Ad Boias, qui nunc Baioarii vocantur

Dieses Thema im Forum "Völkerwanderung und Germanen" wurde erstellt von Clemens64, 4. Februar 2022.

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  1. dekumatland

    dekumatland Aktives Mitglied

    @Stilicho ich spreche doch nicht von "schon immer"! Chlodwigs Vater war nicht vom Himmel gefallen, sondern offenbar ein fähiger militärischer Anführer auf einem hohen Posten (meinetwegen können alle seine Ahnen nachträgliche Erfindungen zur Legitimation seiner Sippe sein) Irgendwie wird er sich diese Meriten verdient oder erworben haben. ABER von ihm an sind seine Merowinger die fränkischen Oberbosse, und das für eine nicht eben kurze Zeit in diesen rauhen kriegerischen Umbruchszeiten. Die Ausstrahlungskraft so einer "neuen" erfolgreichen Chefsippe war offenbar groß genug, dass andere Warlords mit weniger Hausmacht sich diesen anschlossen (die diversen "Generäle" einzelner Truppenkontingente, analog bei Theoderich die Heerführer/"Generäle" wie Pitzia, evtl. Witigis u.a.) Ein erfolgreicher Feldzug eines solchen "Generals" oder "Herzogs" führte nicht zack zum Sturz der Herrschersippe.
    Die etablierten Herrschersippen (bei den Goten, Franken, Vandalen, Burgunden, diversen Angelsachsen usw) mögen sich nette Herkunftsgeschichten zugelegt haben, sich also älter gemacht haben, als sie waren - das ändert aber nichts daran, dass sie ihren Herrschaftsanspruch zäh generationenlang behielten, sich quasi festsetzten und ihre Macht durch Expansion zu erweitern trachteten.

    Zurück zu den Baiuwaren: diese hatten die Agilolfinger als Chefs vorgesetzt gekriegt und waren damit wohl zufrieden. Ihre alten Adelsfamilien wie die Drozza, Hüewi usw rebellieren nicht dagegen. Aber es gab sie, Sippe/Clan und damit Abstammung standen wohl doch auf etlichen Führungsebenen hoch im Kurs.
     
  2. Stilicho

    Stilicho Aktives Mitglied

    Dann sind wir doch nahe beieinander. Mir ging es oben darum, dass Herkunft oder Verwandschaft bei der Entstehung diese Gruppierungen und beim Aufstieg einzelner Familien keine große Rolle spielte - verdiente Heerführer wie du schreibst, ob nun Childerich oder bei den Goten Alarich, um den man nachträglich die "Balthen" zu konstruieren versuchte. Von einem alten germanischen Stammesadel kann keine Rede sein.

    Hatten sie erst einmal ihre Position erreicht und gefestigt, hielten diese Familien mit Klauen und Zähnen an ihrer Position fest, auch wenn es ja oft genug zu Versuchen anderer Clans kam, dies zu untergraben
     
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  3. dekumatland

    dekumatland Aktives Mitglied

    Interessant ist dabei natürlich, wie und warum es einer schaffte, erfolgreicher Heerführer zu werden. Das konnte als Foederat quasi im militärischen cursus honorum sein - das konnte aber auch in Form einer barbarischen Warlordsippe sein (die Barbarenheere außerhalb des imperialen Territoriums hatten auch allerlei Anführer). Die im Bayernrecht erwähnten alten "Uradelsfamilien" weisen in diese Richtung.
     
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  4. Stilicho

    Stilicho Aktives Mitglied

    Das stimmt. Man sehe sich nur einmal die Geschichte der beiden gotischen Theoderiche an. Längere Zeit sah es aus, als würde sich eher Theoderich Strabo durchsetzen, ehe dann der Amalaer dominierte.
    Beide vereinigten jeweils in einer Person den Offizier innerhalb des römischen Militärs und auch den Warlord ihrer jeweiligen Sippe, je nach Kontext.
     
