Bismarcks "Lückentheorie" im Verfassungskonflikt

Noch ein paar Anmerkungen.

Der Wunsch Wilhelm I. nach Größe der Armee und Dauer der Dienstzeit waren für damalige Verhältnisse nichts besonderes. Schauen wir uns die anderen kontinentalen Großmächte an.

Österreich verfügte über 300.000 Soldaten, Frankreich über 400.000, Russland über eine Million und Preußen, immerhin auch eine europäische Großmacht, über ca. 140.000 Soldaten. Die Größe des Heeres war seit dem Freiheitskriegen nicht mehr korrigiert wurden, obwohl die Bevölkerung von 11 auf 18 Millionen gewachsen war.

Der aktuelle preußische Grundwehrdienst betrug eigentlich nur 2 Jahre. In Österreich wurden 3-5 Jahre verlangt, in Frankreich waren es 7 Jahre und in Russland sogar 12 Jahre.

So kann die Forderung Wilhelm I. doch etwas besser eingeordnet werden.
 
In Österreich wurden 3-5 Jahre verlangt, in Frankreich waren es 7 Jahre und in Russland sogar 12 Jahre.
Musste in Frankreich und Russland tatsächlich die gesamte männliche Bevölkerung so lange dienen oder nur, wenn man sich dazu verpflichtete?

Als Wehrpflicht müsste so eine lange Dienstzeit ja enorme wirtschaftliche Nachtteile mit sich bringen, insbesondere die 12 Jahre.
 
Musste in Frankreich und Russland tatsächlich die gesamte männliche Bevölkerung so lange dienen oder nur, wenn man sich dazu verpflichtete?

Als Wehrpflicht müsste so eine lange Dienstzeit ja enorme wirtschaftliche Nachtteile mit sich bringen, insbesondere die 12 Jahre.
Ich habe noch mal nachgeschaut, konnte aber leider nichts genaues finden. Tut mir leid.
 
Musste in Frankreich und Russland tatsächlich die gesamte männliche Bevölkerung so lange dienen oder nur, wenn man sich dazu verpflichtete?
Die Wehrpflicht im 19. jahrhundert umfasste nirgendwo die gesamte männliche Bevölkerung.

In Russland wird man jedenfalls Anfang der 1860er Jahre noch vorwiegend auf die vorhandenen Leibeigenen zurückgegriffen haben.
In der Napoléonik sah das meines Wissens nach noch so aus, dass die Landbesitzer einen Teil ihrer Leibeigenen Bauern zum Militärdienst abstellen mussten, wobei es wohl weitgehend in der Hand der Gutsbesitzeer lag, wen sie da zum Militärdienst abkommandierten, was mitunter nicht unbedingt die dafür geeignetsten Personen waren.

Im Bezug auf Frankreich meine ich mal gelesen zu haben, dass Wehrpflicht sofern sie in der ersten Hälfte des 19. jahrhunderts stattfand, durch das Los entschieden wurde und wohlhabende Kandidaten, die das Pech hatten, dass das Los sie traf, die Möglichkeit hatten sich freizukaufen, wenn sie einen Ersatzmann bezahlten, der an ihrer Stelle Dienst leistete.
Ich weiß aber nicht, bis wann das ging, 1870-1871 hatte die französische Armee ja mehr den Charakter eines Berufsheeres.

Aber vor den Weltkriegen wurde eine komplette Wehrpflicht, die die gesamte männliche Bevölkerung effektiv erfasst und tatsächlich zum Dienst an der Waffe herangezogen hätte, nirgendwo realisiert.
Dementsprechend gab es auch keine Wehrgerechtigkeit im modernen Sinne.

Als Wehrpflicht müsste so eine lange Dienstzeit ja enorme wirtschaftliche Nachtteile mit sich bringen, insbesondere die 12 Jahre.
Was Russlands Steueraufkommen und Volkswirtschaft angeht, effektiv wahrscheinlich nicht, wenn ein Großteil der Rekruten bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts leibeigne Bauern waren. In diesem Fall, ging das Arbeitsprodukt, dass sie erwirtschafteten ja ohnehin an den steuerlich mindestens mal sehr begünstigten Adel, so das dabei mindestens dem Staat wohl nicht allzuviel entgangen sein dürfte.
Zumal faktische Zwangsarbeit ohnehin eine sehr ineffektive Produktionsmethode war und durch das noch herrschende Feudalsystem, was die Ebene der Gutsherrschaften und Feudallasten angeht, ohnehin nicht auf die Bedürfnisse kapitalistischer Produktionsweise zugeschnitten war.

Nach Alexander II. und der Bauernbefreiung dürfte das anders ausgesehen haben.
Vorher stand ein großer Teil der Rekrute durch die Leibeigenschaft dem entwickelten und einigermaßen effektiv produzierenden Gewerbe ohnehin nicht zur Verfügung.

Für den einzelnen Rekruten hatte das natürlich massive Nachteile, aber die hatten als Unterpriviligierte in einer noch ständisch geprägten Gesellschaft auch so gar keine Lobby, was ihre Interessen betrifft.
 
Es mag plausibel sein, dass die Arbeit von Leibeigenen weniger produktiv war als die freier Lohnarbeiter, aber natürlich muss es volkswirtschaftlich Nachteile mit sich gebracht haben, wenn ein Teil der leibeigenen Arbeit ausfiel. Das gilt unabhängig von der Frage, wer innerhalb der russischen Gesellschaft diese Verluste letztlich tragen musste.
 
Es mag plausibel sein, dass die Arbeit von Leibeigenen weniger produktiv war als die freier Lohnarbeiter, aber natürlich muss es volkswirtschaftlich Nachteile mit sich gebracht haben, wenn ein Teil der leibeigenen Arbeit ausfiel. Das gilt unabhängig von der Frage, wer innerhalb der russischen Gesellschaft diese Verluste letztlich tragen musste.

Das Argument wäre nur dann richtig, wenn eine andere Regelung diese Ausfälle verhindert hätte.
Das wäre der Fall gewesen, wenn sich Russland einfach weniger Soldaten geleistet hätte. Aber darum ging es ja nicht, sondern es ging ja in der Frage darum, ob sich die Länge der Dienstzeit von 12 Jahren wirtschaftlich negativ auswirkte.

Volkswirtschaftlich gesehen dürfte es im Prinzip aber herzlich wenig Unterschied machen, ob man einen relativ kleinen Pool von Einwohnern hat, die 12 Jahre lang der Wirtschaft nicht zur Verfügung stehen, oder ob man einen größeren Pool an Rekruten hat, die alle 2 oder 3 Jahre Militärdienst leisten und mmit denen man am Ende auf die gleiche Kopfzahl kommt.
Dann käme noch hinzu, dass es bis weit ins 19. Jahrhundert hinein Usus war, dass Soldaten ohnehin Teilzeitsoldaten waren, weil wegen der Witterungsbedingungen und der Infrastruktur, die eben noch nicht mit der heutigen vergelichbar war (zumal in Osteuropa), selten im Winter Krieg geführt wurde.
Wenn die Soldaten außerhalb der Kriegssaison in den Quartieren saßen, war es nicht unüblich, dass sie einen erheblichen Teil ihrer Zeit mit handwerklichen Tätigkeiten verbrachten um ihren Sold aufzubessern, mitunter wohl auch zu Bauprojekten herangezogen wurden etc.
So gesehen, waren Soldaten auch kein Totalverlust, von wirtschaftlicher Seite her.


Wenn man sich demgegenüber die Frage stellen wollte, ob Russland nicht auch mit deutlich weniger Soldaten ausgekommen wäre und so die Belastugen hätte reduzieren können, wären verschiedene Dinge zu bedenken:

- Russlands technische und wirtschaftliche Rückständigkeit, die es nicht erlaubte die militärischen Innovationen Westeuropas bzw. technische Lösungen von dort wirklich zeitnah nachzuvollziehen. Z.B. war Russland mit Hinterladern als Standartwaffen für die Infanterie deutlich später drann, ebenso wie mit der Einführung von entsprechenden Patronenmagazinen, die eine schnellere Schussfolge erlaubten, so dass man durch die schlechtere Ausrüstung den Kampfwert eines russischen Soldaten geringer wird ansetzen müssen, als den eines Westeuropäischen.

Gerade das längere Beibehalten von Vorderladern machte es auch notwenig die Truppen weiterhin für den Formationskampf zu drillen, was erfahrungsgemäß sehr lange dauern konnte, bis diese die Mannöver tatsächlich auch beherrschten.
Das war ein Punkt der für tendenziell längere Dienstzeiten sprach.

- Ein anderer Punkt, der für lange Dienstzeiten sprach, war die weite des Raumes. Im Besonderen der "Ferne Osten" war ja vor dem Dampf-Zeitalter tatsächlich extrem Fern und insofern Russland damals mit Alaska ja sogar noch Territorien in Nordamerika besaß, waren die Wege im Extremfall noch mal etwas weiter.

Jules Verne hat in seinem "Kurier des Zaren" die Reise nach Otsibirien (Irkutsk) in den 1870er Jahren mehr oder minder zu einem Abenteuerroman
verarbeitet und spielt da ja mit der Figur eines "Tartarenaufstands", abgerissener Nachrichtenwege nach St. Petersburg und der großen Entfernungen und abenteuerlichen Wegstrecken.

