War das Mittelalter ein Rückschritt?

Die Historiker Matthew Gabriele (lehrt an der Virginia Tech) und David M. Perry (lehrte an einem College, arbeitet heute als Journalist) haben ein Buch herausgebracht, in dessen Titel sie mit dem Klischee des MAs als „dunklem Zeitalter“, also der Idee des MAs als „Rückschritt“, spielen und dies in sein Gegenteil verkehren. (Ich kenne bisher nur den Titel, kann mich also zu Inhalt und Qualität nicht weiter äußern):

The Bright Ages: A New History of Medieval Europe. NY 2021.

Ein leider nicht mehr aktiver Forianer, @timotheus, hat vor Jahren in einem anderen Thread das Schlagwort vom "finsteren Mittelalter" ironisch aufgegriffen im Zusammenhang mit Beleuchtungsinstrumenten. Leider habe ich trotz ausgiebiger Suche den Beitrag nicht mehr finden können.
 
. ...und wie Sie bereits aufgelistet haben auch kaum etwas erfunden wurde.

Wind- und Wassermühlen, der Kompass, der Jakobstab, das Schießpulver, die Kummet-Anspannung, der Buchdruck, Sehhilfen/ Brille, der Räderpflug, das Spinnrad, die Dreifelder-Wirtschaft, der Tritt-Webstuhl, die Kogge, die Karavelle u.v.a.

In der Montanindustrie wurden durchaus beeindruckende Fortschritte erzielt, in der Technik, abgesoffene Stollen oder Minen zu entwässern.
 
Derzeit lese ich 'Warfare in Medieval Europe c.400-c.1453' von David S. und Bernard S. Bachrach, beides Mediävisten und Spezialisten für das Frühmittelalter. Ich werde das Buch bald ausführlich rezensieren und kann es bereits allgemein empfehlen, da es einen weit über den Titel hinausgehenden Themenkreis abdeckt.

Die Autoren begreifen die Fähigkeit zur Kriegsführung nämlich vor allem als Mittel der Herrschaftslegitimation und erläutern daher detailliert die intellektuellen, wirtschaftlichen und auch administrativen Grundlagen, die ein solch teures und administrativ komplexes Unterfangen wie einen Krieg überhaupt möglich machten.

Dabei zerlegen sie unter anderem die Hypothese von den "Dark Ages", und zeigen auch die Angreifbarkeit des Begriffs der "karolingischen Renaissance", bzw. des Konzepts der mittelalterlichen Renaissancen insgesamt.

Sie zeigen, dass zwischen Spätantike und Frühmittelalter weniger Bruchlinien existieren, als gemeinhin angenommen, und dass Goten, Franken und Lombarden – oder später die Karolinger – nicht nur römische Gesetze und Praktiken, sondern auch die aus imperialer Zeit überkommene Infrastruktur (wie Festungen, Sakralbauten und Straßen) vielfach übernahmen, verbesserten und auf ebenbürtige Weise ergänzten.

Sie zeigen ferner, dass keineswegs alles römische Wissen mühsam neu entdeckt und erschlossen werden musste, sondern dass Werke wie 'De architectura' von Vitruv, Frontinus' 'Strategemata', die 'Epitoma rei militari' von Vegetius oder auch Fragmente von Euklid in den Nachfolgestaaten Westroms bekannt waren.

Umso mehr ich in diesem Buch lese und mich durch seine Quellen arbeite, umso überzeugter bin ich, dass man mit Bezug auf das Mittelalter äußerstenfalls von zeitweiliger Stagnation sprechen kann, kaum aber von einem Rückschritt – und keinesfalls von einem katastrophalen zivilisatorischen Zusammenbruch.