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  5. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Ennodius' Lobrede auf Theoderich spricht sogar ausdrücklich von der "Gesamtheit der Alamannia": "a te Alamanniae generalitas intra Italiae terminos sine detrimento Romanae possessionis inclusa est"

    Zu beachten wäre noch Agathias, welcher schreibt:
    "Zuerst hatte sie [die Alemannen] der Gothenkönig Theoderich, als er über ganz Italien herrschte, sich tributpflichtig und unterthänig gemacht. Als er aus dem Leben geschieden war und dann der große Krieg zwischen dem römischen Kaiser Justinian und den Gothen ausbrach, hatten die Gothen, den Franken schmeichelnd, um sich ihre Freundschaft und ihr Wohlwollen zu erwerben, viele andre Landschaften aufgegeben und auch das Volk der Alamannen aus ihrer Botmäßigkeit entlassen."
    Gothenkrieg. Nebst auszügen aus Agathias, sowie Fragmenten des Anonymus valesianus und des Johannes von Antiochia : Procopius : Free Download, Borrow, and Streaming : Internet Archive

    Jedenfalls beanspruchten die Ostgoten bis 537 die Herrschaft über die Alemannen. Von daher ist es kaum denkbar, dass aus ostgotischer Sicht der 520er Jahre die Alemannen dem fränkischen Herrschaftsbereich zugeordnet wurden.

    Die Idee, die Völkertafel beruhe auf einer "politischgeographischen Ordnung", hat Müllenhoff 1862 aufgebracht. Nach seiner Ansicht sei sie "vom Standpunkt des fränkischen Reichs um 520" erstellt worden.
    Dass das unsinnig ist, ist schon Johann Friedrich 1910 aufgefallen:
    "Faßt man die Tafel [..], wie sie liegt, ins Auge, so erkennt man auf den ersten Blick, daß ihr Verfasser nicht entfernt daran dachte, 'eine politisch-geographische Ordnung und Stellung der Völker, wie sie nur um 520 und weder zehn Jahre früher noch zehn Jahre später stattfand', geben, oder 'die Völkertafel von Gallien aus vom Standpunkt des fränkischen Reichs um 520 entwerfen' zu wollen. Was er geben will, sind vielmehr die ihm bekannten deutschen Völker und ihre vermeintliche Herkunft von den drei Brüdern Ermino, Inguo und Istio der Volkssage."
    Mit dem ersten Satz hat Friedrich recht, der zweite kann aber auch nicht stimmen, will man nicht die Romanen und Bretonen unter die "bekannten deutschen Völker" zählen.

    Roland Steinacher resümiert: "Das bedingt, daß man die ‚fränkische Völkertafel‘ nicht als Darstellung einer spezifischen ethnisch-politischen Landschaft der fränkischen Regna sehen kann. Diese Liste von Völkern, in der ein erklärender und ordnender Abstammungsgedanke enthalten ist, war als Stammbaum der Völker des ganzen Erdteils gedacht."Roland Steinacher, Die Bischofssitze Rätiens und Noricums vor ihrem historischen Hintergrund - Bruch und Kontinuität (2018)
    https://diglib.uibk.ac.at/ulbtirolfodok/download/pdf/5656236?originalFilename=true


    Hier noch meine Linksammlung zur Diskussion über die Völkertafel:

    Karl Müllenhoff, Die fränkische Völkertafel, in: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin (1862)
    Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin (Anhang ab S. 532)

    Johann Friedrich, Die sogenannte fränkische Völkertafel (1910)
    https://www.zobodat.at/pdf/Sitz-Ber-Akad-Muenchen-ph-ph-hist-Kl_1910_0001-0027.pdf

    Bruno Krusch, Der Bayernname. Der Kosmograph von Ravenna und die fränkische Völkertafel (1928)
    https://www.digizeitschriften.de/download/PPN345858530_0047/PPN345858530_0047___log6.pdf

    Walter Goffart, The Supposedly 'Frankish' Table of Nations: An Edition and Study (1983)
    https://www.mgh-bibliothek.de/dokumente/a/a047895.pdf
     
