Bewertungskriterien "Nationalsozialist"

Noch ein kurzer Ansatz:

Könnte man eine Unterscheidung machen, inwieweit die Person zum "Funktionieren des Systems" beigetragen hat oder ob sie "vom Funktionieren des Systems profitiert" hat?

Was denkt ihr?
 
Das wäre der Ansatz, den ich oben vorgeschlagen habe.

Entweder man geht nach Glaubensinhalten, dann dürfte man einen Täter, der an gar nichts glaubt sondern nur seine psychischen Deformationen ausgelebt hat, nicht mitzählen,
oder man geht nach der Rolle für's System, dann darf man aber nur-Gläubige-nicht-Täter nicht mitzählen.
 
Du definierst Nationalsozialismus als Teilmenge von Faschismus. Dann könnte man im Umkehrschluss eine Teilidentität mit dem Nationalsozialismus (die ich eben als problematisch erachte) auch als Faschismus definieren. Nationalistisch, antikommunistisch und antiparlamentaristisch sowie imperialistisch war meine Person in jedem Fall.

Wie seht ihr das?

Das sind Elemente die rechtsradikale Ideologien, auch ohne faschistisch oder rassistisch zu sein, miteinander gemeinsam haben.

Aber, wenn ich Hitler und Himmler nicht aus persönlichen Motiven heraus sondern ganz deutlich aus "ideologischen" Gründen ablehne, kann man doch kaum noch von jemandem sprechen, der eine andere Art Nationalsozialismus wollte. Das führt doch zu nichts. Ich denke, dass ohne Antisemitismus, den okkulten Krams, Führerkult, Blut & Boden nicht viel übrig bleibt. Wenn man diese Dinge vom Nationalsozialismus abzieht, bleibt für mich kein Nationalsozialismus mehr über...

Bis auf "den okkulten Krams" der auch unter den Nationalsozialisten im Prinzip eine esoterische Minderheitenklamotte war (Himmler, Rosenberg, Darré), würde ich dir Recht geben. Und: Nicht jeder steht immer uneingeschränkt hinter jedem Punkt des Parteiprogramms. Demnach wird es Nazis gegeben haben, die in dem einen oder anderen Punkt von der Parteilinie abwichen.
 
DUnd: Nicht jeder steht immer uneingeschränkt hinter jedem Punkt des Parteiprogramms. Demnach wird es Nazis gegeben haben, die in dem einen oder anderen Punkt von der Parteilinie abwichen.

Genau deshalb würde ich, wie oben schon gesagt, einen funktionalen Ansatz vorziehen bzw. mindestens mit berücksichtigen.
 
Genau deshalb würde ich, wie oben schon gesagt, einen funktionalen Ansatz vorziehen bzw. mindestens mit berücksichtigen.

Genau diesen will ich ja auch, nur fehlt mir momentan das theoretische Verständnis, wie ich das Verhältnis von Kollaboration und Widerstand vernünftig auflösen kann.

Ich beteilige mich an einem Angriffskrieg, der sich durchaus mit meinen imperialen und großmachtpolitischen Zielen deckt. Ich opponiere aber gegen die Staatsführung, die letztlich verantwortlich ist für diesen Angriffskrieg. Womit ich wiederum für meinen Gegner bzw. zumindest nicht gegen ihn arbeite.
 
Könnte man eine Unterscheidung machen, inwieweit die Person zum "Funktionieren des Systems" beigetragen hat oder ob sie "vom Funktionieren des Systems profitiert" hat?

Was denkt ihr?

Dir ist aber schon klar, daß du damit Tausende von Beamten, öffentlichen Bediensteten und sonstiger Funktionsträger, die im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im Dritten Reich ihren Job unverändert taten, somit als Nationalsozialisten abstempelst?
 
Mit Verlaub, das erscheint mir eine sehr akademische Diskussion zu sein.

@Ossi

Wenn jemand an einer okkulten Sonnenwendfeier teilnahm, ist das von keinerlei Interesse, vllt. interessiert sich ein Volkskundler dafür - Entschuldigung an alle Volkskundler. Ob dein "Protagonist" den "Mythos des 20. Jahrhunderts" inhaliert hat oder nicht, auch das ist eher von geringem Interesse, höchstens bei der Motivsuche könnte dies eine Rolle spielen - soziale Determinierung.

Von Interesse, meine ich, ist es aber, ob Dein "Protagonist" Greultaten beging. Hier möchte ich auf Beitrag #27 verweisen. Silesia verweist da sehr richtig auf die Diskussionen über die Entnazifizierung. Nunmehr haben wir bald den 65. Jahrestag des Londoner Viermächte Abkommens und wir sollten immer noch nicht in der Lage sein, einen Nazi nicht zu etikettieren, aber zu identifizieren.

M.
 
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Dir ist aber schon klar, daß du damit Tausende von Beamten, öffentlichen Bediensteten und sonstiger Funktionsträger, die im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im Dritten Reich ihren Job unverändert taten, somit als Nationalsozialisten abstempelst?

Hier müsste man dann "Funktionieren" deutlicher definieren. Jedenfalls meinte ich bei meinem "Ansatz" mit "zum funktionieren beitragen" nicht diejenigen Beamten und Funktionsträger, die sozusagen "Befehle ausgeführt" haben, sondern eben diejenigen, die die Befehle erlassen haben. Man könnte sie vielleicht in Abgrenzung zur ausführenden Kraft als Funktionselite bezeichnen. Leute die nicht in oberster oder höchster Verantwortung standen, aber eben auch nicht "nur" ausgeführt haben...


Genau deshalb würde ich, wie oben schon gesagt, einen funktionalen Ansatz vorziehen bzw. mindestens mit berücksichtigen.

Wie könnte denn ein solcher Ansatz aussehen? Gibt es Beispiele in der Literatur? Abhandlungen über theoretische Grundlagen?
 
Hier müsste man dann "Funktionieren" deutlicher definieren. Jedenfalls meinte ich bei meinem "Ansatz" mit "zum funktionieren beitragen" nicht diejenigen Beamten und Funktionsträger, die sozusagen "Befehle ausgeführt" haben, sondern eben diejenigen, die die Befehle erlassen haben. Man könnte sie vielleicht in Abgrenzung zur ausführenden Kraft als Funktionselite bezeichnen. Leute die nicht in oberster oder höchster Verantwortung standen, aber eben auch nicht "nur" ausgeführt haben...

Das ist ein falscher Ansatz. Ein kleiner Beamter, der "funktionierte", weil er Pässe abstempelte oder Baugenehimungen unterschrieben hat, kann überzeugter Nationalsozialist gewesen sein oder eben nicht. Es ist irrelevant, ob man Befehle ausgab.
 
So irrelevant finde ich das aber nicht. Nehmen wir meine Person, die offensichtlich Widerstand geleistet hat und nach einigen Aspekten durchaus Nationalsozialist war. Jedenfalls muss ich nachwievor von Teilidentität mit der NS-Ideologie ausgehen.

Das hat doch eine andere Qualität als ob ich einen Widerständler aus dem kommunistischen Lager habe, der einen ganz anderen ideologischen Hintergrund hatte.

Deswegen will ich ja auch (was du leider übersiehst) weg von der unteren Ebene. Auf hoher Ebene macht das nämlich in meinen Augen einen gravierenden Unterschied aus. Ob ich überzeugter Nationalsozialist bin und "funktioniere" oder ob ich NS-Gegner bin und "funktionere" wo ich es muss, um mein Leben [und weil ich es will, weil ich durchaus ähnliche Ziele haben wie die NS-Führung] und meine Machtposition zu retten und Widerstand leiste, wo ich es kann (und dann dabei von meiner Machtposition profitiere).
 
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Wie könnte denn ein solcher Ansatz aussehen? Gibt es Beispiele in der Literatur? Abhandlungen über theoretische Grundlagen?

Untersuchungen aus der Literatur sind mir nur für einzelne Gruppen bekannt, Verweis zB auf die Aufarbeitungen zur Justiz.

Ich habe oben den Ansatz von jschmidt verlinkt, den ich für sehr interessant halte, weil er Kompetenzen betont, die Ausgangspunkt für Differenzierungen bieten können.

Ein Beispiel: ein Eichmann wäre Nationalsozialist in diesem Funktionenansatz, ohne im Detail seine politischen Anschauungen auf mögliche Abweichungen etwa zur Linie der nationalsozialistischen Führungsspitze zu untersuchen. Gleiches würde mE in der Verantwortlichkeit für Halder gelten (als Vorkriegsbeispiel siehe seinen Vortrag an der Führungsakademie im Frühjahr 1939).
 
Ich versuche Rückschlüsse auf den Charakter / Sozialisation / sozio-mentale Strukturen / etc. zu interpretieren.

Ich würde Dein Problem über soziologische Konzepte auflösen.

Soziale Rolle ? Wikipedia

Symbolischer Interaktionismus ? Wikipedia

Und diese Analyse in Verhältnis zur Eliteforschung bringen.