Auch darauf, wie negative Urteile über das Mittelalter häufig zustande kamen, gehen die Autoren ausführlich ein. So wird etwa anhand des folgenden Beispiels gezeigt, wie eine Mediävistik, die nicht verschriftlichte Quellen (z.B. archäologische Ausgrabungen) lange vernachlässigte, zu verzerrten Ergebnissen gelangt:

So seien in Franken mehr als 250 Festungen und Wehrbauten aus der Zeit von 700-1000 n. Chr. nachgewiesen, von denen bloß 30 in überlieferten Schriftstücken aus dem fraglichen Zeitraum Erwähnung finden.

Bedenkt man nun, dass der Festungsbau enorme Ressourcen verschlingt und einen Verwaltungsapparat zu seiner Organisation erfordert, lassen die schriftlichen Quellen also mehr als 80% der wirtschaftlichen, administrativen und personellen Leistungsfähigkeit des lokalen Staats- und Gemeinwesens im Dunklen.

Als wäre das noch nicht genug, seien jene 30 bekannten Festungen schier willkürlich verteilt, wohingegen die archäologischen Quellen mit ihrem vollständigeren Bild ein planvolles und fortschrittliches System erkennen ließen, das eine Verteidigung in der Tiefe des Raumes bei geringem Personaleinsatz erlaubt.

Auch hier "verheimlichen" die schriftlichen Quellen also die Expertise der Entscheidungsträger.
 
Zuletzt bearbeitet:
So seien in Franken mehr als 250 Festungen und Wehrbauten aus der Zeit von 700-1000 n. Chr. nachgewiesen, von denen bloß 30 in überlieferten Schriftstücken aus dem fraglichen Zeitraum Erwähnung finden.
Das ist sicherlich regional unterschiedlich, z.B. im frühmittelalterlichen England (Krieg gegen das "heidnische Heer") ist das Festungsbauprogramm König Alfreds recht gut dokumentiert. Das ist kein Gegenargument zur summarischen Darstellung im von dir empfohlenen Buch.
 
Das ist sicherlich regional unterschiedlich, z.B. im frühmittelalterlichen England (Krieg gegen das "heidnische Heer") ist das Festungsbauprogramm König Alfreds recht gut dokumentiert. Das ist kein Gegenargument zur summarischen Darstellung im von dir empfohlenen Buch.
Auf Wessex wird auch Bezug genommen, allerdings scheint hier die archäologische Erschließung früher eingesetzt zu haben, außerdem sei aufgrund des höheren Maßes an politischer Kontinuität und, umgekehrt, der geringeren Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg die Quellenlage insgesamt besser.
Gibt es im Buch eine Auflistung dieser Bauten bzw. wird auf eine Veröffentlichung hingewiesen, die diese Bauten auflistet?
So weit habe ich mich durch das Quellenverzeichnis noch nicht gewühlt, tut mir leid.

Zur Erklärung: Das Buch will nach Auskunft der Autoren weniger Lehrbuch sein, als vielmehr Studienanfängern und Experten anderer Disziplinen einen leicht verdaulichen Einstieg in die Thematik anbieten. Nur was die Autoren für strittig halten, ist durch Fußnoten unmittelbar belegt. Ansonsten hat jedes Kapitel ein nach Themen sortiertes und dem Text chronologisch folgendes Quellenverzeichnis zur weiteren Lektüre.
 
So weit habe ich mich durch das Quellenverzeichnis noch nicht gewühlt, tut mir leid.
Die 250 Festungen und Wehrbauten waren ja sicherlich nicht gleichzeitig belegt, geschweige denn, dass sie in einem Zug errichtet worden sind.
Wenn man ein planvolles Vorgehen (über das es keine schriftliche Quellen gibt) wahrscheinlich machen will, bedarf es deutlich mehr, als in Festungen, die im Zeitraum von 300 Jahren von verschiedenen Bauherren errichtet wurden, ein System hineinzuinterpretieren.

Oder gibt es im Buch eine konkretere, gut fundierte Beweisführung?
 
Die 250 Festungen und Wehrbauten waren ja sicherlich nicht gleichzeitig belegt, geschweige denn, dass sie in einem Zug errichtet worden sind.
Wenn man ein planvolles Vorgehen (über das es keine schriftliche Quellen gibt) wahrscheinlich machen will, bedarf es deutlich mehr, als in Festungen, die im Zeitraum von 300 Jahren von verschiedenen Bauherren errichtet wurden, ein System hineinzuinterpretieren.
Du beantwortest Deine Frage zum Teil selbst, bei einem Zeitraum von 300 Jahren wäre ein monolithisches Bauprogramm schon aufgrund der dynastischen und politischen Umbrüche nahezu ausgeschlossen.

Gleichwohl genügt nach Meinung der Autoren bereits die geographische Lage der Verteidigungswerke, um ein planvolles Vorgehen zu konstatieren. Warum hätten auch verschiedene Auftraggeber nicht in der Lage sein sollen, den konkreten Nutzen bestehender Bauwerke zu erkennen, und wie diese sinnvoll zu ergänzen wären?
Oder gibt es im Buch eine konkretere, gut fundierte Beweisführung?
Die gibt es, meines Erachtens nach.

Das fragliche Kapitel zielt darauf, anhand von zahlreichen Beispielen wie eben den Festungen in Nordbayern zu zeigen, wie die von Rom überkommene Infrastruktur bzw. Infrastruktur-Doktrin von den Nachfolgestaaten weiter verwendet, überarbeitet und ergänzt wurde, auch über die alten imperialen Grenzen hinaus.

Diskutiert werden ferner u.a. Offa's Dyke, die Eroberung und Neugründung befestigter Ortschaften in der frühen Reconquista, die von Heinrich I. zwischen Unstrut und Elster zwischen 929 und 936 angelegten Befestigungen, aber z.B. auch die von Sorben, Obotriten und Mährern angelegten Befestigungen.

Dazu ins Feld geführt werden erstens Belege für das Vorhandensein des nötigen Wissens, zweitens für die administrative und wirtschaftliche Befähigung zu umfangreichen und langfristigen Projekten, wodurch die optimistische Deutung der, drittens, entstandenen Topographie gerechtfertigt werde.
 
Gleichwohl genügt nach Meinung der Autoren bereits die geographische Lage der Verteidigungswerke, um ein planvolles Vorgehen zu konstatieren.
Im Einzelfall schon, bei Festungen, die im Lauf von 300 Jahren angelegt (und möglicherweise auch wieder aufgegeben wurden) jedoch nicht.

Warum hätten auch verschiedene Auftraggeber nicht in der Lage sein sollen, den konkreten Nutzen bestehender Bauwerke zu erkennen, und wie diese sinnvoll zu ergänzen wären?

Nehmen wir mal an, Karl der Große, der über dreißig Jahre lang Krieg gegen die Sachsen führte, hätte im fränkisch-sächsischen Grenzgebiet eine Kette von Burgen angelegt. Welcher konkrete Nutzen hätte seine Nachfolger dazu veranlassen sollen, diese Burgen allesamt instandzuhalten und mit Besatzungen zu versehen?

Wenn man nun feststellen kann, dass bestimmte karolinigsche Burgen zur Zeit der Sachsenkriege angelegt waren und diese geographisch eine sinnvolle Kette gegen den sächsischen Gegner bilden, dann halte ich es für plausibel, Karl dem Großen hier ein planvolles Vorgehen zu unterstellen.

250 Festungen aus einem Zeitraum von 300 Jahren in einen Sack zu packen und daraus ein planvolles Vorgehen abzuleiten, leuchtet mir nicht ein.
 
Im Einzelfall schon, bei Festungen, die im Lauf von 300 Jahren angelegt (und möglicherweise auch wieder aufgegeben wurden) jedoch nicht.
Dann muss ich mich ungenau ausgedrückt haben, denn den Eindruck zu erzeugen, dass die Autoren behauptet hätten, diese Festungen wären allesamt gleichzeitig bemannt und unterhalten worden, wollte ich gar nicht.
 
Dann muss ich mich ungenau ausgedrückt haben, denn den Eindruck zu erzeugen, dass die Autoren behauptet hätten, diese Festungen wären allesamt gleichzeitig bemannt und unterhalten worden, wollte ich gar nicht.

Das müssten sie, wenn diese 250 Festungen "ein System" ergeben sollen.

(Welche Funktion verlassene Ruinen in einem planvollen System ergeben sollten, erschließt sich mir nicht.)
 
Du irrst, denn es wurde gezielt auch neutrales, nützliches Wissen vernichtet, nur weil es die „falschen“ Menschen geschaffen hatten. So zum Beispiel befiehlt „Kaiser Honorius den Mathematikern, ihre Bücher vor den Augen der Bischöfe zu verbrennen und der katholischen Kirche beizutreten. Widerstrebende sollen ausgewiesen, besonders Hartnäckige verbannt werden.“ – siehe dazu weiter unten Codex Iustiniani 1.4.10.
[...]
Für diejenigen, die Latein können: Codex Iustiniani 1.4.10 (Die Kaiser Honorius und Theodosius an Caecilianus, Praefectus praetoria)
Mathematicos, si non parati sint codicibus erroris proprii sub oculis episcoporum incendio concrematis catholicae religionis cultui fidem tradere numquam ad errorem praeteritum redituri, non solum urbe Roma, sed si hoc non fecerint et contra clementiae nostrae salubre constitutum in civitatibus fuerint comprehensi vel secreta erroris sui et professionis insinuaverint, deportationis poenam excipiant.

Die "verdammungswürdige Kunst der Mathematik" (hierunter ist wohl Astrologie zu verstehen) war bereits von Diokletian verboten worden:

CJ.9.18.2: Imperatores Diocletianus, Maximianus

Artem geometriae discere atque exerceri publice intersit. ars autem mathematica damnabilis interdicta est.

Codex of Justinian: Liber IX
 
Die "verdammungswürdige Kunst der Mathematik" (hierunter ist wohl Astrologie zu verstehen) war bereits von Diokletian verboten worden

Ich sehe gerade, dass schon Tacitus (Ann 2, 32) für die Zeit des Tiberius (16/17 n. Chr.) über drastische Maßnahmen gegen "Mathematiker und Magier" berichtet:

facta et de mathematicis magisque Italia pellendis senatus consulta; quorum e numero L. Pituanius saxo deiectus est, in P. Marcium consules extra portam Esquilinam, cum classicum canere iussissent, more prisco advertere.
=

"Es wurden auch Senatsbeschlüsse gefasst, die "Mathematiker" und Magier aus Italien zu vertreiben, von diesen wurde Lucius Pituanius vom Felsen gestürzt, den Publius Marcius ließen die Konsuln vor dem Esquilinischen Tor zum Trompetensignal nach altem Brauch hinrichten."​
 
Die Protestanten legten großen Wert auf die eigene Fähigkeit, die Bibel lesen zu können.
Klar, aber Protestanten gibt es erst seit dem 16. Jahrhundert, also erst in der Neuzeit. Ich sprach aber von der Spätantike und Frühmittelalter, was unschwer an dieser Formulierung zu erkennen ist - Zitat: Aber während zu paganer Zeit der Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung verhältnismäßig hoch war, ging es damit in der christlichen Zeit bergab.

Ein weiterer Grund für den Niedergang war, dass außer der Kleriker bald niemand mehr Latein verstand. Der Vorteil der Araber war ja, dass sie in einer lebendigen Sprache schrieben. Das bedeutete, dass jeder, der lesen konnte, alles lesen konnte, sprich wissenschaftlichen Arbeiten genauso wie Belletristik. Selbst im griechisch dominierten oströmischen Reich schrieben sie bald nur noch Griechisch, also in einer lebendigen Sprache.

