900 Tage - Die Tragödie der Belagerung

Liljana

Mitglied
Harrison E. Salisburry:

Noch heute wird ein Leningrader auf die Frage, welcher Einzelheit er sich aus den 900 Tagen der Belagerung am deutlichsten erinnert, warscheinlich antworten: "Die Schlitten...die Kinderschlitten...das Knirschen ihrer Kufen auf dem hartgefrorenen Schnee..." Die Kinderschlitten... In den schrecklichen Monaten des Winters 1941 / 1942, in denen Leningrad zu Eis erstarrte, schweigend, ohne Nahrung, ohne Wasser, ohne Transportmittel, ohne Strom, ohne Licht, ohne Kanalisation, ohne Heizung, kalt wie die arktische Tundra und finster wie der Nordpol, waren Kinderschlitten fast das einzige Transportmittel. Sie brachten die steifgefrorenen Toten - nicht auf die Friedhöfe, sondern auf die Zufahrten zu den Friedhöfen; an die Totenäcker selbst kam man nicht heran, weil Berge gefrorener Leichen den Weg versperrten. Sie brachten schwappende Kessel und Eimer von den Löchern im Eise der Newa, nahezu der einzigen Wasserquelle der Stadt. Sie brachten die Kranken und Sterbenden in die Krankenhäuser, in denen selbst die Schwestern und Ärzte vor Kälte, Erschöpfung, Hunger und Entkräftung zusammenbrachen. Und manchmal, wenn eine Frau das Glück hatte, den Rest eines zerbrochenen Zauns, ein von einer Schneewehe freigegebenes Stück Holz, ein paar Zweige von zerbrochenen Bäumen zu finden, lud sie ihren Fund auf den Kinderschlitten und brachte ihn in ihre Wohnung.
Ein Leningrader Maler, Viktor Konaschewitsch, glaubte, dass er das Geräusch der Schlitten, das Knirschen ihrer Kufen im Schnee, zeit seines Lebens nicht vergessen würde - den Anblick der Frauen in ihren dunkelen Mänteln, ihren grauen Wolltüchern um den Kopf und Schultern, die Schlitten am Seil langsam, gebeugt, stöhnend durch Schneewehen ziehend, die im Lauf des Winters manchmal bis zu den Fenstern des ersten Stock reichten.
Es ist über 62 Jahre her, dass die Belagerung von Leningrad am 27. Januar 1944 um 8 Uhr abends aufgehoben wurde, nachdem sie seit dem 20. August
1941 880 Tage gedauert hatte. An diesem Tage waren deutsche Panzer in die kleine Bahnstation Mga an der Linie Moskau - Leningrad eingebrochen und hatten damit die letzte Verbindung zwischen Leningrad und dem, was man bald das "Festland" nannte, nämlich dem übrigen Rußland, abgeschnitten.
Zu Beginn der Blockade befanden sich schätzungsweise 2 544 000 Einwohner von Leningrad, darunter an die 400 000 Kinder, innerhalb des Belagerungsringes. Dazu kamen noch 343 000 Menschen aus den Vorstädten und - wie durch Generaloberst I.W. Schikin bekanntgegeben wurde, dem einzigen führenden Mitglied des Leningrader Parteiapparates, das die gräßliche stalinistische "Säuberung" nach dem Krieg, die man die "Leningrader Affäre" nannte, überleben sollte - weitere 440 000 Männer und Frauen an den Verteidigungsfronten der Stadt. Insgesamt waren also 3 327 000 Menschen im Flammenkreis der Blockade gefangen.
Wie lange konnten sie überleben? Eine Bestandsaufnahme der Lebensmittelreserven am 12. September 1941 ergab, dass noch Getreide und Mehl für 35 Tage vorhanden waren, Nährmittel und Teigwaren für 20, Fleisch für 33, Fett für 45, Zucker undSüßigkeiten für 60 Tage. Die Versorgung der Stadt stand im Grunde noch unter Friedensbeingungen. Die im Juli eingeführte Rationierung war so großzügig, daß der Lebensmittelverbrauch während des Sommers, statt abzunehmen, angestiegen war.
