1968 und die Aufarbeitung der Nazizeit

R.A.

Aktives Mitglied
Überall in den Medien wird ja jetzt 1968 als Gedenkjahr aufbereitet.

Ein allgemein üblicher Topos ist die Aussage, die 68er hätten endlich einmal die Nazi-Zeit aufgearbeitet, nachdem die Adenauer-Zeit da schwere Defizite hinterlassen hätte.

Mir ist diese These eher suspekt (vor einigen Wochen haben wir das mal in einer Diskussion gestreift), mich aber nicht genug mit dieser Zeit beschäftigt, um das wirklich beurteilen zu können.

Eine sehr prononcierte Stellungnahme dazu gibt nun der Historiker Götz Aly ab (er ist ja bekannt für solche "Ketzereien"):
Börsenblatt Online | NEWS LITERARISCHES LEBEN | "Radikalismus des Alles oder Nichts"

Einige zentrale Zitate:
"Und sie tun so, als hätten sie die Aufklärung über die NS-Vergangenheit ins Werk gesetzt. Davon kann keine Rede sein."
"Die linken Studenten wichen vor der Last der Vergangenheit aus, sie waren damit überfordert und flüchteten in den Internationalismus. Sie werden mir keinen Dutschke-Text, keinen Artikel in Enzensbergers "Kursbüchern" jener Jahre zeigen können, in dem die Last der NS-Vergangenheit thematisiert wird."

Das finde ich schon eine sehr rigorose Behauptung (aber offenbar kann er sie belegen).
Danach geht er noch ein Stück weiter und zieht Parallelen zwischen Nazizeit und 1968.

Da würde mich interessieren, was Ihr davon haltet.
 
Ein allgemein üblicher Topos ist die Aussage, die 68er hätten endlich einmal die Nazi-Zeit aufgearbeitet, nachdem die Adenauer-Zeit da schwere Defizite hinterlassen hätte.

Mir ist diese These eher suspekt (vor einigen Wochen haben wir das mal in einer Diskussion gestreift), mich aber nicht genug mit dieser Zeit beschäftigt, um das wirklich beurteilen zu können.
Mir erscheint es wie eine Missinterpretation des Vorwurfs der 68er an die ältere Generation, die ihre braune Vergangenheit verdränge statt sich mit ihr auseinander zusetzen (weshab es vielleicht zur Ablehnung von Respekt gegenüber diesen kam und die allgemein antiautoritäre Haltung der 68er)
 
Einigen seiner Thesen muß ich wohl oder übel zustimmen, es hatten viele 68 tatsächlich einen sehr rüden Diskussionsstil und eine doktrinäre Weltanschauung. Einige huldigten Mao oder selbst Pol Pot, und sicher hatte so manche Aktion einen unreifen Touch.


Wenn man sich allerdings die Lage in der sehr prüden und restaurativen jungen Bundesrepublik ansieht, denke ich, dass die Protestbewegung insgesamt notwendig war und im Hinblick auf eine etwas freiere und demokratischere Gesellschaft viel bewegt hat.

Vor allem an den Hochschulen war ja wirklich etwas dran vom Mief von 100 Jahren unter den Talaren. In der Medizin, Jurisprudenz, Geschichtswissenschaft saßen viele Altlasten, die im Grunde den gleichen Kram weitermachten. In Punkto Umgangston zwischen Professoren und Studenten hat sich doch Gewaltiges getan, und ein Prof. von der chevaleresken alten Schule, ein Junker und König in seinem Reich, Rudolf von Thadden, bezeichnete und bezeichnet sich ja, durchaus nicht ironisch gemeint, als 68er.
 
Mir erscheint es wie eine Missinterpretation des Vorwurfs der 68er an die ältere Generation, die ihre braune Vergangenheit verdränge statt sich mit ihr auseinander zusetzen
Was aber eigentlich automatisch damit gekoppelt sein müßte mit dem Anspruch, es dann selber aufzuarbeiten.
Denn "Ihr Bösen habt es nicht aufgearbeitet, und wir kümmern uns jetzt auch nicht drum" wäre doch etwas schwach.

Das Problem ist halt wirklich, zwischen den 68ern selber, ihren späteren Epigonen und der aktuellen Wahrnehmung zu unterscheiden.

Ich glaube schon, daß "die 68er haben endlich die Nazi-Verbrechen aufgearbeitet" heute die gängige Meinung ist - wird man so ähnlich formuliert in den meisten Artikeln zum Jubiliäum finden.

Ob die 68er dies nun wirklich getan haben, oder ob sie überhaupt den Anspruch erhoben haben, dies zu tun - das ist halt die Frage.
 
Vor allem an den Hochschulen war ja wirklich etwas dran vom Mief von 100 Jahren unter den Talaren.
Nun sicher.
Nur habe ich oft den Eindruck, man hat die Äußerlichkeiten (sprich die Talare und alle anderen Traditionselemente deutscher Universitäten) beseitigt, ohne den eigentlichen Muff wirklich anzugehen.
Und nach meinem persönlichen Geschmack waren die Talare ziemlich unschuldig an allen Verfehlungen der Nazizeit und die Universitäten leiden bis heute darunter, daß ihnen ein durch gewisse Förmlichkeiten symbolisiertes Gemeinschaftsgefühl fehlt.


Wenn ich da an meine Studienzeit denke (80er Jahre) - das war einfach öde. Aufnahme in und Abgang von der Uni waren öde bürokratische Prozeduren in irgendwelchen Büros, an den meisten Fachbereichen lebten Profs, Mitarbeiter und Studenten völlig beziehungslos nebeneinander her, man lief da als reine Nummer rum und bekam deutlich gemacht, daß es der Uni völlig egal war, ob man nun immatrikuliert ist oder sich an den nächsten Baum hängt.
 
Was aber eigentlich automatisch damit gekoppelt sein müßte mit dem Anspruch, es dann selber aufzuarbeiten.
Denn "Ihr Bösen habt es nicht aufgearbeitet, und wir kümmern uns jetzt auch nicht drum" wäre doch etwas schwach.

….
Ob die 68er dies nun wirklich getan haben, oder ob sie überhaupt den Anspruch erhoben haben, dies zu tun - das ist halt die Frage.



sicher ist, sie wollten diese zeit aufgearbeitet haben, was die meisten derjenigen, die die nazizeit miterlebt haben oder sogar täter waren, nicht wollten.

wer forschungen anstellte, wurde nicht darin unterstützt, sondern eher daran gehindert “dreck aufzuwühlen und nester zu beschmutzen”. manche wurden sogar dabei massiv bedroht, arbeiten in diese richtung unterdrückt und viele aufarbeitungsversuche mußten abgebrochen werden.

informationen zu sammeln war ein hürdenlauf und die informationsarbeit schwierig - wer z.b. hatte damals schon ein telefon? der größte teil der opfer war ermordet oder im ausland. zeitzeugen wollten lieber vergessen, die täter erst recht und von letzteren saßen sehr viele wieder in amt und würden. klar, dass da nicht viel preisgegeben wurde.

nicht zu vergessen, die sowjetunion war eigentlich immer noch der feind und die linken 68er sollten doch dahingehen, wenn es ihnen hier nicht gefällt. solchen chaoten gab man keine informationen! "die sollten doch erst einmal arbeiten und sich die haare schneiden lassen … wir waren doch keine verbrecher oder nazis …." waren wohl die häufigsten antworten die man damals bekam.

den stein ins rollen zu bringen, das interesse an einer aufarbeitung gegen alle widerstände zu wecken, war eine wichtige und schwierige arbeit, und das dürften die 68er geschafft haben. die sichtbaren erfolge und bessere möglichkeiten stellten sich erst später ein.


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sicher ist, sie wollten diese zeit aufgearbeitet haben,.
Ist das sicher?
Aly behauptet ja das Gegenteil - die Aufarbeitung der Nazizeit hätte nachweisbar keine Rolle gespielt.

Ich selber weiß es absolut nicht.
Ich kenne die verbreitete und auch von Dir geschilderte Auffassung - aber ich kenne keine Belege dafür.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ist das sicher?
Aly behauptet ja das Gegenteil - die Aufarbeitung der Nazizeit hätte nachweisbar keine Rolle gespielt ...


ja, das ist wohl seine meinung. er sagt z.b. auch:

Aly:
Und sie tun so, als hätten sie die Aufklärung über die NS-Vergangenheit ins Werk gesetzt. Davon kann keine Rede sein.
……

In den Jahren 1967 und 1968 fanden die meisten NS-Prozesse in der Bundesrepublik statt, vielfach verhängten die Schwurgerichte lebenslange Haftstrafen.


dann frage ich mich wer hat die "aufklärung dann ins werk gesetzt"?
die 68er bestanden schließlich nicht nur aus seiner gruppe, in der er damals, nach seinen angaben, aktiv war und die scheinbar nichts damit im sinn hatte. ich weiß jetzt nicht, ob er den eindruck erwecken will, die verbrechen damals wurden konsequent verfolgt und die Justiz abeitete mit volldampf daran?

was heißt denn "die meisten ns-prozesse"? die meisten von den insgesamt viel zu wenigen? über 20 jahre nach dem ende der nazis wurden für bestialischen massenmord sogar lebenslange freiheitsstrafen verhängt! man soll es nicht glauben, toll - aber noch 1966 wurde klaus manns buch mephisto verboten! wie viele jahre die verurteilten von ihrer lebenslangen haftstrafe dann auch absaßen, steht auch auf einem anderen blatt.

also ich habe den eindruck, hier will jemand sein buch verkaufen!
 