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  6. dekumatland

    dekumatland Aktives Mitglied

    507 hatten die Franken doch die Alemannen nicht nur besiegt, sondern auch erobert - jedenfalls zu keinem kleinen Teil. Das führte dann doch zu ein wenig hektischem diplomatischen Briefverkehr zwischen Theoderich und den Franken/Merowingern. Verkürzt gesagt "teilten" sich die Merowinger und die Ostgoten die Alemannen. Oder erinnere ich da was falsch? Erst 536/37 entlastete sich Witichis (um keine zusätzliche fränk.-got. Front halten zu müssen im Krieg gegen Belisar bzw Byzanz), indem er die ostgotischen Alemannen/Bayern(?) den Franken überliess.
     
  7. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    So interpretiert es jedenfalls Dieter Geuenich, Die Geschichte der Alemannen, 2. Auflage, Stuttgart 2005:

    "Im Süden fanden die Alemannen Schutz und wohl auch Aufnahme im Voralpengebiet der beiden rätischen Provinzen, das Theoderich als ostgotisches Territorium für sich in Anspruch nahm. Chlodwig, der die flüchtenden Alemannen offensichtlich über die Donau hinweg nach Südosten verfolgen wollte, wurde damit Einhalt geboten; zugleich war damit die südliche Grenzlinie der fränkischen Provinz Alamannia festgelegt. Sie war jedoch im Gegensatz zur nördlichen Begrenzung nicht lange von Bestand. Schon 537 sah sich der Ostgotenkönig Witigis (536-540) gezwungen, einige Provinzen seines Reiches an den Frankenkönig Theudebert I. (534-547) abzutreten, um dessen Unterstützung gegen die Byzantiner zu erlangen. Dazu gehörten außer der Provence auch Churrätien und das Protektorat über 'die Alemannen und andere benachbarte Stämme'."

    Dass die Ostgoten auf ihrer politischen Landkarte die Alemannen schon um 520 den Franken überschrieben haben sollen, halte ich für eine sehr steile These.
     
    Zuletzt bearbeitet: 15. Februar 2022
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  8. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Rettners These, der Umzug habe erst einige Zeit nach der Errichtung des bajuwarischen Dukats stattgefunden, wird von Gottfried Mayr (Bemerkungen zur den frühen kirchlichen Verhältnissen im westlichen Oberbayern) kritisiert:
    "Die Aussage, dass Regensburg verkehrsgeographisch ungünstiger gelegen sei als Augsburg, trifft nur zu, wenn man die außenpolitischen Kontakte des Bajuwarendukats auf Italien beschränkt: Für die Beziehungen zu den Langobarden, die zu der Zeit, als der Merowingerkönig Chlothar der Walderada den Garibald zum Mann gab, noch in Pannonien lebten, lag Regensburg verkehrsgeographisch wesentlich günstiger. Walderada war eine Tochter des Langobardenkönigs Wacho und machte damit ihren neuen Mann zum idealen Mittelsmann zwischen Franken und Langobarden. [...] Auch für Kontakte zu den Thüringern, deren Reich bis an die Donau reichte und die 531 der fränkischen Herrschaft unterworfen wurden, und für eine gewisse Kontrolle lag ohne Zweifel Regensburg günstiger als Augsburg."

    ZBLG 2012, Band 75, Heft 1
     
  9. dekumatland

    dekumatland Aktives Mitglied

    Sicher - aber diese steile These hat auch niemand hier vertreten, sofern ich richtig mitgelesen habe.
    Die Alemannen, die recht expansionsfreudig im 5. Jh. waren, bekamen fränkischerseits ein paar auf die Mütze (Zülpich) und danach nochmal nachhaltig 506.
    Aber: die Franken annektierten bis 536/7 nicht das komplette von Alemannen kontrollierte Gebiet. Und die Ostgoten hatten auch zu keiner Zeit das komplette von Alemannen kontrollierte Gebiet beherrscht.
     
