Na ja, Tom,
das scheint mir doch eine recht kühne These zu sein.
Die These ist in der Tat etwas kühn. Es besteht überhaupt kein Zweifel, dass Kant zu den wichtigsten und einflussreichsten Philosophen gezählt werden kann.
Die Bedeutung seiner Werke als - bedeutsame - "Ruine" zu bezeichnen, wird dabei durchaus nicht in der Literatur geteilt. So schreibt beispielsweise Dicke zu Kants Werk im allgemeinen und seinem Traktat über den ewigen Frieden im speziellen: "Ihre
Wirkmächtigkeit namentlich im 20. Jahrhundert [von mir hervorgehoben]erklärt sich vor allem aber wohl daraus, dass Kant mit seinem Entwurf einer auf Frieden gerichteten republikanisch-verantwortlichen Politik ihre Sprache gegeben hat." (S. 373)
Die Wirkungen und die Bedeutungen von Geisteswissenschaftlern liegt dabei wohl weniger in der Frage, ob ihr Werk insgesamt noch einer aktuellen Expertise standhält. Hegel wurde im Forum - völlig zu Recht - in Bezug auf seine Aussagen zu "China" massiv kritisiert.
Die Arbeiten von Max Weber dagegen, obwohl bereits ca. 100 Jahre alt zu Asien werden noch heute als Ausgangspunkt für viele Fragestellungen und als Referenz herangezogen.
Noch deutlich wird die Relevanz von "originären Ideen", die mit den Geisteswissenschaftlern verbunden sind, beispielsweise an den gleichzeitig konträren und auch aufeinander bezogenen Arbeiten von Machiavelli und Morus.
In ihren zentralen Werken wird das Spannungsverhältnis zwischen dem Streben des Staates nach "Macht" und dem freiheitlichen Wollen der Menschen thematisiert. Und diese Sicht ist "zeitlos".
Das kann man für eine Vielzahl von Geisteswissenschaftlern fortführen, die als "Gründer" einer modernen Soziologie genannt werden können, wie Simmel, Dürkheim, Marx oder Max Weber. Viele Konzepte bzw. Konstrukte werden noch heute benutzt, um Erklärungen der Welt zu liefern, wie beispielsweise Michael Mann mit seiner "Geschichte der Macht (Sources of social power) sich auf Weber bezieht. Für die anderen ließen sich ähnliche Beispiele leicht finden.
Wir sehen im Bereich der Geisteswissenschaften sicherlich "Zyklen" (Moden), aber keine Paradigmenwechsel (Kuhn), die frühere Arbeiten "entwerten" würden. Sondern eher ein "dialektisches" Verhältnis in einer ansonsten kumulativen Anreicherung bzw. Differenzierung früherer Gedankengebäude.
Und Kant ist sicherlich ein sehr wichtiger Stein im Fundament unserer heutigen modernen Geisteswissenschaft und seine Sicht - und die anderer Geisteswissenschafter - kann noch heutige rekonstruiert werden.
Wie beispielsweise ein Axel Honneth oder Charles Taylor sich aktiv als "Neo-Hegelianer" sich aktiv um eine Erneuerung der Sichtweise von Hegel kümmern, nur um ein Beispiel für die Vitalität der Theorien der großen Philosophen zu benennen. Für Kant fehlt mir die kompetente Übersicht.
Dicke, Klaus (2018): Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795). In: Manfred Brocker (Hg.): Geschichte des politischen Denkens. Ein Handbuch. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Nitschke, Peter (op. 1995): Staatsräson kontra Utopie? Von Thomas Müntzer bis zu Friedrich II. von Preussen. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler.