Die "bite and hold" Taktik von Henry Rawlinson, wirklich einizgartig?

In der Welt ist ein Artikel über die "bite and hold" Taktik von Henry Rawlinson erschienen.
Sie war eine Antwort auf die desaströse Taktik von General Haig.
Henry Rawlinson: Er sorgte 1918 für den „schwarzen Tag“ der deutschen Armee - WELT

Nur ist diese Taktik wirklich einzigartig, oder hatten die Russen (Brussilow) und die Deutschen (von Hutier) nicht ähnliche Taktiken angewendet?

So ganz hat mich der Artikel der "Welt" nicht überzeugt. Ich neige auch eher dazu, den Erfolg der Alliierten im August 1918 weniger auf brillante innovative Taktiken zurückzuführen, als auf die Erschöpfung der Mittelmächte und die Demoralisierung nach den gescheiterten Offensiven zurückzuführen.

Die Erfolge der Taktiken von Georg Bruchmüller und Oskar von Hutier waren spektakulär. Noch ein letztes Mal gelang ein spektakulärer Durchbruch, die Deutschen erreichten, vor allem bei der ersten und der dritten Offensive 1918, spektakulär. Es gelang ein Vormarsch von gut 60 km.

Noch ein letztes Mal zeigten die deutschen Armeen jene fatale begrenzte Schlagkraft. Es wurde ein Durchbruch, ein Sieg erreicht- der Sieg war aber nicht ausreichend, um schließlich einen Siegfrieden erzwingen zu können. Die Zeit arbeitete gegen die Mittelmächte. Deutschlands Verbündete waren im Grunde allesamt stehend k. o.

Die Kaiserschlacht, die letzte Offensive war auch die letzte (geringe) Chance, noch eine Entscheidung herbeizuführen, bevor die USA ihre Schlagkraft für die Alliierten in die Waagschale werfen konnten.

Es zeigte sich, dass ein Durchbruch, so spektakulär er auch sein mochte, nicht ausreichte, um eine militärische Entscheidung zu erzwingen. Es genügte nicht, die Front zu durchbrechen, es wurden frische Reserven benötigt, um einen Durchbruch auch ausnutzen zu können. Es fehlte an Mobilität, schnell genug frische Reserven nachzuschieben, um den Durchbruch zu erweitern, den Gegner zu verfolgen.

Auch das Deutsche Reich pfiff auf dem letzten Loch. An der Westfront waren die deutschen Divisionen zum ersten Mal zahlenmäßig überlegen an der Westfront. Das konnte aber kaum die materielle Überlegenheit der Alliierten ausgleichen. Es fehlte an allem: an Benzin, an Ersatzteilen, an Lebensmitteln. Jahrelang hatte man immer wieder den Soldaten und Zivilisten versichert, dass die nächste Offensive endgültig die letzte sein werde. So spektakulär Unternehmen Michael auch sein mochte- es war im Grunde ein Pyrrhus-Sieg. Bei den folgenden Offensiven in Flandern und an der Marne waren die Geländegewinne weit geringer, es zeigte sich, dass Briten und Franzosen sich besser auf die Taktiken einzustellen wussten. Nur bei der dritten Offensive in der Champagne konnten die Deutschen- auch durch veraltete Maßnahmen der französischen Kommandeure in der Champagne an den Erfolg von Unternehmen Michael anknüpfen. Danach zeichnete sich immer deutlicher ab, dass Deutschland nicht mehr gewinnen konnte- und das blieb nicht ohne Folgen auf die Motivation der deutschen Truppen. Wofür sollte man das Leben weiter riskieren. Wofür weiterhin all die unglaublichen Zumutungen ertragen, denen die Soldaten seit vier Jahren ausgesetzt waren? Menschen wie Material waren erschöpft. Was man der Truppe seit Jahren zugemutet hatte, ging im Grunde weit, weit über das hinaus, was man vernünftigerweise hätte erwarten können.

Deutschland hatte zu lange Krieg geführt. Wie Sun Tzu geschrieben hätte, war Deutschlands Stärke ermattet, sein (Kriegs-)Schatz verbraucht, seine Kriegswaffen stumpf geworden und die Begeisterung seiner Soldaten gedämpft.
Erschöpfung, Überforderung, Demoralisierung trugen viel mehr zur Entscheidung bei, als brillante Taktiken.

Rawlinsons "Bite and hold-Taktik", Brussilows Infiltrationstaktik und auch die Innovationen von Oskar von Hutier und Georg Bruchmüller waren im Grunde Aktionen und Reaktionen auf Besonderheiten und Gesetze des Grabenkrieges.