Aber Vernes "Michael Strogoff", muss als Kurier natürlich nicht Unmengen an Verpflegung und Ausrüstung mitschleppen und kann jedenfalls bis Perm bereits auf Eisenbahn und Dampfschiff zurückgreifen, richtig beschwehrlich wird es erst mit der Überquerung des Ural.


In der Zeit vor dem Konflikt um die preußische Heeresreform, die @Turgot angesprochen hatte, gab es Eisenbahn und gut ausgebaute Dampfschifflinien dort noch nicht und schon einmal überhaupt nicht mit einer Kapazität, dass sie größere Truppen und Nachschub transportieren konnten.
Worauf möchte ich hinaus? Die enorme Ostausdehnung und die rudimentäre Infrastruktur sorgte dafür dass es Monate, im Extremfall Jahre brauchte, bis größere Truppenkörper von Westen her die äußersten Winkel des russischen Territoriums überhaupt erreichen konnten und das auch nur unter enormem Verschleiß von Truppen.
Das war natürlich nicht praktikabel.
Diese Ausdehnung und die nicht vorhandene Infrastruktur machten eine gewisse ständige Präsenz von Truppen in Sibiren, mindestens in den Hauptorten notwendig um das Land unter Kontrolle zu halten, zumal dort außer Strafdeportierten kaum Russen lebten (ein paar Kaufleute und Pelzjäger vielleicht), so dass die Gefahr von separatistischen Tendenzen in der Region durchaus real waren.

Ständige Präsenz im Fernen Osten, ließ sich aber nicht mit kurzen Dienstzeeiten vereinbaren.
Wenn die Truppen Monate, im Extremfall bis zu einem Jahr brauchen konnten, um überhaupt ihre Standorte zu erreichen und gleichzeitig die Ausbildung wegen der Vorderlader und des Formationskampfes längere Zeit in Anspruch nahm, als anderswo, wo man bereits zu Infanteriewaffen mit Hinterladervorrichtungenn überging (Tat man in Preußen seit den 1840er Jahren zunehmend), war das ohne die Soldaten tatsächlich auch einige Jahre unter Waffen zu halten, überhaupt nicht machbar.


- Kommt natürlich hinzu, dass die langen Wege es quasi unmöglich machten, dass die im Osten stehenden Truppen, in einem europäischen Krieg zeitig zum Einsatz gebracht werden konnten.
D.h. die Präsenz im Osten musste zusätzlich zu den stehenden Truppen in Europa unterhalten werden, und die widerrum mussten wegen ihrer tendenziellen technischen Unterlegenheit gegenüber Westeuropa die Armeen der potentiellen Kriegsgegner zusätzlich nummerisch deutlich übertreffen, um diesen Nachteil auszugleichen.
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Wenn man sich die reinen Zahlen in @Turgot s Ausführung anschaut könnte man ja meinen, die russische Armee wäre vollkommen überdimensioniert gewesen, aber auch das übersieht einige Aspekte:

- Die Truppenzahl der regulären preußischen Armee zur Zeit des Konfliktes um die Heeresreform, war vielleicht nicht besonders beeindruckend, aber diese Armee war in zunehmendem Maße mit seit 1848 in Massenfabrikation hergestellten Zündnadelgewehren versehen und außerdem gab es ja zusätzlich zur regulären Armee noch die "Landwehr" als ergänzendes militärisches Instrument.
Außerdem war Preußen ja durch die Strukturen des Deutschen Bundes, der Im Fall eines Angriffs einer außerdeutschen Macht auf Preußen auch Österreich und die Mittelstaaten zur Stellung eines Bundesheeres zur Verteidigung des Bundegebiets verpflichteete gesichert und das Gleiche gilt von Österreich.

- Die Britische Armee, ist zu dieser Zeit nicht besonders groß, sie ist aber im Prinzip bis in den ersten Weltkrieg hinein, eine der bestausgerüsteten Streitkräfte der Welt, was die Ausrüstung des einzelnen Soldaten betrifft und sie war mehr oder weniger eine reine Interventionsarmee, die für die Verteidigung der britischen Inseln selbst kaum eine Rolle spielte, das konnte die Navy übernehmen.
Außerdem ermöglichten es die militärischen Strukturenn in Großbritannien vergleichbar mit der "Landwehr" in Preußen im Ernstfall die Miliz zu mobilisieren und damit die nummerische Stärke der Landstreitkräfte für den Verteidigungsfall deutlich zu erhöhen.