Zuletzt bearbeitet:
Ein Beispiel aus der Germanistik:
Der deutsche Germanistentag, München 1966, hatte den Schwerpunkt "Nationalismus in Germanistik und Literatur" und widmete sich erstmals seit dem Ende des Dritten Reiches die Rolle der Germanistik im Nationalsozialismus.
Von dieser Debatte, die später vielfach als "Eklat" oder "Rebellion der Jungen gegen die Alten" gewertet wurde, ist im Gedächtnis geblieben wohl vor allem das Wort von der Germanistik als einer "deutschen Wissenschaft", in Anlehnung an den gleichnamigen Vortrag von Eberhard Lämmert, der auch der berühmten, parallel zum eigentlichen Tagungsband 1967 bei Suhrkamp (es 204) erschienenen Aufsatzsammlung ihren Titel gab: "Germanistik - eine deutsche Wissenschaft". Dieses Buch, das die überarbeiteten Redebeiträge von Eberhard Lämmert (geb 1924), Walther Killy (1917), Karl Otto Conrady (1926) und Peter von Polenz (1928) zu einer umfassenden historischen und methodischen Kritik der Germanistik vereint, ist auch heute noch lesenswert!
Hier wurde also schon vor den 68ern begonnen, ein Fach gründlich zu entrümpeln.
 
.... Hier wurde also schon vor den 68ern begonnen, ein Fach gründlich zu entrümpeln.


sicher, es wird auch niemand ernsthaft behaupten, die 68er wären die einzigen und ersten gewesen, die die aufarbeitung der nazizeit forderten und vorantrieben (die ersten eh nicht, denn sie mußten ja, wie der name es anzeigt, zwangsläufig bis 1968 damit warten :D ).

nur sollte eben auch niemand behaupten, sie hätten so gut wie gar nichts in diese richtung getan! :cool:



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dann frage ich mich wer hat die "aufklärung dann ins werk gesetzt"?

Das ist eine gute Frage!
Irgendeiner muß es ja gewesen sein, wir sind eindeutig weiter als Mitte der 60er - da müssen schon einige tätig gewesen sein.
Wie gesagt, ich kenne mich hier leider sehr wenig aus.

die 68er bestanden schließlich nicht nur aus seiner gruppe
Das behauptet er ja nicht, er referiert über Kursbuch und andere Werke, die offenbar zentral für die 68er sind.

also ich habe den eindruck, hier will jemand sein buch verkaufen!
Auf jeden Fall!
Was aber nicht das Problem wäre - wenn die Aussagen stimmen. Und bisher haben wir hier noch keine Gegenbelege gefunden.
 
Eigentlich OT, aber:

(...) die allgemein antiautoritäre Haltung der 68er)
Der SDS als "politischer Arm der Studentenbewegung" zerbrach genau an dem Gegensatz zwischen autoritären und anti-autoritären Linken; irgendwo müssen die K-Gruppen der 70er ja hergekommen sein, und die als "anti-autoritär" zu bezeichnen ist sicher verfehlt.
 
Auf jeden Fall!
Was aber nicht das Problem wäre - wenn die Aussagen stimmen. Und bisher haben wir hier noch keine Gegenbelege gefunden.
Hast du den Kommentar Nr 3 unter dem Interview gesehen? Den finde ich recht zutreffend.

Im Interview antwortet Aly zb auf die Frage, was ihm im Nachhinein am Peinlichsten sei, "unser Maoismus". Für einen Historiker finde ich diese Antwort eher blamabel, denn er insinuiert, daß alle 68er seinerzeit Maoisten waren, was nicht den Tatsachen entspricht. So stellt er sein damaliges politisches Umfeld als das wichtigste heraus und auch das entspricht nicht den Tatsachen (wenn wir uns in die beginnenden 70er hineinbewegen, wurde im Gegenteil das maoistisch geprägte Lager mehr und mehr belächelt bis schallend ausgelacht).