Bis zum Ende der Sommeschlacht galt die Divise: "Artillerie erobert und Infanterie besetzt." Wenn es- wie in den meisten Fällen in die Hose ging, zog man daraus den Schluss, dass die Artilleriefeuerkraft eben zu gering war. Für eine erfolgreiche Offensive ging man davon aus, dass eine deutliche Überlegenheit an Ari und Infanterie nötig war.

Brussilows Erfolg bei Luck 1916 war eigentlich aus einer Improvisation geboren. Brussilow verfügte nach eigener Meinung über viel zu wenig Artillerie. Der Angriff in Wolhynien war eigentlich als Entlastungs- und Scheinangriff geplant. Wegen Versagen der Führung wurde ein riesiger Durchbruch erzielt, den weder Angreifer noch Verteidiger erwartet hatten. Rawlinson erkannte, dass es nicht damit getan war, die feindlichen Stellungen zu durchbrechen und dass dafür frische Reserven nötig waren, um Gegenangriffe auffangen zu können.

Es wurde die Feuerwalze entwickelt und das Zusammenspiel von Ari und Infanterie verbessert. Bei den Deutschen ging man dazu über, die Verteidigung stärker in die Tiefe zu staffeln. Während der Somme-Offensive zeigte sich, dass die Deutschen die erste Linie viel zu stark besetzten was zu größeren Verlusten führte. Aufgegebenes, verschlammtes, zerpflügtes Gelände hatte im Grunde kaum strategischen oder taktischen Wert. Viele Kommandeure legten aber viel zu viel Wert darauf, verlorenes Terrain sofort zurückerobern zu wollen, was die Verluste in die Höhe trieb. Waren Ari und Infanterie gut aufeinander eingespielt, gelang es oft, einen gegnerischen Graben aufzurollen, bevor die Verteidiger aus ihren Unterständen kriechen und den Graben besetzen konnten. Grabenbesatzungen konnten dann leicht mit Handgranaten oder Flammenwerfern getötet werden. Ludendorff befahl daraufhin alle tiefen Bunker zu sprengen und neue Unterstände anzulegen.

Rawlinsons "Bite and hold"- Taktik zog die Konsequenzen aus den Erfahrungen beim 1. Tag der Somme-Offensive, als die Briten enorme Verluste erlitten. Es wurde die Zusammenarbeit der Waffengattungen verbessert. Rawlinsons "Bite and hold"-Taktik war 1918 auch längst keine Innovation mehr, sondern bereits zwei Jahre alt. Rawlinsons Taktik war auch alles andere als genial- es war eine Taktik basierend auf Beobachtungen und Erfahrungen des Grabenkriegs- mehr aber auch nicht. Die "Bite and hold"-Taktik nicht zum spektakulären Erfolg und Durchbruch geführt. Was man erreichte, waren Teilerfolge, um die Offensive wenigstens unter Wahrung des Gesichts abbrechen zu können. Auf ca. 50 km Breite waren Briten und Franzosen in fünf Monaten maximal 15 km tief in das deutsche Stellungssystem eingedrungen, ohne die geringste Chance, diese Erfolge operativ für eine Entscheidung des Krieges ausnutzen zu können. Die Somme-Offensive führte zu mehr als 1 Millionen Verlusten. Etwa 400.000 Mann Verluste kostete es die Briten, die Franzosen 200.000 und die Deutschen ca. 400-450.000 Verluste. Der Krieg ging weiter- ein Zermürbungs- und Ermattungs-Krieg.

Der Tenor in dem Artikel der Welt suggeriert, dass letztlich ein brillanter Schachzug-Rawlinsons Bite and hold-Taktik- den Krieg entschieden habe. Meiner Meinung erinnert aber das Ende des 1. Weltkriegs eher an eine Partie Poker, als an Schach. Eine Runde Texas hold em, bei der am Ende der Spieler gewinnt, der mehr Chips hat.

Rawlinsons Methode war 1918 durchaus nicht mehr neu. Die Bite and hold-Taktik wurde an der Somme, bei Arras und in Flandern angewendet. Aktion und Reaktion hielten sich die Waage. Alle Offensiven der Alliierten konnten die deutschen Armeen aber 1917 abwehren. Im August 1918 war der Krieg entschieden. Was die Entscheidung herbeiführte war aber kein genialer Schachzug- eher eine Pokerpartie, die endete, weil einem Spieler die Chips ausgingen.
 
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