- Frankreich hatte keinen Deutschen Bund und keine Royal Navy, die es schützten, aber seine 400.000 Mann waren wesentlich moderner ausgerüstet, als die Million russischer Soldaten und Frankreich hatte auch keine großen Kolonien, die so weit abgelegen gewesen wären, dass sie vergleichbar dem russischen Fernen Osten dauernd massive Teilkräfte außerhalb Europas gebunden hätten.
Frankreich besaß zu dieser Zeit Kolonien im Maghreb und ansonsten noch ein paar leicht zu kontrollierende Inseln in der Karibik und vor Afrika, so wie einen Zipfel des südamierkanischen Kontinents (Farnzösisch Guayana).
Das ließ sich aber mit geringem Aufwand halten und aus der Küstenregion des Maghreb, konnte man Truppen relativ schnell nach Südfrankreich verschiffen, wenn es denn sein musste.
Auch fing in West- und Zentraleuropa natürlich das Dampfzeitalter und der Ausbau flächendeckend moderner Infarstruktur früher an, als in Russland und ermöglichte eher eine weit größere Mobilität an Truppen.


Das dürfte die von Turgot genannnten Zahlen etwas relativieren.

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Und um den Bogen zum Thema Heeresvorlage und Verfassungskonflikt in Preußen zurück zu schlagen:

Man konnte in Preußen angesichts von Landwehr, zusätzlich zum regulären Heer, angesichts der Beginn der Einführung des Zündnadelgewehrs als technischer Innovation und angesichts des Deutschen Bundes und der Aussicht auf ein Bundesheer zur Unterstützung, wenn man von Frankreich oder Russland angegriffen worden wäre durchaus hinterfragen, ob das mit der Heeresvererung unbedingt sein musste.

Das die Mobilisierung des Bundesheeres oder die Drohung damit auf einen Akteur wie Frankreich durchaus Abschreckungswirkung hatte, zeigte der paralel zum Verfassungskonflikt laufende Sardinienkrieg, in dem sich Napoleón III. sehr beeilte schnell Frieden zu machen, als absehbar wurde, dass Preußen der Mobilmachung des Bundesheeres mittelfristig doch zustimmen würde und Frankreich möglicherweise in die Verdrückung einer militärischen Auseinandersetzung mit dem gesamten Deutschen Bund käme.
Und das obwohl Österreich diesen Krieg angefangen hatte und die anderen Staaten des Bundes hier also einen Grund hatten sich zu Hilfe für Österreich nicht verpflichtet zu sehen.
Das wäre anders gewesen, wenn ein Mitglid des Bundes selbst anngegriffen worden wäre.

Frankreich hatte in der Rheinkrise 1840 und im Sardinienkrieg 1859/1860 zwei mal vor der Gefahr gestanden, den Deutschen Bund militärisch zu aktivieren und war zweimal davor zurückgeschreckt.
Da konnte man in Preußen durchaus den Eindruck haben, dass man in Sachen Verteidigung eigentlich gut abgesichert war und keine größere Armee brauchte, wenn man keine Eroberungsagenda hatte.
Letztendlich war die Heeresvermehrung eigentlich nur nötig um Preußens Konfliktfähigkeit gegenüber Österreich zu erhohen um die Deutsche Frage militärisch bespielen zu können.
Aber das war ja nicht unbedingt unausweichlich notwendig.

Das Preußen nach den Napoléonischen Kriegen nicht mehr wirklich aufgerüstet hatte bis zum Verfassungskonflikt hin ist zwar richtig, aber dann müsste man nebenher auch sehen, dass Preußen spätestens seit den Zweiten Friedrich II. (wenn nicht schon in den letzten Jahren der Regierungszeit seines Vaters) ein gemessen an seiner Bevölkerungszahl deutlich überproportional großes Landheer besessen hatte.

Man könnte also argumentieren, dass Jahrzehntelange unterlassene Aufrüsten Preußen nicht etwa in besonderen Rückstand gebracht, sondernn viel eher Bevölkerungszahl und größe der Armee in ein gesundes Verhältnis zu einander gebracht habe.
 
Man könnte also argumentieren, dass Jahrzehntelange unterlassene Aufrüsten Preußen nicht etwa in besonderen Rückstand gebracht, sondernn viel eher Bevölkerungszahl und größe der Armee in ein gesundes Verhältnis zu einander gebracht habe.
@Shinigami dieses gesunde (demografische) Verhältnis: passt das zur beginnenden Entwicklung Richtung industriell ausgerüsteter Massenheere, beginnend mit dem Krimkrieg usw.? Wir befinden uns am Beginn des Zeitalters der Massenheere.
 
Frankreich hatte in der Rheinkrise 1840 und im Sardinienkrieg 1859/1860 zwei mal vor der Gefahr gestanden, den Deutschen Bund militärisch zu aktivieren und war zweimal davor zurückgeschreckt.

Bekomme ich etwas durcheinander? 1859 führte Frankreich Krieg mit Sardinien in Oberitalien, mit dem Ziel die Lombardei und Venetien Österreich zu entreißen. Der Deutsche Bund wurde maßgeblich auf Betreiben Bismarcks nicht aktiviert. Wovor ist Frankreich zurückgeschreckt?

Da konnte man in Preußen durchaus den Eindruck haben, dass man in Sachen Verteidigung eigentlich gut abgesichert war und keine größere Armee brauchte, wenn man keine Eroberungsagenda hatte.

Ganz offenkundig hatte man diesen Eindruck aber nicht. Du schiebst hier unterschwellig unter, das Wilhelm I. die Armee reformieren wollte, um Eroberungskriege zu führen. Ziemlich happig. Die anderen europäischen Großmächte, also Österreich, Frankreich und Russland hatten deutlich größere Armeen mit längeren Dienstzeiten. Sich einfach nur auf den guten Willen der Mächte zu verlassen, sich auf den Lorbeeren das vergangenen Jahrhunderts zu verlassen, das wäre in jener Zeit sträflich naiv gewesen und wenig verantwortungsbewusst gewesen. Und wenn Preußen als europäische Großmacht ernstgenommen werden wollte, dann musste die Armee schon über eine gewisse Größe und Schlagkraft verfügen.

Man könnte also argumentieren, dass Jahrzehntelange unterlassene Aufrüsten Preußen nicht etwa in besonderen Rückstand gebracht, sondernn viel eher Bevölkerungszahl und größe der Armee in ein gesundes Verhältnis zu einander gebracht habe.

Diese Ausführung kann ich ganz und gar nicht teilen. Siehe oben.
 
@Shinigami dieses gesunde (demografische) Verhältnis: passt das zur beginnenden Entwicklung Richtung industriell ausgerüsteter Massenheere, beginnend mit dem Krimkrieg usw.? Wir befinden uns am Beginn des Zeitalters der Massenheere.
Das übersieht meiner Ansicht nach die die Entwicklung der ersten Hälfte des 19. jahrhunderts.

Nach den napoléonischen Kriegen ging die Tendenz überall in Europa ja zunächst mal zu Reduktion der Größe der vorhandenen Truppen.

Schaut man sich Frankreich an, dann ist die von @Turgot heranzitierte Truppenstärke von 400.000 Mann nicht wesentlich größer, als es zeitweise die Größe der franzsösichen Heeres unter dem "Ancien Régime" schonmal gewesen war (allerdings bei seit dem nochmal deutlich gewachsener Bevölkerungszahl).

Auch die 300.000 Mann die die Habsburgermonarchie aufbieten konnte, waren nicht so weit von dem Entfernt, was die Habburger in Teilen im 18. Jahrhundert und in den Revolutionskriegenn zusammen gebacht hatten.

Die große Tendenz dazu die Armeen extrem zu vergrößern hatte hier noch nicht eingesetzt und was Ereignisse wie den Krimkrieg angeht, konnte man doch lediglich eine halbe Dekade danach noch nicht absehen, wohin die Gesamtentwicklung in the long run gehen würde und ob man immer weiter aufrüsten, oder wie nach den Napoléonischen Kriegen erstmal wieder abrüsten würde.

Genau so, wie man aus dem Krimkrieg den Schluss ziehen konnte, dass es eine Tendenz zu Massennheeren geben würde, konnte man 10 später aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg und dem darauf folgenden Abbau der militärischen Strukturen wiederum die Überlegung ziehen, dass dies möglicherweise eine vorübergehnde Phase und nicht von Dauer sei.

In den USA, in Großbritannien und auch bei den Deutschen Mittelstaaten, die nicht besonders viel in ihr Heer investierten und sich lieber auf den Deutschen Bund verließen (was zu ihrem Verhängnis wurde, als dieser 1866/1867 am preußisch-österreichischen Dualismus scheiterte), hatte man bis dato stets die ökonomischen Erwägungen im Auge und tat für das Militär nur das, was man für unbedingt notwendig hielt.

Bekomme ich etwas durcheinander? 1859 führte Frankreich Krieg mit Sardinien in Oberitalien, mit dem Ziel die Lombardei und Venetien Österreich zu entreißen. Der Deutsche Bund wurde maßgeblich auf Betreiben Bismarcks nicht aktiviert. Wovor ist Frankreich zurückgeschreckt?
Die Frage der Mobilisierung stand aber im Raum und es war klar, dass auch Bismarck, sich nicht würde weigernn können, wenn der Krieg auf Deutsches Bundesgebiet übergreifen würde.
Zwar wäre Preußen dazu nicht verpflichtet gewesen, aber Bismarck hätte sich in Gegesatz zur deutschen Nationalbewegung gesetzt, die er zur Stärkung Preußens aber unbedingt benötigte, wenn er einen Einfall des französischen Erzfeindes in Gebiete des Bundes tatenlos toleriert hätte.

