Antisemitismus nach dem 1. WK

Hauptträger des Antisemitismus waren die völkischen Verbände: [...] Im 1. WK schürten diese Verbände, die wiederum im Offizierskorps besonders starken Einfluss hatten, den Antisemitismus.
Hier ist insb. die Agitation um die sog. Judenzählung vom 1.11.1916 zu nennen. Die Juden wurden verdächtigt, "feige Drückeberger" und Schieber zu sein, die mit knappen Lebensmitteln Geschäfte machen [...]
Meiner Meinung nach liegt der Schlüssel zum Verständnis der Radikalisierung des Antismitismus in der Zeit des 1. WK, in der von völkischer Seite unentwegt die Propagandatrommel gegen "die Juden" geschlagen wurde und das Schicksal des Landes mit dem "Kampf gegen die Juden" verknüpft wurde.

Als Reaktion auf die Ungerechtigkeiten "gewisser" Strömungen wurde im Januar 1919 von jüdischer Seite zur Gründung des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten aufgerufen mit dem Ziel "die Scheidewände, die Verhetzung und Verleumdung errichtet haben, um[zu]stürzen. Hat er [der Reichsbund] seine Ziele erreicht, hat er erlangt, daß uns statt Haß und Verketzerung Recht und Gerechtigkeit wird, wir lösen ihn auf. [...] Auf, ihr jüdischen Frontsoldaten, schart euch um uns zu diesem Kampfe um unsere Ehre und unser Recht als Deutsche und Juden!" (Ulrich Dunker: Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten 1919- 1938,... Ddorf 1977, S. 186 ff. in L. Heid, J. Schoeps: Juden in Deutschland, München 1994, S. 242)
 
Naja, aber der Antisemitismus verbreitete sich schon Ende des 19. Jh. vermehrt in Deutschland, erreichte jedoch seinen Höhepunkt nach dem ersten WK. ab 1919!
 
Ich glaube, hier muss man etwas differenzierter rangehen.

Ja, es gab Antisemitismus in Europa seit der Antike. Im Mittelalter war er eher religiös motiviert, in der Neuzeit dann eher vor dem Hintergrund von diversen Rassenlehren.

ABER: gerade während der Weimarer Republik (vor allem wohl in den "Goldenen Zwanzigern" konnten sich Juden in bis dahin nie da gewesenem Maß in die nichtjüdische Gesellschaft integrieren (nicht, weil sie vorher nicht gewollt hätten, sondern weil man sie jetzt eher ließ!). Die Zahl der Ehen zwischen Juden und Christen stieg usw.

Klar gab es radikale Gruppen, die immer noch dem Antisemitismus "huldigten", aber mir scheint die Tendenz einer gewissen Phase der Weimarer Republik eher in Richtung Integration zu gehen und der Nationalsozialismus war da eher ein Rückfall als die Spitze einer ständig sich verschärfenden Entwicklung.

Die ersten Versuche der Nationalsozialisten, jüdische Geschäfte durch Boykottaufrufe zu treffen hatten bei weitem nicht das erhoffte Echo in der Bevölkerung. Man kann sich ja auch fragen, warum Hitler seine Drohungen bzgl. der Juden nicht gleich von 1933 an in die Tat umsetzt ... Angst vor dem Ausland - sicher. Aber auch der Gedanke, dass "die Deutschen" ihm in seiner Radikalität wohl nicht folgen würden. Daher eine schrittweise Verschärfung der "Judenpolitik" ... ein Austesten, wie weit das Volk mitgeht.

Von daher würde ich der Aussage, dass der Antisemitismus "sich schon Ende des 19. Jh. vermehrt in Deutschland [verbreitete], ... jedoch seinen Höhepunkt nach dem ersten WK. ab 1919" erreichte nicht so einfach zustimmen.

Es brauchte schon ziemlich viel Propaganda und die Anreize wirtschlaftlicher Art, die (obwohl wohl etwas überspitzt, aber doch ganz treffend) Götz Aly in "Hitlers Volksstaat" sehr differenziert ausführt, bis "die Deutschen" der Judenpolitik der Nationalsozialisten folgten.
 