Die harten Tatsachen der Blockade sind schnell erzählt. Die Rationen wurden gekürzt. Und wieder gekürzt. Und nochmals. Im November bestanden sie nur noch aus einer Scheibe Ersatzbrot pro Kopf und Tag - aus Sägemehl, verrottetem Korn, das vom Hafengrund heraufgebaggert worden war, Baumrinde und zusammengekratzten Nährmitteln gebacken. Der Hunger war ausgebrochen. Schon Mitte November verzeichneten die Tagebuchschreiber von Leningrad, sie hätten Leute einfach auf der Straße umfallen sehen - gestorben an Unterernährung. Mänenr starben vor den Frauen. Junge vor den Alten. Und oft die Gesunden vor den chronisch Kranken. Trotz allen militärischen Anstrengungen, die Blockade aufzuheben, verengte sich der Kreis. Am 08. November nahm eine deutsche Panzerarmee Tichwin ein; damit schwanden alle Hoffnungen, eine Versorgungslinie über den Ladogasee aufrechtzuerhalten. Im Dezember wurde Tichwin zurückerobert; aber die Todesrate in der Stadt stieg bereits auf 3 000, 4 000, 5 000, ja sogar 6 000 Menschen am Tag. Überleben war nahezu Glückssache.
Wie viele Menschen starben, wird nie genau festzustellen sein. In den Schreckensmonaten Dezember 1941, Januar, Februar und März 1942 gab es niemanden, der darüber Buch geführt hätte. Das Bestattungswesen der Stadt hatte zu bestehen aufgehört. Es gab niemanden, der die Toten begrub, niemanden der die Tragödie aufzeichnete. Bei Kriegsende gab das Stalin - Regime die Zahl von 632 253 Toten bekannt. Die Überlebenden selbst glaubten, dass mindestens anderthalb bis zwei Millionen Menschen umgekommen seien.
Eines ist sicher: Unter den Tragödien des zweiten Weltkrieges reicht keine an Leningrad heran - weder Hiroshima noch der verhängnisvolle Warschauer Aufstand. Auch in der Geschichte der großen Städte der Welt gibt es keine Parallele. Um auf Tragödien von ähnlicher Gewalt zu stoßen, muß man schon auf das Mittelalter zurückgreifen - doch natürlich waren die Städte des Mittelalters oder gar der Antike Dörfer imVergleich zu der großen, strahlenden Metropole Leningrads. Und wenn sie auch 1941 die Großartigkeit von St. Petersburg unter Nikolaus II. oder die vibrierende revolutionäre Leidenschaft von Petrograd unter Lenin nicht mehr besaß, so war sie doch noch immer eine der bedeutedsten Weltstädte.
Eine Aufzählung der Schäden, die den Schätzen Leningrads während der Belagerung zugefügt wurde, würde viele Kataloge füllen - die Zerstörung von Peterhof und Gatschina, die Schäden am Winterpalais, an der Eremitage, am Katharinen-Palais in Paschkin (Zarskoje Selo), an fast all den großen Bauwerken, die der Stadt ihre charakteristische Großartigkeit verliehen.
Doch diese materiellen Verluste verblassen neben der menschlichen Site der Tragödie. Wie konnte ein Mensch den endlosen Frost ertragen, Temperaturen um 30 Grad unter Null, den Schnee, der durch die Fenster in die Wohnung stob, die Mahlzeiten von gekochtem Schuhleder und Kleister, das Hackfleisch von Hunden, Katzen, Ratten, Mäusen und Spatzen? Oder, um noch Entsetzlicheres anzudeuten, jene schlimmen Tage in Leningrad, die Zeit als - wie sich ein Überlebender erinnerte - die Kanibalen Könige waren?
Ein Übermaß an Tragik härtet die Seele des Menschen. Wenn man das Tagebuch der Dichterin Olga Bergholz liest, von ihrem Leidensweg durch Kälte und Eis, um ihren Vater zu besuchen, einen Arzt in einer Fabrik am Stadtrand von Leningrad, von einer gelassenen Liebe und Zuneigung, von einer Zuversicht, noch einmal wieder, im Frühling, die Rosenbüsche an der Tür seines Hauses zu pflegen; wenn man eine ältliche Lehrerinn erzählen hört, wie sie einen kleinen Jungen und seine noch kleinere Schwester von einem Schutthaufen mitnahm und langsam, Bissen für Bissen, an einer "burshuika", einem improvisierten Blechofen in einer vereisten