Wirf mal einen Blick auf die Landkarte wo Solferino/San Martino liegt.
Das ist knapp südlich des Gardasees. 40-50 Km nördlich, lag die Grenze des Deutschen Bundes in Südtirol.
Damit war die Gefahr, dass deutsches Bundesgebiet bei weiterem Vorgehen involviert werden könnte, durchaus real und dann wäre die Mobilmachung des Bundesheeres nicht mehr zu vermeiden gewesen, oder Bismarck hätte die Nationalbewegung als potentiellen Verbündeten verloren und seine Pläne Preußen zur Vormacht in Deutschland zu machen, vergessen können.

Ganz offenkundig hatte man diesen Eindruck aber nicht. Du schiebst hier unterschwellig unter, das Wilhelm I. die Armee reformieren wollte, um Eroberungskriege zu führen. Ziemlich happig.
Das schreibe ich nicht annähernd.
Ich schreibe, dass es notwendig war um Konfliktfähigkeit gegenüber Österreich herzustellen.
Die war nicht unbedingt Wilhelm I. sein Projekt (der wollte ja eigentlich lieber zum Frankfurter Fürstentag um sich diplomatisch zu arrangieren) sondern Bismarcks.

Und ganz offensichtlich hatten die Liberalen den Eindruck, dass man kein größeres Heer bräuchte, ja eben doch, denn sonst hätten sie im preußischen Landtag die Heeresreform ja nicht abgelehnt und es hätte den preußischen Verfassungskonflikt in dieser Form und in der Konsequenz möglicherweis auch einen Kanzler Bismarck nicht gegeben.

Die Beweggründe Wilhelm I. die Armee stärken zu wollen, (ohne mich damit in Detail bechäftigt zu haben) würde ich ganz wo anders vermuten.

Wilhelm I. mochte die "Landwehr" mit ihrem Miliz-Charakter und ihremm teilweise bürgerlichen Anstrich nicht. Das Milizsystem erinnerte ja eher an die traditionen liberaler, konstitutioneller oder republikanischer Staatsgebilde, wie in der Schweiz, Großbritannien oder in den USA und konnte als Symbol des Liberalismus oder Republikanismus aufgefasst werden, außerdem war die monarchische Kontrolle darüber natürlich nicht so ausgeprägt, wie über die auf ihn eingeschworene Armee.
Ich habe mich zugegeben nie sonderlich mit Wilhelm I. Gründen dafür beschäftigt unbedingt eine Heeresreform zu wollen, würde dem konservativen preußischen Monarchen aber unterstellen, dass er eine Stärkung des regulären Heeres in erster Linie wollte, um die ihm suspekte "Landwehr" abbauen zu können.
Also nicht um Preußens Schlagkraft nach Außen zu erhöhen, sonden um preußens militärische Instrumente königstreuer zu machen.
Und genau diese Erwägung, dass eine Stärkung des regulären monarchischen Heeres die Vorbereitung zur Abschaffung der eher nationalen Institution der "Landwehr" sein könnte, womit die konservative Monarchie vor allem nach innen konfliktfähiger geworden wäre, dürfte die Ablehnung vieler Liberaler intenndiert haben.

Diese Ausführung kann ich ganz und gar nicht teilen.
Das hättest du jetzt überhaupt nicht schreiben müssen, dass du das nicht teilst, geht ja bereits daraus hervor, dass du oben die nummerischen Stärken miteinander vergleichen hast, ohne auch auf Kampfwert, Bündnisstrukturen, Infrastrukturprobleme etc. zu rekurieren.
 
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Das übersieht meiner Ansicht nach die die Entwicklung der ersten Hälfte des 19. jahrhunderts.

Nach den napoléonischen Kriegen ging die Tendenz überall in Europa ja zunächst mal zu Reduktion der Größe der vorhandenen Truppen.
Daran habe ich Zweifel, denn allein die Bereitstellung der Besatzungen der Bundesfestungen (in Folge des Festungsbauprogramms, beginnend mit Koblenz (ich zähle jetzt nicht alle Bundesfestungen auf: es waren viele und sie wurden riesig)) geht in Richtung Massenheere. Zur Info: das Festungsbauprogramm setzte in der ersten Hälfte des 19.Jhs. ein.
 
Daran habe ich Zweifel, denn allein die Bereitstellung der Besatzungen der Bundesfestungen (in Folge des Festungsbauprogramms, beginnend mit Koblenz (ich zähle jetzt nicht alle Bundesfestungen auf: es waren viele und sie wurden riesig)) geht in Richtung Massenheere. Zur Info: das Festungsbauprogramm setzte in der ersten Hälfte des 19.Jhs. ein.