Elitesoziologie ? Wikipedia

Dann hast Du eine Chance, die Bedingungen analytisch zu erfassen, unter denen Dein Beispiel agieren mußte.

Und Du hast die Möglichkeit über das Rollenkonzept die enorme Varianz der Handlungsaltrnativen zu erklären.
 
Ein interessantes Thema...
War Heinrich Himmler eigentlich Nationalsozialist?
Immerhin versuchte 1945 er zusammen mt Hermann Göring gegen den ausdrücklichen Führerwillen mit den West-Allierten in Verhandlungen zu treten und dafür sogar das Endziel der Judenvernichtung aufs Spiel zu setzen.
Daraufhin wurden beide von Hitler aus der NSDAP versoßen, waren also keine Parteimitglieder mehr.
Glaube, Vernunft, Widerstand, Kollaboration... :pfeif:
Alles sehr kompliziert.
Ich würde es eher an greifbaren Sachen wie den Taten oder auch dem Partei-Eintrit festmachen, sofern er freiwillig erfolgte.
Ob man nachher alles besser wusste, ist dann eher die Frage, ob man jemand noch Nazi ist. Interessanter ist die Frage, ob jemand überzeugter Nazi oder besser Hitlerist war und zwar wann. Vor der Machtergreifung, bis zur Machtergreifung, bis zum Krieg, bis zur absehbare Niederlage, bis zur Kapitulation usf.
Heinrich Himmler war zu Kriegsende, im Angesicht der sicht abzeichnenden Niederlage zumindest kein richtiger Hitlerist mehr, war zumindest vom "Führerwillen" abgefallen. Für die Bewertung seiner Karierre, seine Taten und Überzeugungen in den 20 Jahren davor, ist dies aber vollkommen bedeutungslos.
Mit solchen Knicken muss man rechnen. Da man bekanntlich niemanden in den Kopf gucken, ist die Frage, wer denn ein wirklicher Nazi war, wer nur Mitläufer, Verführter oder Karrierist nur schwer zu beantworten.
 
Jedenfalls meinte ich bei meinem "Ansatz" mit "zum funktionieren beitragen" nicht diejenigen Beamten und Funktionsträger, die sozusagen "Befehle ausgeführt" haben, sondern eben diejenigen, die die Befehle erlassen haben.
Eine sehr schwierige Unterscheidungsmöglichkeit, denn vermutlich gibt es in der mittleren Führungsebene gar keine reinen Befehlsempfänger und auch keine reinen Kommandeure. Auf dieser Ebene werden Befehle "von oben" erhalten und entsprechend umgesetzt, beziehungsweise "nach unten" weitergegeben. Für eigene Gestaltungsmöglichkeiten bleibt da oft nur wenig Raum.

Ich würde es eher an greifbaren Sachen wie den Taten oder auch dem Partei-Eintrit festmachen, sofern er freiwillig erfolgte.
Auch ein sehr schwieriges Unterscheidungsmerkmal, denn sehr viele (wenn nicht sogar die meisten?) Parteieintritte erfolgten aus opportunistischen Gründen. in etwa dazu, um entweder seine eigene Karriere innerhalb des Systems zu fördern, oder aber, um (als Nichtmitglied) dadurch wenigstens keinen Nachteil zu haben.
Sehr viele sogenannte "Mitläufer" waren freiwillige Parteimitglieder, ohne sich jedoch aktiv an der Ideologie dieser Partei zu beteiligen.
Mit diesen Unterscheidungsmerkmalen kommen wir einer eindeutigen Begriffsbestimmung also nicht näher, so fürchte ich.

Nachtrag: Wieso wird der Name der gesuchten Person hier nicht genannt, obwohl vermutlich die meisten Diskussionsteilnehmer ohnehin längst wissen, um wen es sich handelt?
Spielt dieser Name eine Rolle bei der moralischen Bewertung seiner Person?
 
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... in der mittleren Führungsebene ...
Auf dieser Ebene werden Befehle "von oben" erhalten und entsprechend umgesetzt, beziehungsweise "nach unten" weitergegeben. Für eigene Gestaltungsmöglichkeiten bleibt da oft nur wenig Raum.

Das läßt sich gerade angesichts der "mittleren" Aktivitäten in Bezug auf die Judenverfolgung nicht aufrecht erhalten.

Ein anschauliches Beispiel aus dem Bereich der Eichmann-Truppe: die Karriere von Veesenmayer.
Igor-Philip Matic: Edmund Veesenmayer. Agent und Diplomat der nationalsozialistischen Expansionspolitik.

Oder reichlich weitere Biographien in Michael Wildt - Die Generation des Unbedingten
 
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