Man muss Bedenken, dass die deutschen Juden im Jahre 1918 einen Höhepunkt an Gleichberechtigung erreicht hatten, nach ihrer Teilname am Weltkrieg so gut in Staat und Gesellschaft integriert waren wie niemals zuvor. Der "Reichsbund jüdischer Frontsoldaten" war an sich durchaus eine deutsch-nationale Organisation. Sie kämpfte nicht für die Judenemanzipation, die war 1918 bereits erreicht.

Zwar gab es im Kaiserreich bereits eine Antisemitsche Volkspartei, aber diese propagierte keine Rassentheorie sondern verstand sich eher sozial-revolutionöer "gegen Juden und Junker". Zielgruppe war vor allem die bäuerliche Landbevölkerung. Es gibt jedoch keine mir bekannte Traditionslinie zur NSDAP. (Liegt vielleicht auch daran, dass die Antisemitsche Volkspartei eher in Hessen zulauf fand, währen die NSDAP anfangs vor allem in Bayern aktiv war.)

Grundlage für die antisemitische Rassentheorie der Nazis, sind eher die pseudo-wissenschaftlichen bis esoterischen Schriften des Wagner-Schwiegersohns Houstan Stewart Chamberlain und die Ostara-Hefte des össterreichischen Esoterikers "Jörg Lanz von Liebenfels".
 
Zuletzt bearbeitet:
... Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten...
Ein guter Hinweis, Hulda! :winke:
Noch 1932 (!) erschien im Verlag "Der Schild", dem Bundesorgan des Reichsbundes, das Buch über "Die jüdischen Gefallenen des deutschen Heeres, der deutschen Marine und der deutschen Schutztruppen 1914-1918", in dem - nach Wohnorten gegliedert - mehr als 10.000 (von 12.000) Namen mit Geburts- und Todestag aufgeführt sind. "Das edelste deutsche Blut ist das, welches von deutschen Soldaten für Deutschland vergossen wurde", schrieb der Bundesvorsitzende...

ABER: gerade während der Weimarer Republik ... konnten sich Juden in bis dahin nie da gewesenem Maß in die nichtjüdische Gesellschaft integrieren (nicht, weil sie vorher nicht gewollt hätten, sondern weil man sie jetzt eher ließ!).
Sie hatten jetzt auch die Chance, sich politisch stärker auf Seiten der Demokraten zu exponieren. Paul Mendes-Flohr schreibt (Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 4, S. 28 f.): "Die Revolutionen, die zwischen November 1918 und Mai 1919 über ein geschlagenes, ausgeblutetes Deutschland hinwegfegten, sahen Juden in vorderster Front. Ja, die auffallende Präsenz von Juden in diesen Wirren bereitete der deutschen Judenschaft namenlose Verlegenheit. [...] Viele Juden teilten damals böse Ahnungen, daß der plötzliche Sprung von Juden auf die politische Bühne nichts Gutes verhieß. In den Augen von Juden wie Nichtjuden waren die Revolutionen [...] überwiegend eine Sache von Juden."

Die Verbindung von militärischer Niederlage und Revolution wurde von den Rechten sehr bald an den jüdischen Protagonisten festgemacht, und deshalb war es kein Zufall, dass von den Mordaktionen gegen Politiker vor allem solche jüdischer Herkunft betroffen waren - von Luxemburg über Haase und Eisner bis zu Rathenau und anderen.

Die "Integration" fand auf einem sehr dünnen Eis statt, das nach 1929, als neue ökonomische Faktoren hinzutraten und hinreichend skrupellose Demagogen mehr Gehör fanden, sehr bald brach.
 
Richtig. Aber mir ging es eben darum zu zeigen, dass von einem kontinuierlichem Ansteigen des Antisemitismus in Deutschland seit Ende des 1. Weltkriegs eben nicht gesprochen werden kann. Und nach den Anfangswirren der Weimarer Republik (in die die meisten Morde fielen) gab es diese Integration durchaus.

Darüber hinaus: Wurden Luxemburg, Eisner usw. ermordet, weil sie Juden waren - oder weil sie "Kommunisten" waren (klar, Rathenau war kein Kommunist - aber kann man die ganzen Morde dann in einen Topf werfen und "Antisemitismus" drauf schreiben)?