Der entscheidende Schritt in Richtung Massenheere war sicherlich die Wehrpflicht und das war seit der Napoléonik implementiert.

Aber wir reden ja hier, wenn man sich an @Turgots Zahlen arbarbeitet vor allem über die Friedensstärke der regulären Heere.
Die wuchs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei den meisten europäischen Mächten nicht besonders, was wuchs, dass waren die im Kriegsfall aktivierbaren Reserven, im preußischen Fall vor allem Die Landwehr.

Deswegen ist aber der Vergleich der reinen Zahlen des Friedensheeres, wenn man auf Konfliktfähigkeit abstellen möchte nicht unbedingt sinnvoll.

Russland hatte sein stehenndes Millionenheer, hatte wegen der sehr langen Dinstzeiten aber kaum ausgebildete potentielle Reservisten. Wer irgendwann mit anfang 20 in die Armee eingezogen wurde, ging 12 Jahre später, wenn er entalssen wurde auf Mitte 30 zu und war drauf und drann den Zenit seiner körperlichen Leistungsfähigkeit zu überschreiten.
Natürlich kann man im Kriegsfall auch den "Volkssturm" noch heranziehen, aber wirklich effektiv ist es eben nicht.

Preußen hatte demgegenüber ein Heer mit einer relativ kleinen Friedensstärke, konnte aber durch Hinzuziehung von Landwehr und Mobilisierung aus dem aktiven Wehrdienst ausgeschiedener Kader sehr schnell nummerisch anwachsen.
Durch die kurze Dienstzeit, war der Preußische Rekrut, der in seinen frühen 20ern gezogen wurde, mit Mitte 20 mit seinem regulären Militärdienst fertig und hatte noch einige brauchbare Jahre vor sich, was körperliche Leistungsfähigkeit angeht.
Das war aktivierbares militärisches Potential, dass anderen Akteuren so nicht zur Verfügung stand.
 
Die Beweggründe Wilhelm I. die Armee stärken zu wollen, (ohne mich damit in Detail bechäftigt zu haben) würde ich ganz wo anders vermuten.

Bei der Mobilmachung 1859 wurden deutliche Mängel des preußischen Potenzials festgestellt. Wilhelm fühlte sich durch dem Krieg in Oberitalien bestätigt. Schon der Krimkrieg hatte gezeigt, das Preußen durch seine zentrale läge in Europa jederzeit in einem militärischen Konflikt hineingezogen werden kann, von denen es sich eigentlich fern halten wollte. Nun, 1859, war dies schon wieder geschehen. Dies und die Gefahr, die nach Wilhelms Meinung von Frankreich ausging, ließen in ihm die Erkenntnis reifendes die Steigerung des preußischen Wehrpotenzials energisch vorangetrieben werden muss.

Das Kernvorhaben Wilhelm, die Reorganisation der Armee, kam nicht recht vom Fleck. Anfang 1859 hatte Wilhelm seinen Kriegsminister Bonn gebeten, die Konzepte von Room und Clausewitz zu prüfen. Wilhelm ließ dabei erkennen, das er Roons Überlegungen präferiere, die die dreijährige Dienstzeit nicht in Frage stellten. Bonn hielt nichts von den Entwurf Roons, der in seinen Augen nur ein Provinzgeneral war. Vor allem störte ihm die Auflösung der Landwehr.

Bevor es zwischen den beiden Männern zu Eklat kam, kam der Italienkrieg dazwischen.

Auf einem Konrad am 21.Juli 1859 meinte Wilhelm, nun sei mit einem Angriff Frankreichs aus die Rheingrenze zu rechnen. Preußen müsse sich auf einen Existenzkampf einrichten.

Das sind die Gründe, die Wilhelm I. antrieben.
 
Das Reformkonzept von Clausewitz würde mich interessieren.
(Dabei war der 1859 doch schon bald 30 Jahre tot.)
 
Die Frage der Mobilisierung stand aber im Raum und es war klar, dass auch Bismarck, sich nicht würde weigernn können, wenn der Krieg auf Deutsches Bundesgebiet übergreifen würde.
Zwar wäre Preußen dazu nicht verpflichtet gewesen, aber Bismarck hätte sich in Gegesatz zur deutschen Nationalbewegung gesetzt, die er zur Stärkung Preußens aber unbedingt benötigte, wenn er einen Einfall des französischen Erzfeindes in Gebiete des Bundes tatenlos toleriert hätte.