Im Westen dagegen war alles Geschriebene in Latein, erst durch Karl den Großen kam Bewegung in das Schrifttum, wenn auch anfangs nur sporadisch und mehr für Missionierungszwecke. Erst im Hoch- und Spätmittelalter änderte sich das langsam, aber die wissenschaftlichen Werke wurden weiter in Latein verfasst, nicht zuletzt aus einem Elitedenken heraus, obwohl man selbst in diesen Kreisen Latein nicht mehr gesprochen hatte, sondern nur noch schrieb*.

Wenn Du meinen Beitrag vom vergangenen Sonntag gelesen hättest, wäre Dir aufgefallen, was aus dieser höchst unvollständigen Liste nicht hervorgeht.
Ich habe nie behauptet, dass jene Liste in der Wikipedia vollständig ist. Die Liste ist trotzdem ziemlich lang, insofern macht es nicht so viel aus, wenn darin einzelne Ereignisse fehlen – irgendjemand, der Bescheid weiß, wird sie schon nachtragen. Hoffentlich. Vielleicht du? ;)

* Aus heutiger Sicht kurios war es zum Beispiel, dass der Psychiater und Gerichtsmediziner Krafft-Ebing in seinem bekanntesten Werk Psychopathia sexualis die delikaten Stellen in Latein schrieb, damit die Normalsterblichen sie nicht verstehen konnten. Und das schrieb er nicht im Mittelalter, sondern im 19. Jahrhundert! :rolleyes:

PS:
Die "verdammungswürdige Kunst der Mathematik" (hierunter ist wohl Astrologie zu verstehen) war bereits von Diokletian verboten worden
Dass andere - also Heiden - zuvor genauso handelten, macht die Sache nicht besser.
 
Ein weiterer Grund für den Niedergang war, dass außer der Kleriker bald niemand mehr Latein verstand.

Niemand ist so nicht richtig. De facto hat sich die italienische Sprache aus einer in der Toskana gebräuchlichen Abart des Lateinischen herausgebildet.
Latein mag man nördlich der Alpen nicht mehr verstanden haben (wobei da mal sehr deutlich zu hinterfragen wäre, ob es die dortigen Bevölkerungen denn vorher tatsächlich zu großen Teilen verstanden hatten), jedenfalls im italienischen Raum dürfte Latein noch bis deutlich ins Mittelalter hinein ähnlich gut verstanden worden sein, wie die einfache Bevölkerung zu Zeiten des Imperium Latein verstand.

Es war ja schon damals nicht unbedingt die Sprache des Otto-Normal-Römers.

Der Vorteil der Araber war ja, dass sie in einer lebendigen Sprache schrieben. Das bedeutete, dass jeder, der lesen konnte, alles lesen konnte, sprich wissenschaftlichen Arbeiten genauso wie Belletristik.
Der Vorteil der Araber war vor allen Dingen, dass sie über entsprechend bevölkerungsreiche Zentren verfügten, die groß genug waren um Wissen tatsächlich zu zentalisieren und einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, wobei man da bei der Ausdehung der damit verbundenen Reiche im Hinblick auf die schwächer besiedelten Gegenden wieder wird aufpassen müssen.

Ansonsten ist aber die Vorstellung, dass alles was geschrieben worden wäre im lateinischen Europa auch in Latein verfasst gewesen wäre falsch.
Das mag für alle sakralen Texte und für alles gelten, was juristisch von Belang war und beurkundet wurde.

Anderes findet sich relativ früh bereits in den entsprechenden Sprachen/Dialekten, darunter mitunter auch eine bereits einsetzende Antikenrezeption

Auch die Vorstellung, dass erst mit Karl d. Gr. Bewegung in das Schrifttum an und für sich gekommen wäre ist nicht richtig.

Erst im Hoch- und Spätmittelalter änderte sich das langsam, aber die wissenschaftlichen Werke wurden weiter in Latein verfasst, nicht zuletzt aus einem Elitedenken heraus, obwohl man selbst in diesen Kreisen Latein nicht mehr gesprochen hatte, sondern nur noch schrieb*.

