Zu der Ereignisgeschichte, wichtigen Personen und Organisationen ist einiges im Internet zu finden. Die Fragestellung hat aber einige interessante Aspekte, die etwas tiefer gehen, als in Wikipedia zu finden ist.
Indochina galt unter französischer Herrschaft um 1900 als pazifiziert, nur einige "Banden" war nach französischer Ansicht in unwegsamen Gebieten der Kolonie aktiv. Das änderte sich in den nächsten Jahren. Was also waren die Auslöser für antikoloniale Bewegungen, für einen speziell "vietnamesischen Nationalismus"?
Nachzudenken ist zunächst über die Verwaltungsstruktur und das Gebiet "Indochina". Hier lässt sich bereits keine einheitliche antwort finden, war doch das Gebiet in der Bevölkerung sehr unterschiedlich zusammengesetzt. Es gab die eher indisierten Gebiete des Westens des Kolonialgebiets (Khmer, Laos), Cochinchina im Süden, die annamitischen Gebiete in der Mitte Vietnams, und das stark chinesisch geprägte Tonkin im Norden. Hier muss man reduzieren: die Frage der antikolonialen Bewegungen sollte man zunächst auf die vietnamesischen Gebiete Cochinchina, Annam und Tonkin eingrenzen, die Basis des Widerstandes auf den "vietnamesischen Nationalismus". sonst wird das bild völlig unübersichtlich.
Allgemein wird dazu das eingeführte franco-annamitische Bildungssystem als wichtiger, wenn nicht oft als entscheidender Faktor gesehen, aus dem sich die antikolonialen Bewegungen bildeten (die später, nach Vertreibung der Kolonialmacht Frankreich einen Brennpunkt des Kalten Krieges darstellten). Das ist aber wohl nur ein Aspekt, die von Frankreich eingeführten "Elementarschulen" erreichten 1937 rd. 400.000 Menschen bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 25 Mio., es gab zwei Gymnasien in Saigon und Hanoi, die Universität in Hanoi wurde 1919 wieder eröffnet. Wichtig ist eine verbliebene Ungleichheit: Die Abschlüsse wurden den französischen nicht gleichgesetzt, der Dualismus erlaubte nur einer kleinen Mittel- und Oberschicht des Kolonialsystems, ihre Kinder zu höherer Schulbildung zu führen. Daraus entstand ein kleineres akademisches Proletariat, dessen Lage durch unterschiedliche Besoldungs- und Karrierebedingungen in der Kolonie verschärft wurde.
Das ist aber nur ein Aspekt der Entwicklung.
Parallel entwickelte sich die Agrarwirtschaft der Kolonie, insbesondere im Reis- und Kautschukanbau mit großen Plantagen. Das koloniale Wirtschaftssystem speziell im Süden hatte großen Bedarf an Arbeitskräften, bei einem Rekrutierungssystem in den armen Bevölkerungsteilen unter schlimmen Bedingungen und hohen Sterblichkeitsraten (auch wenn das durchaus mit harten Arbeitsbedingungen in anderen asiatischen Ländern vergleichbar war). Gewerkschaften waren verboten, jedoch informell selbst mit Streiks auf den Plantagen aktiv). Aus der Agrarwirtschaft entstand eine Mittell- und Oberschicht, die einerseits unter der kolonialen Diskriminierung litt, andererseits aber ihren wirtschaftlichen Erfolg auf das wirtschaftliche Kolonialsystem stützte.
Es bildeten sich nach 1900 kleine, elitäre Reformgruppen, die zT ihren Rückhalt außerhalb der Kolonie hatten (China, Japan, Indien). Bezeichnend für diese Eliten war der Ansatz, wirtschaftliche Aktivitäten zu entfalten, zB nach japanischen Vorbild, oder entsprechend der indischen Swadeshi-Bewegung (regionales Wirtschaften). Parallel kam es auch immer wieder zu Agrarunruhen. Wichtige Personen für diese Frühphase:
Phan Boi Chau - Wikipedia, the free encyclopedia
Phan Chu Trinh - Wikipedia, the free encyclopedia
Kriegsende 1918, Wilsons Selbstbestimmungsrechte, Russische Revolution, Nationale Entwicklungen in China prägten dann die Phase der nationalen vietnamesischen Bewegungen in der Zwischenkriegszeit, auf den oben dargestellten wirtschaftlichen und kolonial-gesellschaftlichen Wurzeln. Frankreich schien auch die Kolonialpolitik zu liberalisieren, insbesondere wurde die politische Einbeziehung der Bevölkerung verbessert, die Wählerschaft erweitert und die Zahl der einheimischen Abgeordneten vergrößert. Das war ein wichtiger Vorgang, der die politische Agitationsbasis für den nationalen Widerstand verbreiterte und erweiterte Einflussmöglichkeiten schaffte.
