. Durch den Verlust des Augenlichts an ewige Finsternis gewöhnt, fanden sie sich nun in dem Gewirr der Gassen besser zurecht als selbst die Topographen, die den Plan von Paris gezeichnet hatten. Solange der Nebel herrschte, bekamen sie täglich pro Kopf fünf Livres zugeteilt. Ihr Aufrag dafür war, die Bürger sicher durch die vergangene Stadt zu führen. Wer eine Besorgung zu erledigen hatte, fasste einen Blinden am Rockschoß und ließ sich von ihm über die Straßen und Kreuzungen leiten.

Hier das Original im Zusammenhang, ein Beitrag über Nebel im Tableau de Paris von 1783:

Ils sont fréquens, la ville étant coupée par une riviere qui a plusieurs bras. J'ai vu des brouillards si épais que les flambeaux ne se distinguoient plus; les cochers descendoient de leurs sieges et tâtoient le coin des rues pour avancer ou pour reculer. On se heurtoit dans les ténebres sans s'appercevoir; on entroit chez son voisin au lieu d'entrer chez soi.
Dans une année les brouillards furent si denses, qu'on s'avisa de louer à l'heure des quinze-vingts, qui vous guidoient en plein midi dans tous les quartiers. On leur donna jusqu'à cinq louis par jour, ces aveugles conoissant mieux la topographie de Paris, que ceux qui en avoient gravé ou dessiné le plan; or voici comme on voyageoit dans ces brumes qui déroboient la vue des rues et carrefours. On tenoit le quinze-vingt par un pan des sa robe, et d'une marche plus sûre que celle des clairvoyans, l'aveugle vous traînoit dans les quartiers où vous aviez affaire.


übersetzt
Er [der Nebel] ist häufig, da die Stadt von einem Fluss mit mehreren Armen durchschnitten wird. Ich sah Nebel, der so dicht war, dass die Fackeln nicht unterschieden werden konnten; die Kutscher stiegen von ihren Sitzen herab und tasteten die Straßenecken ab, um vorwärts oder rückwärts zu kommen. Man stieß in der Dunkelheit zusammen, ohne sich zu bemerken; man betrat das Haus des Nachbarn, anstatt sein eigenes zu betreten.
In einem Jahr war der Nebel so dicht, dass man es in Erwägung ziehen konnte, stundenweise Blinde zu mieten, die einem am Mittag in alle Viertel führten. Sie erhielten bis zu fünf Louis pro Tag, da diese Blinden die Topographie von Paris besser kannten als diejenigen, die den Plan gestochen oder gezeichnet hatten; aber so war es, wie man in diesem Nebel reiste, der die Sicht auf die Straßen und Kreuzungen verdeckte. Man hielt sich am Saum des Gewandes des Blinden, und mit sichererem Gang als ein Sehender schleppte der Blinde einem durch die Quartiere, in denen man Geschäfte hatte.


Brouillards in Tableau de Paris, Louis-Sébastien Mercier – Wikipedia , 1783 Seite 18-19
Tableau de Paris [by L.S. Mercier].
Dann hat sich Prange, wenn man das so überfliegt, ziemlich wortgetreu an die Vorgabe von Mercier gehalten.

Da ist, wenn bei Mercier nicht seine Phantasie mit ihm durchgebrannt ist, wahrscheinlich etwas dran.
Im Sinne der Q-Kritik würde ich das schon für spöttische Übertreibung halten. Da müssten schon Akten aus dem Hôtel de Ville angeführt werden, dass ich das so 1:1 glauben wollte.
 
Sehr schönes spannendes Thema. Ich erinnere mich an Reichardt, der auch bei einem Parisbesuch interessant fand, was man unter Napoléon unternehmen wollte um Taube oder Stumme (leider vergessen wen genau) für die Gesellschaft nutzbar zu machen.
 
Im Sinne der Q-Kritik würde ich das schon für spöttische Übertreibung halten. Da müssten schon Akten aus dem Hôtel de Ville angeführt werden, dass ich das so 1:1 glauben wollte.
Paris war damals schon sehr groß, sodass das blinde Kennen der Wege samt all der Distanzen die Leistung eines Schachgroßmeisters übertroffen hätte. Dann wäre noch die besondere Vorliebe damaliger französischer Schriftsteller für maßlose Übertreibungen und Spott.
 
Paris war damals schon sehr groß, sodass das blinde Kennen der Wege samt all der Distanzen die Leistung eines Schachgroßmeisters übertroffen hätte.
Ich will zu bedenken geben, dass vor wenigen Jahren noch Taxifahrer und Rettungswagenfahrer Ortskundeprüfungen ablegen mussten.
Heute, wo jeder nach Navi fährt, verkümmert der Teil unseres Gehirns, der für Ortskenntnisse zuständig ist. Wenn ich nach Navi fahre, kann ich dir den Weg nicht mehr sagen, wenn ich aus dem Auto ausgestiegen bin. Schaue ich mir die Strecke auf der Karte an und fahre danach, finde ich sie auch in Jahren noch wieder. Also... ich will hier nicht die Wahrscheinlichkeit solcher blinden Personenführer verteidigen, ich würde die Passage eher als Spitze gegen die ungünstige Lage von Paris an der Seine lesen, und vielleicht auch gegen die Enge und die Luftverschmutzung - obwohl... noch mal oben nachgeschaut - das scheint mir eine Hinzufügung von Prange zu sein - aber ich würde jetzt nicht unterschrieben wollen, dass die blinde Ortskenntnis an sich den IQ eines Schachgroßmeisters erfordert.