Preußen war durchaus, zu dem von Österreich begonnenen Krieg, zum Entgegenkommen bereit. Es wollte aber dafür den preußischen Oberbefehl über die Bundeskontingente, wenn gegen Frankreich marschiert werden sollte. Nach den Niederlagen, Magenta und Solferino, bedrängte Österreich Preußen zum Eingreifen. Im Juli wurde über die Zweiteilung des Oberbefehls verhandelt. Preußen schien damit die Schutzmachtposition im Norden zuzufallen. Aber am 08.Juli schloß Österreich lieber den Frieden von Villafranca ab.
Bismarck spielte da noch überhaupt gar keine entscheidende Rolle, denn er war zu dieser Zeit Gesandter in Petersburg. Zu beachten ist auch, das Napoleon III. sich der russische Neutralität versichert hatte.
 
Das sind die Gründe, die Wilhelm I. antrieben.
Die aber eben nicht nur auf die nummerische Stärke von Preußens Heer abstellten.

Auch die Revolution von 1848 und die Frage der Loyalität der "Landwehr" im Fall innerer Konflikte, war natürlich ein aus monarchischer Sicht guter Grund.
Und wenn Wilhelm I. einen Angriff Frankreichs auf die Rheingrenze fürchtete, könnte das damit zusammenhängen, dass er der Bundestreue Österreichs nicht traute nachdem Preußen sich während des Sardinienkrieges nicht auf die Österreichische Seite gestellt hatte und Österreich damit hatte auflaufen lassen.

Da war es natürlich erwartbar, dass Österreich möglicherweise als Retourkutsche, Preußen gern eins ausgewischt hätte.
Es zeigt aber auch, wie sehr Wilhelm I. die Stärke der Nationalbewegung verkannte, wenn er glaubte Österreich könne Preußen bei einem französischen Angriff auf das Bundesgebiet im Stich lassen ohne sich im gesamten Deutschen Bund unmöglich zu machen.
Das hatte ein Bismarck wesentlich besser verstanden.

Kommt hinzu, dass das Projekt der Heeresreform ja bereit seit Afang der 1850er Jahre auf dem Tisch lag, um das durchzuboxen war Bismarck ja später berufen worden.
Damals gab es aber noch keinen Sardinienkrieg und auch der Krimkrieg hatte noch nicht begonnen, der fing erst 1853 an.

Vorgelegt wurde das zwar erst 1860, aber die grundsätzlichen Überlegungen gab es ja vorher.

Das mag Wilhelms Überzeugung der Notwendigkeit bestärkt haben, aber das war nicht die ursprüngliche Intention der Heeresreform oder jeenfalls nicht die Einzige.

Die dürfte eher in der Entwicklung der 1848er Revolution und möglicherweise auch in der Olmützer Punktation zu suchen sein, weil man hier die Erfahrung gemacht hatte mit Österreich an den Rand eines Krieges gekommen zu sein, bei dem man sich im Gegensatz zu einer äußeren Agression auf Wien und den Deutschen Bund nicht verlassen konnte.

Bei diesen Ereignissen ging es aber vor allem um Konfliktfähigkeit nach Innen und gegen Österreich.

Für Monarchisten, die Preußen undbedingt als Vormacht, mindestens in Norddeutschland, wenn nicht Gesamtdeutschland sehen wollten, ein absolut zwingendes Argument.
Für Liberale, die keine Vorherrschaft in Deutschen Bund und damit auch keinen Konflikt mit Österreich anstrebten und daher auf den Bund und seine Strukturen setzen konnten, eher nicht.
 
Zuletzt bearbeitet:
nd ganz offensichtlich hatten die Liberalen den Eindruck, dass man kein größeres Heer bräuchte, ja eben doch, denn sonst hätten sie im preußischen Landtag die Heeresreform ja nicht abgelehnt und es hätte den preußischen Verfassungskonflikt in dieser Form und in der Konsequenz möglicherweis auch einen Kanzler Bismarck nicht gegeben.

Die Liberalen hatten mit den nicht unerheblichen Kosten und der dreijährigen Dienstzeit ihre Probleme. Die Liberalen verfügten auch nicht über die Informationen, über die die Regierung durch ihren diplomatischen Vertreter in Europa verfügte, um die Lage korrekt einschätzen zu können. Im September 1866 stimmten der Preußische Landtag dem Indemnitätsgesetz zu.
 
Und wenn Wilhelm I. einen Angriff Frankreichs auf die Rheingrenze fürchtete, könnte das damit zusammenhängen, dass er der Bundestreue Österreichs nicht traute nachdem Preußen sich während des Sardinienkrieges nicht auf die Österreichische Seite gestellt hatte und Österreich damit hatte auflaufen lassen.

Also ganz so war es nun nicht. Das habe ich oben geschrieben. Österreich wurde zwar massiv provoziert, aber es hatte den Krieg begonnen; von einer Verteidigung konnte also keine Rede sein. Und mitten in den Verhandlungen mit Preußen wurde der Waffenstillstand von Villafranca abgeschlossen.
 
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