Anarchismus und Liberalismus/Sozialismus?

A

Anoo

Gast
Hallo,

ich arbeite an einer Präsentation über den Anarchismus und bin dabei auf folgende Frage gestoßen:
Ist der Anarchismus, wie auf viele Seiten, etwa der Wikipedia, behauptet wird, eine eigenständige Entwicklung neben den Sozialismus und Liberalismus oder gibt es nicht viel mehr Überschneidungen zwischen ihn und den üblichen Formen der politischen Auseinandersetzung. Abgesehen vielleicht vom Konservativismus, Klerikalismus und Monarchismus, da diese Weltanschauungen/politische Strömungen doch zu sehr auf das Element der Autorität aufbauen.

Aber es gibt doch deutliche Überschneidungen:
- Zum Liberalismus hat der A. eindeutig 2 Gemeinsamkeiten. Die Betonung der Freiheit als ausschlaggebenden Wert und dass das Individuum in den Mittelpunkt rückt.
Und es scheint mir auch, dass diese beiden Strömungen in Monarchien und solchen Regimen wie den Kirchenstaat gemeinsame Ziele und Interessen hätten.
- Der Frühsozialismus und der A. dagegen haben die Ablehung des Eigentums gemeinsam. Etwas, dass den Liberalismus dieser Tage wohl weitgehend fremd war (er hielt an der Vorstellung von Privateigentum fest; im Laufe der Zeit, bis Mill oder Rawls sollte das ganze etwas kritischer behandelt werden, aber letztlich doch positiv). Auch das Bestreben, die Eigentumsordnung politisch zu verändern war den Sozialisten und den Anarchisten gemeinsam.

Kann man also vom Anarchismus als Zwischenform von Liberalismus und Sozialismus reden? Oder gar als Unterform einer dieser beiden Strömungen?
 
Der Anarchismus ist weder Zwischenform, noch Unterform dieser beiden Strömungen. Eher kann man ihn sowohl als Weiterentwicklung des Liberalismus in Richtung 'sozial' sehen – andererseits aber ebenso als Weiter/ Parallelentwicklung des Sozialismus. Der Anarchismus weist zwar Parallelen zum Sozialismus auf, lehnt aber entschieden zb die sozialistische Vorstellung einer Diktatur des Proletariats ab. Ebenso lehnt der Anarchismus die Durchführung einer Revolution *für* die Arbeiterklasse und die Idee einer 'Vorhut der Arbeiterklasse' als revolutionäres Subjekt ab.

Der Startschuß für den politischen Anarchismus in Europa kam von Proudhon (Eigentum ist Diebstahl – ca Anfang der 1840er Jahre), der den Besitz befürwortet, aber verbrieftes Eigentum ablehnt. Der Anarchismus fordert, daß die Arbeiterklasse zu gleichen Teilen Fabriken besitzt (zb in genossenschaftlichen Strukturen), während der Sozialismus in Staatseigentum überführen will und der Liberalismus verbrieftes Eigentum als Freiheit betrachtet. Der Liberalismus befaßt sich hingegen gar nicht mit der Frage, wie die Eigentumsverhältnisse auf die individuelle Freiheit einwirken.

Der Anarchismus geht von einer notwendigen Selbstorganisation der Menschen nicht nur am Arbeitsplatz aus, sondern auch auf Gemeinde- bzw Stadtteilebene. Er befürwortet basisdemokratische Strukturen und eine partizipative Demokratie auf Konsensbasis und lehnt repräsentative Systeme mehr oder minder ab; diktatorische Systeme mit hierarchischen Strukturen, die von oben nach unten anordnen, lehnt er entschieden ab.

Allerdings arbeiteten in der Ersten Internationale durchaus Sozialisten, Anarchisten, Sozialdemokraten, Kommunisten, Syndikalisten und Labour-Anhänger zusammen. Auch sogen Frühsozialisten waren hier vertreten. In Deutschland war diese Zusammenarbeit auch in den Gewerkschaften gegeben.
 
Allerdings arbeiteten in der Ersten Internationale durchaus Sozialisten, Anarchisten, Sozialdemokraten, Kommunisten, Syndikalisten und Labour-Anhänger zusammen. Auch sogen Frühsozialisten waren hier vertreten.

Bitte mit den Begriffen aufpassen! Sozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten hatten sich zum Zeitpunkt der I. Internationalen noch nicht getrennt. Der "Kommunismus" spaltete sich erst nach dem ersten Weltkrieg vom Sozialismus und der Sozialdemokratie ab. Die Sozialdemokratie als eigenständige ideologische Richtung kann man erst nach dem zweiten Weltkrieg in der Entwicklung der Westeuropäischen Sozialistischen Parteien ausmachen.
Anarchisten und Sozialisten arbeiteten allerdings tatsächlich bis 1872 eng zusammen. Das Zerwürfnis zwischen dem Anarchistischen Theoretiker Bakunin und Karl Marx zerschlug allerdings dann die I. Internationale.
 
Bitte mit den Begriffen aufpassen!
:räusper:

Sozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten hatten sich zum Zeitpunkt der I. Internationalen noch nicht getrennt.
Die genannten ideologischen Richtungen dagegen gab es bereits zum Zeitpunkt der Ersten Internationalen, auch wenn Übergänge fließend sein konnten. Da der TE sich aber mit der Erstellung einer Präsentation befaßt, können wir davon ausgehen, daß er bereits über einen gewissen Kenntnisstand verfügt.