Das hat nichts mit Elitedenken zu tun, sondern damit dass das die gebräuchliche Möglichkeit war Wissen über den eigenen Sprachraum hinaus zu vermitteln, bzw. Studenten mit verschiedenem sprachlichen Hintergrund darin zu unterweisen und gegebenenfalls mit Gelehrten aus anderen Regionen inhaltlich darüber disputieren zu können.



Und das schrieb er nicht im Mittelalter, sondern im 19. Jahrhundert!

Und damit in einer Zeit, die mindestens was das mittlere und späte 19. Jahrhundert angeht, an Prüderie wahrscheinlich nicht mehr zu überbieten war.
 
Ein weiterer Grund für den Niedergang war, dass außer der Kleriker bald niemand mehr Latein verstand. Der Vorteil der Araber war ja, dass sie in einer lebendigen Sprache schrieben. Das bedeutete, dass jeder, der lesen konnte, alles lesen konnte, sprich wissenschaftlichen Arbeiten genauso wie Belletristik. Selbst im griechisch dominierten oströmischen Reich schrieben sie bald nur noch Griechisch, also in einer lebendigen Sprache.

Im Westen dagegen war alles Geschriebene in Latein, erst durch Karl den Großen kam Bewegung in das Schrifttum, wenn auch anfangs nur sporadisch und mehr für Missionierungszwecke. Erst im Hoch- und Spätmittelalter änderte sich das langsam, aber die wissenschaftlichen Werke wurden weiter in Latein verfasst, nicht zuletzt aus einem Elitedenken heraus, obwohl man selbst in diesen Kreisen Latein nicht mehr gesprochen hatte, sondern nur noch schrieb*.
Vielleicht lag es aber auch daran, dass Latein und Griechisch mittlerweile etablierte Schriftsprachen mit entsprechendem Vokabular waren. Das ist gerade für wissenschaftliche Texte wichtig und eine Herausforderung. (Noch im 1. Jhdt. v. Chr. hatten Lucretius und Cicero bei ihren philosophischen Arbeiten damit zu kämpfen, dass es für viele griechische Fachtermini noch keine passenden lateinischen Äquivalente gab bzw. diese erst erarbeitet und etabliert werden mussten.)
Klar, auch das Arabische musste sich erst als gehobene Schriftsprache etablieren. Allerdings hatte es den Vorteil weiter Verbreitung. In Europa hingegen gab es eine Vielzahl romanischer, germanischer und slawischer Sprachen und Dialekte. Wenn also jemand irgendwo einen wissenschaftlichen Text in der Volkssprache verfasst hätte, hätte er erstens erst einmal das passende Vokabular entwickeln müssen, und zweitens hätte man das Ergebnis nur in der Region lesen und verstehen können. Für eine weitere Verbreitung hätte man es in andere Volkssprachen (die ebenfalls das Problem gehabt hätten, noch keine ausgebildeten Schriftsprachen mit wissenschaftlichem Fachvokabular zu sein) übersetzen müssen. Lateinische Schriften hingegen waren - wenn auch nur für Gebildete - überall in West- und Mitteleuropa verständlich.
 
PS: Dass andere - also Heiden - zuvor genauso handelten, macht die Sache nicht besser.

Ich habe weder über das eine noch über das andere ein moralisches Urteil gefällt. Noch nicht einmal über "Nützlichkeit" oder "Schädlichkeit" astrologischer Bücher.

Wenn Du nicht immer Deine Moralkeule schwingen würdest, könnten wir viel sachlicher über Geschichte diskutieren.

Ich lehne es auch ab, mit heutigen Maßstäben über historische Personen zu urteilen, sondern versuche mich in die Lage der Menschen von damals zu versetzen. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich deswegen alles gutheißen würde, was diese Personen getan oder nicht getan haben. Aber man muss das in Relation sehen: Was war zu einer bestimmten Zeit Usus, und was nicht. Bewegten sich die Personen in dem damals geltenden moralischen und/oder rechtlichen Rahmen oder außerhalb davon.
 
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