Sollten Nazi-Verbrecher heute noch verurteilt werden??

Befehlsnotstand

Maßgeblich ist immer noch BGH von 1963:
Wer sich auf Nötigungsstand beruft, ist nur entschuldigt, wenn er sich nach allen Kräften gewissenhaft bemüht hat, der Gefahr oder vermeintlichen Gefahr auf eine die Straftat vermeidende Weise zu entgehen, ohne einen Ausweg zu finden. Je schwerer die abgenötigte Straftat ist (hier: Beihilfe zu vielen Morden an KZ-Häftlingen), um so strengere Anforderungen sind an diese Prüfung zu stellen. Der Genötigte oder vermeintlich Genötigte muß alle seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten eingesetzt haben.

Grundsätzlich gelten die allgemeinen Notstandsvorschriften auch im Fall schwerer Kriegsverbrechen. Allerdings ist die Nachweisgrenze für eigene Gefahr an Leib und Leben dann auch entsprechend höher, oder irgendwann unmöglich, wegen Humanitätsschranke bei schwersten Verbrechen.
Zahlreiche Urteile haben den Nachweis von Befehlsnotstand bislang nicht geführt gesehen. Wie Vernehmungen und Abhörvorgänge von Soldaten zeigten, war der Gruppen- und Sozialdruck (wie sehen das die Kameraden) auch regelmäßig wichtiger als die später behauptete Nötigungslage und eine Bedrohung an Leib und Leben.
 
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...auf mich wirkt das Urteil sonderbar:
Wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10.500 Fällen hat das Landgericht Itzehoe die ehemalige Sekretärin zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.
das Nebeneinander von in mehr als 10500 Fällen zum Straftatbestand Beihilfe zum Mord mit dem Urteil zwei Jahre auf Bewährung lässt sich kaum vernünftig vermitteln, es wirkt sonderbar, kurios, ja absurd irgendwie (wobei mir schon bekannt ist, dass "die Denke" der Juristerei manchmal recht winkelige Pfade geht)
Ob das ein irgendwie "politisches" oder gar "pädagogisches" Urteil ist?
 
Wenn ich das richtig verstanden habe hat sie die vollzogenen Morde in Listen eingetragen. (Der Link funktioniert bei mir allerdings nicht.)

Wenn das so stimmt, ist die Verurteilung ein Skandal. Solche Listen sind ja nun in keinster Weise notwendig dafür.
 
Wenn das so stimmt, ist die Verurteilung ein Skandal. Solche Listen sind ja nun in keinster Weise notwendig dafür.

Nach meinem Verständnis der Berichterstattung über den Prozess war sie lediglich Sekretärin, hat aber in ihrer Tätigkeit zum Funktionieren des Konzentrationslagers beigetragen.

Ich kenne bisher auch nur die Presseberichte über die Verurteilung, aber ich vermute, dass auch irgendwann das Urteil veröffentlicht wird, so dass man in der Begründung nachlesen kann, wie die Richter argumentieren.
 
Na, ich bin gespannt auf die Urteilsbegründung.
Und darauf was "lediglich Sekretärin" in diesem Zusammenhang bedeutet.
Die Sekretärin trifft normalerweise gar keine eigenen Entscheidungen.
Doch, eine gute Sekretärin macht das. Und würden wir von einem männlichen Sekretär reden, schiene uns das einleuchtender.
So ähnlich kommt mir das auch vor. Nachdem jahrzehntelang in Deutschland (und auch Österreich) die Verfolgung von NS-Verbrechern recht halbherzig (oder auch gar nicht) betrieben wurde, versucht man jetzt, nachdem die echten Schwergewichte weggestorben sind, anscheinend die Versäumnisse der Vergangenheit "gut zu machen", indem man die letzten noch lebenden Personen, bei denen man wenigstens irgendeine Verbindung zu Verbrechen herstellen kann, vor Gericht stellt.
So kommt mir das auch vor.
Doch folgt ja das Recht, sofern ideal verwirklicht, dem Algorithmus der Gesetze.

