Was ich jetzt nicht verstanden habe.
Eine der beiden Töchter wuchs dann bei Großmutter mütterlicherseits auf. Wenn aber Irma Eckler "Volljüdin" war, dann muss doch deren Mutter auch Jüdin im Sinne des NS-Staates gewesen sein. Warum kam Irma Eckler ins KZ und deren Mutter nicht?
Hast Du da eine Idee?
Die Geschichte der beiden Kinder ist ein wenig kompliziert.
Zur Familiengeschichte, stark verkürzt. Irma Eckler kam am 12. Juni 1913 in Hamburg zur Welt. Sie hatte noch zwei ältere Schwestern. Die Eltern hiessen Arthur und Friederike Eckler und gehörten laut Abstammung zu den sephardischen Juden, die sich im laufe des 15. Jahrhunderts unter anderem in Hamburg niederliessen. Am 28.4.1931 liess sich die Mutter zusammen mit ihren Töchtern evangelisch taufen. Im Dezember 1931 liessen sich die Eltern scheiden und die Mutter heiratete am 22. März 1932 Ernst Graumann. Wann und wo Irma Eckler August Landmesser kennenlernte ist nicht bekannt. Auf jeden Fall wollten die beiden im August 1935 heiraten, dies wurde ihnen verwehrt, weil Irma eine Jüdin war. Dies, obwohl das «Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und er deutschen Ehre» erst am 15.9.1935 in Kraft trat.
Am 29.10.1935 kam dann ihr erstes gemeinsame Kind Ingrid zur Welt. Da das Kind ausserehelich geboren wurde, musste August Landmesser die Vaterschaft anerkennen, was er auch tat.
1937 erwartete Irma Eckler ihr zweites Kind und im Juli 1937 wurde dann gegen August Landmesser ein Strafverfahren wegen Rassenschande eingeleitet. Am 6. August 1937 kam dann Irene zur Welt und am 15. September 1937 kam der Vater in Untersuchungshaft. Nach zehn Monaten Untersuchungshaft wurde er wegen Mangel an Beweisen freigesprochen. August Landmesser behauptete, dass er nicht wusste das Irma Eckler eine «Volljüdin» sei, er habe angenommen sie sei eine «Halbjüdin». Nach seiner Entlassung ging er zu Irma Ecker und den Kindern zurück. Am 15. Juli 1938 wurde er dann erneut verhaftet. Und drei Tage später kam die Gestapo und holte Irma Eckler ab. Irma kam bis zum 29. Juli 1938 ins Polizeigefängnis Fuhlsbüttel und danach bis zum 23. Oktober in die Frauenabteilung des Untersuchungsgefängnisse Hamburg-Stadt. Die beiden Kinder Ingrid und Irene wurden ins städtische Waisenhaus gebracht. 1938 wurden Kinder noch nicht mit den Müttern deportiert, deshalb kamen sie vorerst in das Waisenhaus. Die Grossmutter versuchte die Kinder aus dem Waisenhaus zu holen, da sie aber eine Jüdin war, durfte sie das Waisenhaus nicht betreten und die Kinder wurden ihr nicht herausgegeben. Erst ihr Ehemann der Arier war konnte erreichen, dass wenigsten eines der Kinder zu ihnen kommen konnte. Das war Ingrid, Irene musste im Waisenhaus bleiben. Ich bleibe jetzt zunächst beim Schicksal der Kinder und komme danach zu dem Schicksal von Irma und August.
Ingrid kam nun zu ihrer Grossmutter und deren «arischen» Ehemann und erlebte eine mehr oder weniger gute Kindheit. Ihre Schwester Irene kam bis im März 1939 in ein jüdisches Waisenhaus, danach wurde sie jüdischen Pflegeeltern übergeben. Das einjährige Kind war von grossen Narben überseht, es leidet (bis ins Erwachsenenalter hinein), an den Verletzungen körperlicher und seelischer Art, die dem Kind im Waisenhaus zugefügt wurden.
Die Vormundschaft für beide Kinde oblag bis im Mai 1940 dem Jugendamt Hamburg. Danach übernahm der jüdische Landgerichtsrat a.D. Dr. Gerson die Vormundschaft und er versuchte nun die Kinder, allen voran Irene zu retten. Denn laut den «NS-Rassengesetzen» war Irene «Volljüdin» und ihre Schwester Ingrid «Mischling I. Grades». Warum dies. Der Vater hatte nur die Vaterschaft der ersten Tochter anerkannt, die Vaterschaft der zweiten Tochter nicht und da Ingrid vor dem 31. Juli 1936 geboren war galt das Gesetz für sie nicht, ihre Schwester, die nach dem 31. Juli geboren war, galt nach den Rassengesetzen als «Volljüdin». Dr. Gerson versuchte nun das Unmögliche beide Kinder vor dem NS-Gesetz als Mischling anzuerkennen lassen. Dazu brauchte er die Vaterschaftsanerkennung von August Landmesser und er musste der Mutter das Sorgerecht entziehen lassen. Dann wollte er Irene taufen lassen, dank seinen Beziehungen wurde sie am 1. Sep. 1940 getauft. Ihre ältere Schwester wurde schon kurz nach ihrer Geburt getauft. August Landmesser erkannte am 31.3.1941 die Vaterschaft an. Nun gab es ein hin und her mit der Vormundschaftsbehörde mit dem Ergebnis, dass die Anerkennung für Irene abgelehnt wurde.
Die Kinder blieben weiterhin getrennt. Sie lernten sich zum ersten mal 1945 bei einem Treffen der Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetzte Betroffenen. Ingrid wohne noch immer bei der Grossmutter und einmal im Jahr kam Irene zum Geburtstag vorbei, sie lebte nach wie vor bei ihrer letzten Pflegefamilie. 1951 bekamen dann die beiden Kinder den Nachnamen des Vaters. Irene war mit der Namensänderung nicht einverstanden, weil die Eltern ja nie geheiratet hatten, sie wollte lieber Eckler heissen.
Das Schicksal von Irma Eckler. Von der Frauenabteilung wurde sie in die Frauenschutzhaftlager Lichtenburg gebracht und am 15. Mai 1939 ins KZ Ravensbrück deportiert. Von Ravensbrück aus schrieb sie bis 1942 regelmässig Briefe an ihre Mutter Frieda. Ingrid übergab die Briefe 1990 ihrer Schwester Irene. Der letzte Brief der Mutter ist auf den Januar 1942 datiert. Die nächste Nachricht war dann die Mitteilung vom Tod der Mutter. Sie starb am 28.4.1942 nicht in Ravensbrück wie auf dem Schein aufgeführt, sondern einer der «Euthanasie»-Anstalt in Bernburg. Irma Eckler wurde im Rahmen der sogenannten «Sonderbehandlung 14 f 13» in Bernburg durch Gas ermordet.
Der Vater August Landmesser wurde im Februar 1944 eingezogen und kam in das Bewährungsbataillon 999an die Front. Die Familie bekam ein Schreiben von der Dienststelle, dass er seit dem 17.10.1944 an der dalmatinischen Küste vermisst werde.
Quelle der Zusammenstellung:
Eckler, Irene: Die Vormundschaftsakte 1935 – 1958. Verfolgung einer Familie wegen «Rassenschande» Dokumente und Berichte aus Hamburg. Horneburg Verlag 1996. 178 Seiten.
Es ist kein wissenschaftliches Buch, hat aber sehr viele Dokumente der Vormundschafsbehörde abgebildet, diese geben einen Einblick in die NS-Justiz und NS-Verwaltung.