Wenn er reflektieren wollte, müßte er zwar immer noch & durchaus sagen, daß die unkritische Übernahme einer im breiten Sinne sozialistischen Ideologie durch die 68er ein Fehler war, ebenso wie die (später anzusetzende) Orientierung auf bestimmte vorhandene politische Parteien in bestimmten Staaten, die gerade im maoistischen Lager ein paar nette (Sumpf)Blüten hervorbrachte. Das durch Parteilinie jeweils und teils abrupt angeordnete Umschwenken auf neue 'Heimatländer des Sozialismus' führte zu Slalomkursen von Mao über Pol Pot zu Enver Hoca etc, die mit Vehemenz als leuchtende Beispiele verehrt und hochgejubelt wurden, was aber mit dem real life seinerzeit auch nicht mehr zu tun hatte, als wenn im Hafen ein Sack vom Stapler fiel. Hier engagiert mitgewirkt zu haben und miteingeschwenkt zu sein, darf natürlich in der Retrospektive gerne als peinlich empfunden werden, ob diese eher persönliche Tragik (?) dann gleich die von Aly behauptete Breitenwirkung haben/gehabt haben muß, halte ich doch für fraglich. Aly möchte aber nun gerne sein Buch nicht als persönliche Abkehr von einstigen maoistischen Idealen verstanden wissen, sondern auf alle 68er ausdehnen, was sicherlich so nicht statthaft ist.

Wenn Aly reflektieren wollte bzw dies auch erkennbar realisieren möchte, sollte er beispielsweise nicht nur aus der heutigen Position beklagen, man habe seinerzeit die vorhandenen Fakten zb bezüglich der maoistischen Kulturrevolution negiert. Dies ist eine Aussage, die zum einen nicht für alle 68er zutrifft; sofern auf ihn persönlich und/oder sein damaliges politisches Umfeld, ist es - siehe oben - natürlich eine Peinlichkeit.
Zu einer Reflektion gehörte dann jedoch auch das Einbeziehen des Umfeldes, in dem viele, aber nicht alle 68er diese Fakten nicht anerkennen wollten - ich sehe eher die Tragik, daß die Vorbilder sich fast alle als nicht tauglich erwiesen, seien es die hiesigen (im Hinblick auf Aktivitäten zwischen 33-45) oder die aus anderen Ländern (siehe Mao etc).

Auch Alys Einschätzungen darüber, daß die Revolten in den USA und in Frankreich schneller abflauten und integriert wurden, halte ich ebenfalls für nicht haltbar. Ich habe nach Lesen des Interviews eher den Eindruck, Aly möchte mit der Wurscht nach dem Schinken (etwa eines Postens) schmeißen und sich mal strategisch übers Image wischen (Polieren wäre was anderes...).
 
Ich würde einen Punkt einwerfen und zwar den als "Antiimperialismus" getarnten Antisemitismus, der doch von einigen vertreten wurde.

Und ich stimme der Kritik Alys durchaus zu, insofern, als die 68-ger Veteranen durchaus eine etwas weichgespülte Version verbreiten. Mir wird nicht kritisch genug die allzu linke, den Kommunismus gutheißende, politische Einstellung hinterfragt.. und letztlich auch die jeweilige Einstellung zu ausgeübter Gewalt.

Allerdings muss ich anfügen, da auch nur aus der Distanz der nächsten Generation mir meine Meinung bilden zu können.

Oh, und danke für das Interview.
 
Zuletzt bearbeitet:
Könnte man nicht provokativ einwenden, dass die 68ger und ihre Rolle in der Aufarbeitung der Nazizeit überschätzt wird?
Wären etwa der Ausschwitzprozeß hier nicht wichtigere Impulsgeber?
 
Könnte man nicht provokativ einwenden, dass die 68ger und ihre Rolle in der Aufarbeitung der Nazizeit überschätzt wird?
Das war ja von Anfang der Diskussion an mein Verdacht. Nur daß ich nicht genügend über diese Zeit weiß, um das sicher sagen zu können.

Mir scheint daher der Ansatz dieses Artikels ganz vernünftig: Was gemeinhin mit "1968" assoziiert wird, war in Wirklichkeit ein Wandel über mehr als 10 Jahre hinweg, und die 68er waren nur die durch Lautstärke am meisten wahrgenommenen Teilnehmer dieses Wandels.

Das wäre ja nichts Neues in der Geschichte, daß wichtige Entwicklungen verkürzt wahrgenommen und auf einzelne Personen oder Ereignissen reduziert werden.
 
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