Frankreich verpasste vor Gründung der
Kommunistischen Partei die Chance, mit den
Konstitutionalisten zusammenzuarbeiten, die große Teile der agrarischen Oberschicht, der Beamtenschaft, der Bildungselite 1926/30 hinter sich scharrten. Die Politik der Depolitisierung war
1930 gescheitert.
Die Nationalpartei Vietnams war nun im chinesisch geprägten Norden aktiv (auch von Ideen sun-Yat-Sens beeinflusst, die Kuomintang Vietnams), die
Kommunistische Partei entstand 1930 als Zusammenschluss von Splittergruppen in Hongkong. Erfolge gelangen auch im Süden, nachdem sich die revolutionären Nationalisten auch dort neu organisiert hatten.
Der Sieg der Volksfront in Frankreich 1936 weckte auch Hoffnungen auf Reformen in Vietnam. Tatsächlich entließ der neue Governeur
Brévié die Masse der politischen Gefangenen, politische Parteien wurden erlaubt, die Steuerlasten vermindert, Sozial- und Arbeitsgesetzgebung aus Frankreich übernommen. Volksfront, Kommunistische Partei und Bürgerliche Oppositionelle arbeiteten zusammen, obgleich die vietnamesische "Versammlung der Generalstände" bereits weitgehend von den wesentlich aktiveren und besser organisierten kommunistischen Zellen unterwandert war.
JSTOR: An Error Occurred Setting Your User Cookie
Gemäßigte Nationalisten zogen sich vom Kongress zurück, der schließlich auch verboten wurde. Der kolonial-repressive Kurs Frankreichs verschärfte sich schließlich wieder 1938, mit der Krise des Vilksfront-Experiments in Frankreich selbst, und nach dem japanischen Angriff 1937 auf China, der den kommunistischen Zellen weiteren starken zulauf verschaffte.
Waren es also (1.) vor 1914 iW Einzelpersonen, aus dem "Bildungsexperiment" Frankreichs in der Kolonie stammend, und (2.) waren es 1919/30 iW Splittergruppen, die antikolonialen Widerstand trugen, Terroraktionen durchführten und Politisierung betrieben, so verschafften (3.) die politischen Reformen und auch der Kontext der Weltwirtschaftskrise in der kolonialen Wirtschaft und Gesellschaft Vietnams die Grundlage für Massenparteien und breiten Zulauf zu den nationalistischen Bewegungen.
Erst in dieser Phase wurden die bäuerliche Bevölkerung, rekrutierte Plantagenarbeiter, das kolonial entstandene Kleinbürgertum und das "Bildungsproletariat" durch die nationalistischen Bewegungen angesprochen und breit erfasst. Diese Gruppen warten frustriert durch die koloniale Verwaltung und Politik, wirtschaftlich bedroht durch die Rahmenbedingungen (auch Weltwirtschaftskrise).
Die nationale Emanzipationsbewegung, anti-kolonial, (wenn man überhaupt von diesem "Dach" sprechen will) war zunächst
völlig zersplittert, und sortierte und vereinigte sich unter dem Druck der verschiedenen, oben beschriebenen Entwicklungen. Dabei gab es auch exotische, eher religiöse Separatistenbewegungen, wie den Caodaismus (eine religiöse Erweckungsbewegung, gegen Traditionalismus, die Übernahme westlicher Werteordnungen ablehnend, und 1938 rd. 300.000 Anhänger zählend), die in dieser Darstellung noch garnicht beachtet worden sind.
Antikolonialismus hatte in Vietnam also viele Facetten. Frankreich war es in der Zwischenkriegszeit nie gelungen, eine gemäßigte Alternative der sozialrevolutionären Bewegungen anzubieten.
Wenn man nun eine provokative These anschließt:
Waren die französischen Bildungsreformen, das franco-annamitische Schulsystem
die entscheidende Wurzel der antikolonialen, nationalistischen Bewegungen in Vietnam (bzw. der weiteren Gebiete Indochinas)? Brachten sie die entscheidenden Personen hervor, die diese Ereignisgeschichte prägten?
Oder waren es viele verschiedene Faktoren, die den antikolonialen Widerstand formierten, und die den vietnamesischen Nationalismus prägten?
Quelle: siehe oben.