Wohnung, wieder ins Leben zurückpäppelte; wenn man weiter das Tagebuch der Tanja Sawischewa liest, der einzigen Überlebenden ihrer Familie ("Schenja starb am 28.12.1941, um 12 Uhr 30...Babuschka starb am 25.01.1942, um 3 Uhr...Leka starb am 17.03.1942, um 5 Uhr in der Frühe...Sawischews sind tot. Alle sind tot. Nur Tanja bleibt übrig..."), und dann erfährt, das Tanja selbst zwei Jahre später starb, unfähig, die schrecklichen Nachwirkungen von Entkräftung und Hunger zu überwinden; wenn man von Vera Ketlinskaja liest, die in ihrer eisigen Wohnung den Roman "Die Belagerung" schrieb, während ihr anderthalbjähriger Sohn unter einem Kleiderhaufen schlief und ihre Mutter, seit drei Tagen tot, gefroren imm Nebenzimmer lag - dann, erst dann beginnt man die Ausdauer und den schlichten Mut des menschlichen Geistes zu begreifen....und seine erstaunliche Fähigkeit, zu überleben. Dann beginnt man zu verstehen, wie es kommt, dass man bei der Begegnung mit einem Leningrader, der die Belagerung überstand, derd urch die Eishölle ging und überlebte, dass Gefühl hat, einem Menschen von besonderer Art gegenüber zustehen, einem Menschen, der irgendwie von Heldentum geprägt ist. Sie haben etwas Besonderes an sich. Sie tragen den Kopf hoch. Ihre Augen sind klar und voller Zuversicht. Sie lassen sich nicht schrecken, nicht ängstigen, nicht einschüchtern. Sie haben die Hölle hinter sich und sind noch am Leben.
Als Leningrad die Belagerung überstanden hatte und der Krieg vorbei war, in einem Augenblick, in dem jedermann in Leningrad dazu beitrug, die Stadt wieder aufzubauen, ihr die Pracht in nie dagewesener Frische und Vollständigkeit wieder zugeben, schlug das Schicksal nochmals zu. Der Wahnsinn, die grauenhaften politischen Intrigen an Stalins Hof führten zu einer wilden Kampagne gegen Leningrad. Fast alle überlebenden führenden Persönlichkeiten der Stadt wurden verhaftet. Soweit es möglich war, wurden selbst die Erinnerungen an die Blockade ausgelöscht. Das Belagerungsmuseum wurde geschlossen. Seine Exponate verschwanden. Sein Direktor wurde festgenommen. Gedenkschriften und Erinnerungen an die große Zeit wurden unterdrückt und zensiert. Fast jede Spiegelung der Geschehnisse von 1941 bis 1944 wurde ausgelöscht.
Wie ein Phönix aus den Schrecknissen des Krieges auferstanden, war Leningrad nun einer nicht minder heftigen Attacke von innen ausgesetzt. Den Männern, welche die Stadt durch die Prüfungen des Krieges geführt hatten, wart man eine Art phantastischer Verschwörung vor - möglicherweise die Absicht, Leningrad wieder zur Hauptstadt Rußlands zu machen. Sie wurden sämtlich in den Kellern der Geheimpolizei Stalins erschossen, ohne Urteil, ohne öffentliches Verfahren, unter strengster Geheimhaltung. Man weiß nicht, auf welche Weise die Tapferen, die Leningrad in seinen schlimmsten Tagen führten, gestorben sind. Möglich, dass sie sich unterwarfen.
Aber Harrison E. Salisbury glaubt das nicht. Er glaubt, sie standen den Schergen Stalins erhobenen Hauptes und mit stolzem Blick gegenüber, sicher, dass nichts, was man ihnen antat, ihnen den Ruhm des Mutes rauben konnte, der in dem schlichten Satz lag:
"Ich war in Leningrad".
 
Wer weitere Berichte aus erster Hand lesen will, dem sei

Das Echolot. Barbarossa '41. Ein kollektives Tagebuch,
von Walter Kempowski


empfohlen.

Zur Echolot-Reihe muss man ja nicht mehr viel sagen, Kempowski hat eine allseits gelobte Zusammenstellung von persönlichen Erfahrungen und Berichten publiziert, die im vorliegenden Band u.a. auch die Leiden der Zivilbevölkerung Leningrads zum Thema hat.
 
Zurück
Oben