Ad Boias, qui nunc Baioarii vocantur

Dieses Thema im Forum "Völkerwanderung und Germanen" wurde erstellt von Clemens64, 4. Februar 2022.

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  1. Clemens64

    Clemens64 Aktives Mitglied

    Was die Alemannen betrifft, gehen die Quellen auseinander. Auf der einen Seite steht der Lobredner Ennodius (natürlich nicht Ennius), nach dem die generalitas Alemanniae unter die Herrschaft Theoderichs geraten sei. Auf der anderen Seite schreibt Theoderich etwa 507 an Chlodwig (in den variae II 41, in einer ungelenken deutschen Übersetzung):
    "Allerdings beglückwünschen wir uns zu unserer Verwandtschaft [Theoderich war Chlodwigs Schwager] mit Eurer kriegerischen Tugend, weil ... Ihr ... die alemannischen Stämme mit Eurer siegreichen Rechten unterwarft. Da man nun aber immer an den Urhebern den Ausgang einer zu unterdrückenden Treulosigkeit sieht und die strafbare Schuld der Anführer doch nicht als die aller gerächt werden soll, mäßigt Euer Vorgehen gegen die erschöpften Reste, weil nach Gnadenrecht die zu entkommen verdienen, die, wie Ihr seht, sich in den Schutz Eurer Verwandten geflüchtet haben. Seid nachsichtig gegenüber jenen, die sich demoralisiert in unseren Grenzen verborgen halten!"

    Der Brief legt nahe, dass Theoderich die Oberherrschaft der Franken über die Alemannen prinzipiell akzeptierte. Er lässt nicht erkennen, dass der König daran dachte, mithilfe der Flüchtlinge einen gotischen Konkurrenzstamm der Alemannen zu etablieren. Einen gotisch-alemannischen dux hat es denn auch wohl nie gegeben. Auch deshalb scheint mir der Brief Theoderichs als Quelle gewichtiger als die Lobrede des Ennod.
     
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  2. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Die "fränkische" politische Perspektive hielt Goffart für unsinnig, die von Dir vertretene ostgotische politische Perspektive passt aber nach Goffart ebensowenig ("Practical ruthlessness of this sort is hard to reconcile with composition in Ostrogothic Italy"), letztlich plädiert er für eine byzantinische Perspektive. Die ist aber eigentlich auch nicht haltbar ("the presence in it of Romani among the Istiones may conceivably clash with the exlusive sense that the term 'Roman' had in Byzantine sensibilities.").

    Alle Thesen, die versuchen, der Völkertafel einen geopolitischen Sinn zu unterstellen, sind gescheitert.

    Aaah... falscher Link.
    Hier ist der richtige:
    https://diglib.uibk.ac.at/ulbtirolfodok/download/pdf/2894607?originalFilename=true
    Vergleiche hierzu Maglors Beitrag:
     
  3. dekumatland

    dekumatland Aktives Mitglied

    Daraus wie aus den von dir zusammengestellten Zitaten lese ich nicht heraus, dass um 520 die Franken oder die Ostgoten alle Alemannen beherrscht oder annektiert hätten.

    @Clemens64 hast du das so (alle Alemannen) gemeint?
     
  4. dekumatland

    dekumatland Aktives Mitglied

    Vielleicht wäre hilfreich, diese Grenzen, die Theoderich erwähnt, genauer zu bestimmen. (Ich glaube nicht, dass die Grenzen des ostgotischen Machtbereichs vor 506 bis an den Bodensee oder gar in die ehemaligen agri decumates reichten, wo allerlei Alemannen saßen)
     
  5. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Ich wiederum habe nicht geschrieben, dass das jemand behauptet hätte.

    Es geht schlicht darum, dass aus ostgotischer Sicht bis 537 zumindest ein Anspruch auf die "tributpflichtigen und untertänigen" Alemannen erhoben wurde. Eine ostgotische "geopolitische Völkertafel" aus der Zeit vor 537 hätte sicher die Alemannen der eigenen Einflusssphäre zugeordnet (von den Romani mal ganz zu schweigen).
     
  6. dekumatland

    dekumatland Aktives Mitglied

    Bis wohin? Inklusive der 506 von den Merowingern eroberten "alemannischen Gebiete"? Letzteres wohl kaum.
    Theoderichs Brief verstehe ich so, dass er die fränkische Annexion der Alemannen hinnimmt, aber eine Grenze nennt, die nicht überschritten werden darf (nämlich die zu seinem Machtbereich) - ist das falsch? Übersehe ich da was?
     
  7. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Dein Insistieren auf Gebiete kann ich gerade nicht nachvollziehen.

    In der Völkertafel geht es um Völker, nicht um Gebiete. Und sprechen wir nicht von einer Zeit, in der wir hinsichtlich "Völker" mit einer gewissen Mobilität rechnen müssen?
     
  8. Clemens64

    Clemens64 Aktives Mitglied

    Wo sollten denn alemannische Gebiete gelegen haben, die weder fränkisch noch ostgotisch dominiert wurden? Wo die Grenze zwischen den beiden Gebieten lag, ist mir nicht klar, ich tippe auf die Grenzen der alten römischen Raetia.
     
  9. Stilicho

    Stilicho Aktives Mitglied

    So rein theoretisch sah sich Ravenna doch auch als Suprem der Franken und Burgunden. Danach gäbe eine solche Einteilung aus ostgotischer Sicht ohnehin keinen Sinn.
     
  10. Clemens64

    Clemens64 Aktives Mitglied

    Goffart, conclusions: the Table might have originated in Ostrogothic Italy, but makes better sense if traced to Constantinople.

    Warum er Ostrom bevorzugt, kann ich dem Text nicht recht entnehmen, ich habe aber einen Verdacht: Ein Hauptanliegen Goffarts ist ja generell die Feststellung, dass zwischen den barbarischen Verbänden keinerlei Gemeinschaftsgefühl existiert habe. Ein solches Gemeinschaftsgefühl könnte aber aus der Tatsache herausgelesen werden, dass die beiden Gotengruppen mit Wandalen und Gepiden zusammen in einer Gruppe auftauchen, falls der Autor selbst Gote war.
     
  11. dekumatland

    dekumatland Aktives Mitglied

    (porca miseria, es wird unübersichtlich, und wir scheinen allesamt aneinander vorbei zu reden, garniert evtl mit absichtlichem missverstehen)
    Solche Gebiete habe ich weder erfunden noch erwähnt, insofern kann ich mit dieser Frage nichts anfangen.

    (1) die Alemannen, dreist expandierend ohne zentrale Führung, waren einmal ohne fränkische und ostgotische Chefs unterwegs (bis über die Mitte des 5. Jhs. hinaus)
    (2) Ende des 5. Jhs. kriegten sie von Chlodwig bei Zülpich auf die Mütze
    (3) 506 kriegten sie gewaltig von den Merowingern auf die Mütze (Verlust der Selbständigkeit)
    Soweit richtig oder falsch?
    (4) laut Theoderichs Brief flüchteten wohl nicht wenige Teile der besiegten Alemannen in ostgotischen Herrschaftsbereich, dito 506
    (5) die Merowinger tasteten die ostgotische Grenze erstmal nicht an; nach 536 erhielten sie vom Ostgotenkönig Witichis die "ostgotischen Restalemannen"
    Noch richtig so weit?
    Daraus folgt, auch wenn die Grenzen spätantiker Regna nicht so gründlich festgelegt waren und auch wenn die spärlichen Quellen von "Völkern" schreiben, dass zwischen der Schlacht von Zülpich und 536 weder die Franken noch die Ostgoten "alle Alemannen" beherrscht hatten (von in dieser Zeit freien alemannischen Gebieten, die weder fränkisch noch ostgotisch dominiert sind, ist nirgendwo die Rede)

    Warum das für unsere Diskussion interessant sein könnte? Weil gelehrte Historiker wie Wolfram, Pohl, Geary u.a. die Ethnogenese der Bayern in diesen Zeitraum verorten und wenigstens teilweise in die in Frage kommenden Gegenden (Raetien, Norikum) - und wir gucken halt diskutierend möglichst viel an, was über diesen Zeitraum in besagten Gegenden vorhanden ist.
    ...die problematische rekonstruierte Völkertafel scheidet als Infomaterial für die erste Hälfte des 6. Jhs. aus; Iordanes Bayernerwähnung ist eher spätere Interpolation - Misto grande: wir haben keine Quellen zu den Bayern in der ersten Hälfte des 6. Jhs. und die exakte Grenze zwischen expandierenden Franken und Ostgoten ist unklar.
     
  12. Stilicho

    Stilicho Aktives Mitglied

    ... was ganz vorsichtig dafür sprechen könnte, dass es sie schlichtweg nicht gab und sie erst mit der Ernennung Graibalds um 550 auf der Landkarte auftauchen.
     
  13. Maglor

    Maglor Aktives Mitglied

    Die Aussageabsicht der "fränkischen Völkertafel" wird erst offensichtlich, wenn man auch den Großvater der Völker betrachtet. Er blieb in diesem Thread bisher unerwähnt.
    Die überlieferten Schreibwesen sind wie immer vielfältig.
    • Primus rex romanorum Analeu
    • Primus rex romanorum Allanius dictus est
    • Mulius rex
    • Mulius rex
    • Alaneus dictus est homo
    Die Namen sind wahrscheinlich eine Verderbung und Verballhornung des Mannus, bekannt aus der Germania des Tacitus. Die Namen der Söhne in der "fränkischen Völkertafel" ähneln den Schreibweisen der Hermionen, Istväonen und Ingväonen bei Tacitus auch kaum noch. Dieser germanische Erzvater Pseudo-Mannus wird hier zum ersten König der Römer erklärt - also gleichzeitig eine Art Pseudo-Romulus. Die in der Völkertafel benannten Enkel (d.h. die Völker) sind auch die Erben Roms! Nebenbei werden die Römer und Brite oder Bretonen auch zu Abkömmlingen des Pseudo-Mannus erklärt.
    Eventuell hat der Bücherwurm den Namen "Mannus" etymologisch sogar richtig gedeutet, denn ein germanische Wort "Mannus" bedeutet offensichtlich so viel Mann/Mensch oder lateinisch homo.

    Nennius verbindet in seiner "Geschichte der Briten" anscheinend mehrere Version, entfernt den Königstitel, macht Pseudo-Mannus dafür aber zum Abkömmling Noahs und durch ein Hyperkorrektur zum Alanen: "Primus homo venit ad Europam de genere Iapheth: Alanus"
    Der Alane ist der erste Mensch, der nach Europa kam. Er stammt von Japhet ab - und somit auch von Noah!
    Mit Noah verwandt zu sein ist im frühmittelalterlichen Britannien extem wichtig, denn wer im biblischen Stammbaum falsch abgebogen ist, muss ein Monster sein. Das Monster Grendel der Beowulf-Sage gilt dort als ein Nachfahre Kains - des verfluchten Sohns von Adam.
    Die Bearbeitung in der britschen Geschichte zeigt auch, dass die Propaganda der Völkertafel in Westeuropa universell verwertbar ist, weil einfach allen christlichen Völkern Westeuropas Honig um den Mund geschmiert wird.

    Dass die echten Vandalen nach Afrika übergeschifft sind, hat niemanden interessiert. Sie gelten einfach auch als Europär, Abkömmlinge von Japhet, Pseudo-Mannus, Pseudo-Romulus usw.
    Die Bajuwaren gehören ebenfalls zu dieser illustren Abstammungsgemeinschaft.
    Es handelt sich viel mehr um einen antiken und frühmittelalterlichen Topos, dass die Barbarenstämme nach Flüssen benannt seien.
    Isidor von Sevilla erfindet anscheinend sogar Flüsse um die Namen der Alemannen und Alanen pseudoetymologisch zu erklären.
    Die Alemannen wären nach dem Fluss Lemannus benannt. Das könnte noch eine mutwullige Verwechslung mit dem Genfersee (Lacus Lemanus) sein. Isodor ist auch der erste, der Alemanni statt Alamanni schreibt.
    Die Alanen sind nach Isidors Meinung nach dem Fluss Lanus nördlich der Donau benannt. Dieser Fluss ist jedoch schon frei erfunden.