Kein Zweifel, den Juden wurde von den Rechten die Schuld an der Niederlage gegeben, an der Schmach von Versailles - aber wie laut waren diese Thesen 1925 wirklich zu hören? 1926?

Eben erst wieder ab 1929 - und "die Deutschen" mussten dann scheinbar auch erst wieder durch diese Demagogen auf den Antisemitismus "eingestellt" werden.

Die spätere Gleichsetzung Hitlers "Juden = Kommunisten" war von daher auch sicher ein gerissener Schachzug.
 
Zuletzt bearbeitet:
Die spätere Gleichsetzung Hitlers "Juden = Kommunisten" war von daher auch sicher ein gerissener Schachzug.

Dazu eine Ergänzung, die einen fast virtuell anmutenden Charakter des politisch betriebenen Antisemitismus betrifft.

Irgendwo hatten wir hier einmal die Frage, wieviel Bürger jüdischen Glaubens in der Weimarer Republik lebten. Ich habe mir damals die recht detaillierten Bevölkerungsstatistiken angesehen, die auch Aufteilungen nach Ländern und Ballungsgebieten aufwiesen, in weiten Bereichen (Ausnahme zB Berlin) der Republik waren die jüdischen Bevölkerungsanteile verschwindend gering, kaum wahrnehmbar. Die Parolen dürften daher große Teile der Bevölkerung angetroffen haben, die überhaupt keinen Kontakt zu Juden hatten.
 
Dann also ganz genau: "Im Bolschewismus haben wir den im 20. Jahrhundert unternommenen Versuch des Judentums zu erblicken, sich die Weltherrschaft anzueignen." (Adolf Hitler, Mein Kampf).


Kommunisten/Bolschewisten waren für den Großteil der dt. Gesellschaft ein Schreckgespenst (wie auch für den Rest Westeuropas - man hatte Angst vor Stalin und einer "Weltrevolution"). Die Juden waren dabei, sich zu integrieren. Von daher hätte es wenig gebracht, zu sagen "Kommunisten sind Juden" - das hätte die Leute eher beruhigt. Aber: "Juden sind Kommunisten bzw. stehen hinter den Kommuniste" - das rückt die Juden in schlechtes Licht.

Zum Antisemitismus auch noch interessant: Hitler schreibt in "Mein Kampf", dass die Parasiten Juden sich schon so perfekt "angepasst" hätten, dass ein Großteil des "Wirtsvolkes" der Ansicht wäre, Juden seien Deutsche, wenn auch Deutsche eines besonderen Glaubens. Aber - so Hitler - das zeige nur, wie gut Juden sich tarnen und andere täuschen könnten ... Juden seine eine Rasse, keine Religion.

Dass Hitler extra auf das Argument eingeht / eingehen muss, dass Juden einen anderen Glauben hätten, aber doch Deutsche seien zeigt, dass zumindest ein Teil der Deutschen mittlerweile tatsächlich so gedacht hat - ein Beleg dafür, dass der Antisemitismus/Rassismus der Deutschen in dieser Zeit nicht so virulent war.
 
Tatsächlich war die Ermordung Rathenau auch antisemitisch begründet. Der deutschevölkische Schutz- und Trutzbund war in die "Fememorde" verwickelt und war durch und durch antisemitsch. Er sorgte für die Verbreitung der aus Russland stammenden antisemitschen Schrift "Protokolle der Weisen von Zion" in Deutschland. Zumindest einer der Mörder Rathenaus bezog sich direkt auf die Protokolle und hielt Rathenau für einen Teil eben jener jüdischen Weltverschwörung. Eine Verknüpfung von Kommunismus und Judentum war durch die Protokolle der Weisen von Zion bereits gegeben.

Hitlers nationalsozialistische Ideologie ist letztlich eine Kombination aus diesem völkischen Antisemitismus und dem italienischen Faschismus.
 
Da hierauf noch nicht hingewiesen wurde (gab es im Überblick im DLF):

Deutschland, jüdisch Heimatland: Die Geschichte der deutschen Juden vom Kaiserreich bis heute, von Wolffsohn/Brechenmacher

Interessant dort nach dem Bericht besonders die Namensanalysen und Verbindungen zur Integration nach 1918.
 
Zurück
Oben