Ich habe vor einigen Jahren im Blindensport ehrenamtlich ausgeholfen. Natürlich hatten die Blinden ihre Hilfsmittel, aber die konnten sich erstaunlich sicher durch Welt bewegen. Einschließlich eigenständiger Wegüberbrückung vom Bahnhof bis zur Sporthalle.
 
[…] ich würde jetzt nicht unterschrieben wollen, dass die blinde Ortskenntnis an sich den IQ eines Schachgroßmeisters erfordert.

Ich habe vor einigen Jahren im Blindensport ehrenamtlich ausgeholfen. Natürlich hatten die Blinden ihre Hilfsmittel, aber die konnten sich erstaunlich sicher durch Welt bewegen. Einschließlich eigenständiger Wegüberbrückung vom Bahnhof bis zur Sporthalle.
Mag sein, dass meine Skepsis auch von meinem tatsächlich mangelhaften Orientierungssinn getragen wird. Doch hier geht es nicht nur darum, sondern um die genaue Kenntnis der physischen Beschaffenheit einer ganzen Stadt.
Frage mich ein Bisschen, ob vielleicht Diderot zu dieser Erzählung beigetragen haben könnte mit seinem 1749 erschienenen (und allerdings zensurierten) Essay Lettre sur les aveugles à l’usage de ceux qui voient. Habe zwar keinen direkten Hinweis gefunden, aber allein schon seine Beschäftigung mit dem Thema hätte die Fantasien ankurbeln können.
 
Ich erinnere mich an Reichardt, der auch bei einem Parisbesuch interessant fand, was man unter Napoléon unternehmen wollte um Taube oder Stumme (leider vergessen wen genau) für die Gesellschaft nutzbar zu machen.
Es ist mir nicht ganz klar, ob Reichardt 1803 das nur interessant findet oder ob er sich darüber aufregt.
Einerseits gibt es ihm zu wenig Taubstummeninstitute in Frankreich und sowieso viel später als in Deutschland, andererseits ginge es den Taubstummen viel zu gut:

Die Erlernung der englischen Sprache, deren in andern öffentlichen Schulen so wenig als irgend einer andern lebenden Sprache gedacht wird, ist ein sonderbarer Vorzug für Taubstumme. Sie allein werden also für die Zukunft durch öffentlichen Unterricht in den Stand gesetzt, sich mit den taciturnen Engländern unterhalten zu können. Das wird eine Conversation geben!
...
Scheint es doch, als wenn man mit den Taubstummen überhaupt höhere Absichten im Sinne hätte!

“Johann Friedrich Reichardt's” vertraute Briefe aus Paris geschrieben in den Jahren 1802 und 1803

Dass einige Taubstumme in der napoleonischen Zeit englisch lernten, daraus ließe sich für einen zeitgenössischen Roman auch etwas machen, falls noch nicht geschehen.
 
Natürlich hatten die Blinden ihre Hilfsmittel, aber die konnten sich erstaunlich sicher durch Welt bewegen. Einschließlich eigenständiger Wegüberbrückung vom Bahnhof bis zur Sporthalle.
Das ist der Punkt: Blinde, die von Geburt an blind sind, vermissen nichts, sie finden sich in der Welt auch so zurecht – weil sie nichts anderes kennen.

Und was die Größe von Paris angeht: Es geht hier wahrscheinlich nicht darum, von einem Ende der Stadt zum anderen geführt zu werden – da hätte auch ein Sehender bei guter Sicht Schwierigkeiten, weil es ja keine Straßenschilder wie heute gab –, sondern innerhalb des eigenen Viertels und vielleicht in die unmittelbar benachbarten. Dort also, wo sich ein Bettler gewöhnlich aufhält.
 
Wenn ich so nachdenke: Ich würde mich in London, in Madrid, in Sevilla, in Córdoba, in Granada, in verschiedenen Städten in Dtld. problemlos zurechtfinden. Denkt man 200 Jahre zuürck, wo die meisten Leute noch nicht viel gereist sind, dann brauchten sie keine mentalen Stadtpläne von mehreren Städten, wie wir heute, sondern es reichte, wenn sie den Stadtplan ihrer Stadt und von deren Umgebung im Kopf hatten. Klar, ein Sehender orientiert sich an Landmarken, diese Möglichkeit hat ein Blinder nicht oder zumindest nicht in demselben Maß - der Sehende sieht Landmarken eben schon von Weitem und ist auf ihre Berührung nicht angewiesen. Der Blinde muss berühren, um "sehen" zu können.
 