Und weil ich mir auch das nicht ganz verkneifen kann, frage ich nach den Bewährungsauflagen. Die 97-jährige darf sich im Bewährungszeitraum nicht wieder an einem Völkermord beteiligen, und auch nicht wieder vor der Polizei flüchten?
 
..., aber ich vermute, dass auch irgendwann das Urteil veröffentlicht wird, so dass man in der Begründung nachlesen kann, wie die Richter argumentieren.

Sicher, nur bisher werden immer nur diese Listen genannt. Da müssen sich die Medien so eine Bemerkung gefallen lassen. Und bei dem Strafmaß und der Fallzahl kann es auch im Jugendstrafrecht nur eine sehr geringe Beihilfe gewesen sein.
 
Einige der Nebenkläger hätten sich gewünscht, dass die Strafe ohne Bewährung gewesen wäre; der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees drückte die Hoffnung aus, dass Irmgard F. auf eine konstruktivere Art und Weise noch Sühne leistete, nämlich indem sie sich etwa in der Antisemitismusbekämpfung engagiere, er sprach von zwei geschenkten Jahren.
 
Der Nebenkläger hat es dann auch auf den Punkt gebracht:
„Die im 98. Lebensjahr stehende Angeklagte hat ihre gerichtliche Schuldigsprechung wegen Beihilfe zum mehrtausendfachen Mord erhalten. Mehr kann staatliches Strafrecht inhaltlich nicht leisten“

(zu ergänzen: … zu diesem späten Zeitpunkt).

Für dieses Gericht darf auch keine Rolle spielen, in welchem Ausmaß die Justiz früher bei der Strafverfolgung versagt hat. Es berücksichtigt im Beihilfe-Tatbestand auch, dass die großen NS-Verbrecher ohne die hundertfachen „Handlanger“ und überzeugten Schreibtischtäter nicht (in dem Ausmaß) möglich waren.
 
Bei der Anklage und Verurteilung der 97-Jährigen handelt es sich m.E. um einen symbolischen Akt. Es soll gezeigt werden, dass selbst 77 Jahre nach dem Ende der Verbrechen im Dritten Reich eine Strafverfolgung möglich ist. Man könnte daran denken, eine so alte Person in Ruhe dem Ende entgegen gehen zu lassen, zumal sie nicht Täterin, sondern "nur" Gehilfin war. Auf der anderen Seite soll vor allem in Richtung Zukunft gezeigt werden, dass die Justiz trotz aller Versäumnisse nach Kriegsende in der Lage ist, diese Verbrechen zu ahnden und wenn es Jahrzehnte nach Begehung der Taten ist.
 
War das Strafmaß nicht nach dem Jugendstrafrecht gefällt worden?
Oder hatte ich mich da verhört?
Im übrigen stimme ich da Heine zu, ein Zeichen, das nichts vergessen wird, auch in dem Alter nicht.
 
Der ehemalige SS-Mann Karl M. hat vor einigen Jahren Panorama ein Interview gegeben:

Interview mit NS-Verbrecher: "Ich bereue nichts!" | Panorama | NDR

2015 wurde auch gegen den in Frankreich 1949 zu Tode verurteilten Kriegsverbrecher ermittelt. Laut Aussage der Justiz wäre er auch wegen Beihilfe zum 86-fachen Mord angeklagt worden. Allerdings war er wegen dieses Vebrechens bereits rechtskräftig verurteilt (in FRankreich). Auslieferung war offenbar nicht möglich. Man könnte wohl den Fall in Frankreich neu aufrollen, das Verbrechen ist allerdings in Frankreich verjährt, so kann er auch in Deutschland, wo Mord nicht verjährt, nicht verfolgt werden.

Ganz interssantes Video. Auf Youtube.

EDIT:

Auch das FUNK-Magazin STRG-F ist dem Thema nachgegangen. Sehr interssant sind die Reaktionen im Ort von Karl M. (Lasst ihn in Ruhe, so lange her, ...)