Das Zerwürfnis zwischen dem Anarchistischen Theoretiker Bakunin und Karl Marx zerschlug allerdings dann die I. Internationale.
Es war dies jedoch weniger ein persönliches Zerwürfnis (wenngleich dies auch gegeben war) als ein politisches, da Bakunin und Marx in grundlegenden 'ideologischen' Punkten andere Ansichten entwickelt hatten. Daß dies von bestimmter Seite gerne als Sache persönlicher Animositäten allein dargestellt wird, ändert an den entscheidenden sachlichen Differenzen nichts:

Während Marx für eine Organisation der noch zu bildenden Arbeiterparteien in den Einzelstaaten unter zentralistischer Führung der Internationalen eintrat, war Bakunin gemäß den Vorstellungen des Anarchismus für strikte Herrschaftslosigkeit und gegen jegliche Form von zentraler Führung durch irgendeine Partei oder Klasse. Dieser grundsätzliche Konflikt der damals profiliertesten Vertreter der internationalen sozialistischen Bewegung führte schließlich auch zur Spaltung der IAA auf dem Den Haager Kongress 1872, nachdem sich die Marxsche Position 1871 in London durchgesetzt hatte.
Internationale Arbeiterassoziation ? Wikipedia
 
Ich weiß nicht, wo du die "Trennung" zwischen Kommunisten und Sozialisten bei der ersten Internationalen sehen willst. Tatsache war doch, dass die Ideologie des Kommunismus erst mit dem großen Umbruch am Anfang des 20. Jahrhunderts auftaucht. Zuvor wurden die Begriffe Kommunist, Sozialist und Sozialdemokrat gleich verwendet. Dass es zuvor schon leichte Unterschiede bei der Suche nach dem "richtigen" Weg zum Kommunismus gab kann ich zugeben, daraus aber noch zu Marx Lebzeiten eine Trennung von Kommunismus und Sozialismus zu konstruieren halte ich für extrem fragwürdig. Immerhin war man sich sowohl im Ziel (Klassenlose Gesellschaft) als auch im Mittel (Revolution mit folgender Diktatur des Proletariats einig). Grundsätzlich gab es Unterschiede in der Radikalität, doch waren die Lehren von Marx wohl noch relativ nah an Marx selber angelehnt, was er auch durch seine persönliche Präsenz gesichert wurde.
Erst um 1890, mit der Revisionismusdebatte taten sich wirkliche Gräben zwischen reformistischen Sozialisten und revolutionären Kommunisten auf, die im frühen 20. Jahrhundert zum Bruch beider Lager führten.

Bleibt die Frage nach den non-Marxisten. Es gab durchaus Nicht-Maxisten in der ersten Internationalen, die keine Anarchisten waren. Sie kamen zumeist aus einem pragmatischerne Gewerkschaftlichen Umfeld, oder entstammten Arbeitervereinen und waren nicht ideologisch auf Marx Thesen festgelegt. Wenn man Marx Anhänger in diesem Zusammenhang als Kommunisten sieht und jene "Pragmatiker" als Sozialisten/Sozialdemokraten mag man eine Unterscheidung haben, die allerdings nichts mit der modernen Unterscheidung oder der historischen Entwicklung der europäischen Arbeiterbewegung zu tun hat.
 
Du legst mir in jedem Beitrag Äußerungen in den Mund, die ich nicht getätigt habe und antwortest weniger auf meine Beiträge, sondern auf das, was du herauslesen möchtest. Auf diese Weise können wir aber nicht diskutieren und ich habe auch keine Neigung, gegen solche ins Demagogische tendierenden Taktiken anzuargumentieren.

Daher nur so viel:

Immerhin war man sich sowohl im Ziel (Klassenlose Gesellschaft) als auch im Mittel (Revolution mit folgender Diktatur des Proletariats einig).

Auf europäischer Ebene gesehen: nein - gerade im Punkt der Diktatur des Proletariats nicht.
Was nicht sonderlich verwunderlich ist, da Marx selbst zwei Definitionen dieser Diktatur beitrug: a) in der Art der Pariser Commune, b) nach dem Sieg einer Partei des Proletariats an den Wahlurnen übt diese die Diktatur für das Proletariat aus.


... doch waren die Lehren von Marx wohl noch relativ nah an Marx selber angelehnt...
:grübel: Ja, an wen denn sonst?
 
Okay, vielleicht war ich etwas zu naiv, das ganze mal auf die Bezeichnung "Sozialismus" einzugrenzen.

Ja, der Kommunismus und die Sozialdemokratie waren eng verbunden. Karl Marx kritisiert so das Gothaer Programm, noch Lenin war Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands.

Dennoch muss ich einige Fragen dazu stellen:
1. Ab wann galt die Gleichung Kommunismus = Marxismus überhaupt?
Marx ist mW recht kritisch gegenüber den Anarchismus eingestellt, die übrigen Kommunisten? Sie basierten doch auf Roussous Philosophie?
2. Wie hat der Sozialismus sich weiterentwickelt? Gab es überhaupt eine durchgehende Strömung des Sozialismus, unabhängig vom Kommunismus und/oder der Sozialdemokratie, deren Verhältnis zum Anarchismus man darstellen könnte?
3. Das Verhältnis zwischen Sozialdemokratie und Anarchie erledigt sich ja fast von allein. Oder gab es da größere Auseinandersetzungen?
 
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