Denkt man 200 Jahre zuürck, wo die meisten Leute noch nicht viel gereist sind, dann brauchten sie keine mentalen Stadtpläne von mehreren Städten, wie wir heute, sondern es reichte, wenn sie den Stadtplan ihrer Stadt und von deren Umgebung im Kopf hatten.
sehe ich auch so!

die jeweilige Ortskenntnis war sicherlich in den Zeiten vor google maps Navi, vor detaillierten Stadtplänen (wie wir sie heute kennen) und Wanderkarten, abhängig vom Aktionsradius der jeweiligen Person. Genaueres Kartenmaterial war obendrein bei weitem nicht jedermann zugänglich (militärische Karten, die im 18. & 19. Jh. erstaunlich genau sein konnten, gleich gar nicht) Die weitaus geringere Mobilität des einzelnen etwa im 18. Jh. in Paris bewirkte doch umgekehrt eine jeweils "karten- & navilose" aber fußläufig sehr genaue Ortskenntnis innerhalb des jeweiligen Aktionsradius. Ich nehme an, dass in dieser "Kleinräumigkeit" die Wahrnehmung viel genauer, detaillierter war. In einem anderen Faden vor ein paar Jahren kamen wir mal auf die heute absonderlich erscheinenden "Grenzziehungen" in Spätantike und Mittelalter zu sprechen: da war mancher "Burgfrieden" mit seinen Wegmarken für uns heute merkwürdig, aber damals offenbar bestens verständlich.
 
Mag sein, dass meine Skepsis auch von meinem tatsächlich mangelhaften Orientierungssinn getragen wird. Doch hier geht es nicht nur darum, sondern um die genaue Kenntnis der physischen Beschaffenheit einer ganzen Stadt.
Frage mich ein Bisschen, ob vielleicht Diderot zu dieser Erzählung beigetragen haben könnte mit seinem 1749 erschienenen (und allerdings zensurierten) Essay Lettre sur les aveugles à l’usage de ceux qui voient. Habe zwar keinen direkten Hinweis gefunden, aber allein schon seine Beschäftigung mit dem Thema hätte die Fantasien ankurbeln können.
Im nächsten Kapitel des Buches kommt etwas vor, das ist vielleicht hier gemeint

"Was haben Sie uns heute mitgebracht, Monsieur de Malesherbes?"
Aufmerksam musterte Madame de Pompadour den Direktor der königlichen Hofbibliothek, der ihr zum Lever seine Aufwartung machte.
"Etwas sehr Interessantes" erwiderte er. "Einen Brief über die Blinden, zum Gebrauch der Sehenden."
"Wie bitte?"
"So lautet der Titel, Madame. Er stammt von einem anonymen Verfasser und richtet sich an eine gewisse Frau von Pusieux."
"Eine medizinische Abhandlung?"
"Wenn man so will. Der Autor beschreibt den Fall eines englischen Mathematikers, der in seiner Kindheit das Augenlicht verlor, später aber dennoch Professor wurde und obendrein Optik lehrte."
"Das ist allerdings bemerkenswert. Doch warum erscheint ein solches Buch anonym?"
"Der medizinische Aspekt dient nur zur Tarnung. In Wahrheit sind nicht wirklich Blinde gemeint, vielmehr ist von einer ganz anderren Blindheit die Rede: vom Unvermögen der Menschen, die Wahrheit zu erkennen. Dabei wagt sich der Autor in gefährliche Regionen vor. Zum beispiel fragt er, welche Vorstellungen von Gott ein Mensch überhaupt haben kann."
"Und wie lautet die Antwort?", wollte die Pompadour wissen.
"Dass wir wie die Blinden im Dunkeln tappen. Um Aussagen über Gott zu machen, müssten wir ihngreifen können."
"Oh, ich begreife. Einer von diesen Deisten, die behaupten, an Gott zu glauben, ohne am Sonntag zur Messe zu gehen. Lassen Sie mir bitte das auch da. Ich werde es noch heute an Pere Radominsky weiterleiten."
 
Es gibt doch noch einen amtlichen Beleg für Blindenerwerb im 18. Jh. in Paris, allerdings nicht für die Begleitung Sehender bei Nebel.
Ein Dekret der Verfassunggebenden Nationalversammlung vom 31. Juli 1791 schuf ein Erziehungshaus für junge Blinde. Ein zweites Dekret vom 28. September 1791 wies dieser Einrichtung zusätzlich zu den Einnahmen des Hôpital des Quinze-Vingts eine Summe von 13.900 Livres zu, soweit diese nicht ausreichen.
Art. 1: Das Direktorium des Pariser Departements wird den Teil der genannten Gebäude bekanntgeben, den es dem Unterricht und der Arbeit der Blinden zuweisen will.
Décret sur l’établissement des aveugles-nés, lors de la séance du 28 septembre 1791 - Persée

So wie ich das verstehe, erarbeitete sich das Hôpital des Quinze-Vingts bereits einen Überschuss.
1794 erhielt das Erziehungshaus den Namen "l’Institut National des Aveugles Travailleurs" (Nationales Institut für Blindenarbeit) und wurde unter diesem Namen 1800 mit dem Hôpital des Quinze-Vingts zusammengelegt.
 
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