    Es wäre durchaus möglich, dass der Geograf von Ravenna oder ein moderner Historiker eigens einen Flussnamen erfunden hat, um den Namen der Bajuwaren zu erklären. Das wäre sicher ganz im Sinne Isidors.;)

    Die Herleitung der Stammesnamen von realen oder fiktiven Flussnamen ist jedenfalls eine populäre Methode und gewissermaßen ein Gegenpol zur Erfindung von Sagenkönigen und Stammvätern, nach denen die Stämme benannt sein sollen..
    Die Bajuwaren werden ebenfalls durch Vennantus Fortunatus zuerst als lästige Wegelagerer beschrieben.
    Was der Dichter über die Bajuwaren schreibt, klingt eher nach einem Dissens mit den Christen in Augsburg. Wer auch immer das Afra-Heiligtum in Augsburg damals unter Kontrolle hatte, es wird ihm nicht gefallen haben, dass irgendwelche Bajuwaren den Pilgern auflauern.
    Vielleicht haben die Bajuwaren wirklich als Straßengang angefangen, die die Pilger ausnimmt.:D
     
    Zuletzt bearbeitet: 15. Februar 2022
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  14. dekumatland

    dekumatland Aktives Mitglied

    Sie hat eine offensichtliche Aussage, das ist ja schon mal erfreulich. Weniger erfreulich ist, dass beide - Tafel und Aussageabsicht - nicht als Quelle zur 1. Hälfte des 6. Jhs. taugen und damit auch nicht über die Entstehung der Bayern.

    :D:D:DWenn man es sich auswählen darf, dann votiere ich sofort für diese Ursprungslegende! :D:D:D (heute noch ist das bayrische Bier an diversen Wallfahrtorten nicht billig, die Pilgerabzocke hat Tradition oder ist gar Traditionskern) :D:D:D
     
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  15. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Zumindest ein starkes Argument nennt er ja: Practical ruthlessness of this sort is hard to reconcile with composition in Ostrogothic Italy, but one would expect no less from a Byzantine compiler.

    Die Beweislage für Konstantinopel ist gleichwohl eher dürftig, die fürs Ostgotenreich aber erst recht.

    Diese Gruppierung ist aber halt nach Ausweis der Quellen byzantinisch. Um sie den Goten in die Schuhe zu schieben, muss man schon wieder um die Ecke argumentieren.
     
  16. Clemens64

    Clemens64 Aktives Mitglied

    Nee, eher geradeaus: die Stämme werden wirklich eine Sprache gesprochen haben und teilten wirklich eine Konfession. Das wird ihnen schon bewusst gewesen sein
     
  17. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Die Burgunder wären an dieser Stelle auch noch zu erwähnen. Man weiß ja schon seit längerem, "daß das Burgundische mit dem Gotisch-Gepidisch-Wandalischen auf das engste verwandt und daher reiner Vertreter der ostgermanischen Sprachfamilie ist. Es ist geradezu erstaunlich, wie wenig sich der Lautstand des Burgundischen von dem des Gotischen unterscheidet..." (Ernst Gamillscheg)
    Zumindest den benachbarten Ostgoten müsste das doch auch schon aufgefallen sein...
     
  18. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Die beiden Manuskripte, die den Analeu/Alanius zum Römerkönig machen, stellen allerdings keine Verbindung zu den drei Brüdern her. Die Römer stammen von Istio ab, von wem Istio abstammt, wird nicht gesagt.

    Und zwei weitere Manuskripte nennen den "Großvater" überhaupt nicht.
     
  19. Clemens64

    Clemens64 Aktives Mitglied

    Man soll die Gebeine der Afra verehren. Wenn der Baier nicht den Weg versperrt, kann man dann über die Alpen gehen. Klingt das nicht so, als hätte das bairische Gebiet erst nach Augsburg angefangen?
     
  20. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Das könnte man so interpretieren, andererseits gehört der Lech schon zur Baiuaria:

     

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