SS-Mann Karl M. – Soll man ihn in Ruhe lassen?
 
Zuletzt bearbeitet:
Der ehemalige SS-Mann Karl M. hat vor einigen Jahren Panorama ein Interview gegeben:

Interview mit NS-Verbrecher: "Ich bereue nichts!" | Panorama | NDR

hier der Link zum Interview auf der Homepage des NDR:

Karl M.: Anklage gegen früheren SS-Mann .

Hier noch zu den Gründen, warum wegen des Massakers von Ascq gegen Karl Münter kein Verfahren eingeleitet werden konnte:

Das Verfahren wurde im März 2018 eingestellt, da eine erneute Verurteilung aufgrund des französischen Todesurteils nach dem Rechtsgrundsatz, jemanden nicht zweimal in derselben Sache zu verurteilen (Ne bis in idem), nicht mehr möglich war.​

Massaker von Ascq – Wikipedia

Im September 2019 ist Karl Münter verstorben.
 
SS-Mann Karl M. – Soll man ihn in Ruhe lassen?

Naja, wenn er selbst von sich aus Interviews solchen Inhalts von sich gibt, sehe ich wenig Anlass die Forderung zu erheben, den Mann in Ruhe zu lassen.
Skurrile Situation, die wahrscheinlich dazu führt, dass man da mit den Instrumenten der Justiz nicht mehr viel wird tun können, es sei denn man findet irgendwo noch den Nachweis für Taten, die seinerzeit der französischen Justiz entgangen sind, was eher unwahrscheinlich erscheint.

Edit: gar nicht mitbekommen, dass der Mann bereits verstorben ist, damit eerübrigt sich die Antwort natürlich im Wesentlichen.
 
hier der Link zum Interview auf der Homepage des NDR:

Karl M.: Anklage gegen früheren SS-Mann .

Hier noch zu den Gründen, warum wegen des Massakers von Ascq gegen Karl Münter kein Verfahren eingeleitet werden konnte:

Das Verfahren wurde im März 2018 eingestellt, da eine erneute Verurteilung aufgrund des französischen Todesurteils nach dem Rechtsgrundsatz, jemanden nicht zweimal in derselben Sache zu verurteilen (Ne bis in idem), nicht mehr möglich war.​

Massaker von Ascq – Wikipedia

Im September 2019 ist Karl Münter verstorben.

Das Detail, das ich am interessantesten fand, war, dass eine Auslieferung offenbar zur Zeit der französischen Verurteilung nicht in Frage kam. Er war in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Eine Auslieferung aus Deutschland wurde gar nicht erst beantragt.

Mag das am Todesurteil gelegen haben? Wäre Münter ausgeliefert worden, wenn er zu einer hohen Gefängnisstrafe verurteilt worden wäre?
 
Meines Wissens gab es die Regelung in der nachkriegszeit, das Kriegsverbrechen in den Staaten gerichtlich verhandelt werden sollten, in denen sie begangen wurden. Da gab es auch Auslieferungen an die entsprechenden Länder. Irgendwann in den 50er Jahren mit der Wiedererlangung der Souveränität der Bundesrepublik wurde diese Regel außer Kraft gesetzt, da Deutschland keine eigenen Staatsbürger an ausländische Staaten ausliefert. Das ist kein deutsches Spezifikum, sondern wird international auch so gehandhabt. Gleichzeitig wurden diese Daten aber in Deutschland auch nicht weiter gerichtlich aufgeklärt, da diese ja eigentlich in den Ländern, in denen sie begangen wurden, gerichtlich verfolgt werden sollten. Laut dem französischen Artikel in der Wikipedia fand der Prozess 1949 statt, also noch in dem Zeitraum, in dem meines Wissens die Alliierten noch aus Deutschland Deutsche an ausländische Staaten ausgeliefert haben. Warum Karl Münte nicht ausgeliefert wurde, ist mir aber nicht bekannt.
 
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