  10. Clemens64

    Clemens64 Aktives Mitglied

    Die hier ja schon öfter dargelegte These ist ja, dass die geopolitische Landschaft aus ostgotischer Perspektive und im Gewand eines Abstammungsmythos skizziert oder auch für sich selbst erklärt wird. Dazu passt die Verwendung symbolischer Zahlen wie 3 mal 4 gleich 12. Natürlich ist das eine andere Art der Wirklichkeitsdarstellung als bei Prokopius oder bei Mischa Meier.
     
  11. Stilicho

    Stilicho Aktives Mitglied

    Hier verstehe ich allerdings Mayrs Argumentation nicht. DASS der Umzug stattfand ist ja wohl unbestritten, es geht um das WANN. Dass es von Regensburg kürzere Wege nach Pannonien gab ist klar. Dass vorher Augsburg die Provinzhauptstadt war, auch.
     
  12. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    ...bisher noch nicht hinreichend plausibel geworden.
     
  13. Clemens64

    Clemens64 Aktives Mitglied

    Das ist jetzt aber kein ausgewogenes Resümee.

    Goffart fand die Position Müllenhoffs nicht "unsinnig", sondern er hat sie weiterentwickelt. Er schreibt: "Although three mythical ancestors are evoked, the conditioons portrayed are nothing other than the ethnic panorama of the current West as seen from a metropolitan angle of vision." Metropolitan meint den Standpunkt von Byzanz, nachher im Text hält er auch einen ostgotischen Verfasser für denkbar.
    Zu Steinacher: Hier wurde ja gar nicht behauptet, dass die Völkertafel eine Darstellung der fränkischen Regna sei. Ist mit Erdteil Europa gemeint? Ich habe das Zitat in dem Verweis nicht gefunden.
     
  14. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Der Umzug des bajuwarischen Dukats? Genau das ist doch hier die Frage.
    Mayr geht halt davon aus, dass die Merowinger sich schon strategische Gedanken gemacht hatten, bevor sie sich zur Errichtung des Dukats entschlossen.
     
  15. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Sofern ich richtig mitgelesen habe, vertritt @Clemens64 genau diese These:

    Die Völkertafel gibt einen Überblick über die geopolitische Lage um 520 aus Sicht des Ostgotenreichs wieder.

     
  16. Stilicho

    Stilicho Aktives Mitglied

    Der Bischofssitz blieb in Augsburg, Regensburg, Salzburg und Freising wurden erst im 8. Jhdt eingerichtet. Das dürfte eine Rolle gespielt haben
     
  17. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Wenn ein Herzogssitz einen Bischofssitz voraussetzt, und das Bistum Regensburg 739 errichtet wurde, wann würde man dann den Umzug ansetzen?
     
  18. Clemens64

    Clemens64 Aktives Mitglied

    Eine faire Einschätzung des gegenwärtigen Forschungsstands findet sich im Handbuch der bayerischen Geschichte, Band 1, Das alte Bayern. Da schreibt Roman Deutinger 2017: "Während man überwiegend eine Zusammenstellung der Liste erst im 7. Jahrhundert annimmt, wurde schon mehrfach vorgeschlagen, sie bereits um 520 anzusetzen. Träfe dies zu, dann enthielten die Völkertafel die älteste Nennung der Bayern."
     
    Zuletzt bearbeitet: 15. Februar 2022
  19. Stilicho

    Stilicho Aktives Mitglied

    Nach längeren Berechnungen bin ich auf 739 oder 740 gekommen.
    Da andererseits die Bischöfe im spätrömischen Reich auch Teile der weltlichen Verwaltung unter sich hatten, spielt der Sitz schon eine Rolle. Es sind beiderseits ohnehin nur Mutmaßungen, ob nun die Aigolfinger anfangs in Augsburg residierten oder auch nicht. Für die Entwicklung dürfte es keine entscheidende Rolle spielen.
     
  20. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    "Arno Rettner vertritt die These, dass die alte rätische Provinzhauptstadt Augsburg nach Theoderichs Herrschaft metropolis geblieben und erst vor 580 von Regensburg als neuen Herzogssitz abgelöst worden sei." (Wilhelm Störmer)
    Die Baiuwaren

    Ich bin noch am Rechnen...
     

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